Spiegelbild des Glaubens und der Gleichgültigkeit

Was lehrt uns die Geschichte? Nichts! ‘Ein akustisches Vermächtnis der alten Kirche bleibt’

Maria RosenkranzköniginQuelle
Abermals Kirchensteuer in Rekordhöhe
Immer weniger Gläubige – immer mehr Geld

‘Den Leuten fällt es schwer, Geduld aufzubringen. Manche wollen ihre Kirche lieber abreissen, als sie langsam verlottern zu sehen’.

Diese Kirche hat auch ohne Gläubige eine Zukunft.

Tausenden Kirchen fehlen die Gemeinden – oft ist der Abriss die Folge der abnehmenden Religiosität. St. Marien in Bochum hatte Glück: Das Gotteshaus wird zum Foyer eines Musikforums umfungiert.

Auf halbem Weg zur Spitze des Turms rief plötzlich ein Bauarbeiter von unten: “Wir haben schon wieder irgendwas gefunden, Chef!” Bauleiter Jürgen Göke und Christiane Peters von den Bochumer Symphonikern nahmen schnell die Stufen hinab und standen bald im eingerüsteten Kirchenschiff einer Sackkarre gegenüber. Darauf lag ein Stein, mehr eine Art steinerne Box, auf der eine Tafel mit einer lateinischen Inschrift lastete.

In Bauleiter Göke arbeitete es: “Hoffentlich keine Knochen, hoffentlich keine Knochen! Das kostet uns Wochen.” Vorsichtig wurde der Gegenstand geöffnet. Zum Vorschein kam ein Glasgefäss. Darin Reste von Papier, Staub. Staub, der seit 1868 kein Tageslicht mehr abbekommen hatte.

Der Augenblick, als der Grundstein der St. Marienkirche in Bochum gefunden wurde, war für die, die dabei waren, ein denkwürdiger Moment. Eine letzte Botschaft aus der Zeit, als die Kirche gebaut wurde. Nun, 160 Jahre später, wird wieder an der Kirche gearbeitet, allerdings, um ihr die Bestimmung als Gotteshaus zu nehmen. Die Bochumer Marienkirche wird zum Foyer, zum Zentrum des neuen Bochumer Musikforums der Architekten Martin Bez und Thorsten Kock.

Auf der einen Seite schliesst ein kubischer Konzertsaal in Klinkeroptik an, der in dem mit amerikanischer Kirsche verkleideten Inneren 960 Menschen plus Orchester fassen und als Heimstatt der Bochumer Symphoniker fungieren wird. Auf der anderen, in einem kleineren Gebäude, kann die städtische Musikschule künftig mit ihrem Orchester proben und Konzerte geben.

Dazwischen ragt der neugotische, prägnante Backsteinbau auf, an manchen Stellen noch russig von Kohle und scheckig vom Krieg. Sein Turm diente wie die übrigen Kirchtürme der Stadt den Bomberpiloten als Orientierungshilfe, damit sie wussten, ob sie ihre tödliche Fracht auf Dortmund, Essen oder Bochum abwarfen. Deshalb blieb er unversehrt.

Das Schiff wurde schwer zerstört, notdürftig repariert von jenen, die ihre Kirche nicht aufgeben wollten; Katholiken, die in den Hochzeiten des Ruhrgebiets zu Zehntausenden herströmten, aus Deutschland, Polen und anderswo. Doch so wie Kohle und Stahl die Gegend heute nicht mehr prägen, so haben die Bergarbeiterkirchen ihre Bestimmung verloren. Noch in den 50er-Jahren lebten 40.000 Katholiken in der Innenstadt, heute sind es 7000.

“Wir haben auch bei St. Marien schon über einen Abriss geredet”, sagt Michael Ludwig, Probst an St. Peter und Paul. “Aus dem Turm wuchsen schon die Birken, an den Innenwänden lief das Wasser herab. Was soll man da sonst noch machen?” Ludwig klingt wie einer, dem solche Sätze nicht schwerfallen oder der sich zumindest daran gewöhnt hat, sie auszusprechen.

Vor acht Jahren kam er, entsendet vom Bistum Essen, nach Bochum, um den Strukturwandel seines Glaubens zu organisieren. “Ich hatte den Ruf eines Vollstreckers. Jahrelang hat man die Entscheidungen vor sich hergeschoben, und deshalb tut es nun umso weher, dass wir so viele Kirchen schliessen müssen.”

Anderen Kirchen droht der Abriss

30 katholische Kirchen fand Ludwig vor, als er antrat. 22 sind es noch. Bis 2030 wird wahrscheinlich noch einmal die Hälfte ihre Bestimmung verlieren. Nicht für alle wird es so gut ausgehen wie für die Marienkirche.

Drei Gotteshäuser wurden bereits abgerissen, eins wird als Kunstkirche genutzt. Unlängst wurde ihr Raum mit Scherben und Splittern ausgelegt. Zerbricht doch auch etwas in vielen Menschen, wenn ihre Kirche ihre Funktion verliert. Ein weiteres Gotteshaus wurde für einen Euro an die russisch-orthodoxe Gemeinde verliehen, zwei weitere könnten bald Flüchtlingsunterkünfte werden.

Den Leuten fällt es schwer, Geduld aufzubringen. Manche wollen ihre Kirche lieber abreissen, als sie langsam verlottern zu sehen

Wie ist die Situation bundesweit? Die Evangelische Kirche in Deutschland hatte kürzlich eine Erhebung zum Thema gemacht. Demnach wurden zwischen 1990 und 2013 335 evangelische Kirchen und Gottesdienststätten abgerissen und verkauft. Bei weiteren 243 kam es zu einer anderen, vollständig nicht gottesdienstlichen Nutzung. Gleichwohl: Obwohl 578 Kirchen und Orte für Gottesdienste wegfielen, entstanden im selben Zeitraum 573 neu oder wurden durch Sanierung wieder nutzbar. Netto fielen also nur fünf evangelische Kirchen weg. Zahlen der katholischen Kirche liegen aktuell nicht vor.

Jüngere Bochumer feierten hier illegale Technopartys

Man müsse manchmal leiden, bis etwas Gutes herauskomme, sagt Probst Ludwig über den Fall Bochum. “Es hat zehn Jahre gedauert, bis St. Marien eine Zukunft bekam. Den Leuten fällt es schwer, Geduld aufzubringen. Manche wollen ihre Kirche lieber abreißen, als sie langsam verlottern zu sehen. Aber wir müssen die Zähne zusammenbeissen. Ideen brauchen Zeit.”

Aus dem Abschied von den Kirchen versucht Ludwig noch etwas für den Glauben zu gewinnen. “Nur weil ich die ehemaligen Kirchen öffne, neue Nutzungen erlaube und ausprobiere, komme ich mit Leuten ins Gespräch, die sich nie für Glauben interessieren würden, das ist meine Chance.” Eigentlich, so sagt er, müsse er in der neuen Konzerthauskirche eine Aussenstelle eröffnen.

Denn der “Spirit” des Raums bleibe, meint auch Jürgen Göke: “Unsere Arbeiter kamen grossteils aus Portugal. Die redeten ununterbrochen, nur wenn sie den Kirchenraum betraten, verstummten sie. Für die Effizienz war das nicht schlecht.” Jüngere Bochumer wissen dagegen noch, wie illegale Technopartys St. Marien zum Dröhnen brachten. Bevor die Arbeiter die Kirche übernahmen, diente sie als Turnhalle für eine Akrobatentruppe, überall lagen Matten aus, hingen Seile herab.

Jetzt stehen Gerüste bis unter die Kapitelle der neugotischen Säulen. Grossen Splittern ähnlich, wurden Felder in die flache Decke geschnitten, die einmal Licht reflektieren werden, während die Konzertbesucher auf weissem Terrazzo zu den Garderoben gehen oder Sekt trinken. Das künftige Musikforum betreten sie durch die Kirche, dafür wurden neue Portale in die Apsis geschlagen. Unter dem Fussboden liegen die Toiletten. Denkmalschutz galt hier nicht. Der Zukunft stünde er ohnehin wohl eher im Weg.

Zwölf Millionen kamen an privaten Spenden

“Ohne die Kirche gäbe es den Konzertsaal nicht, das ganze Projekt geht von der Integration der Kirche aus”, sagt Christiane Peters, die im Bereich Marketing für die Symphoniker arbeitet. Schon seit 60 Jahren wird über ein eigenes Haus für das Orchester geredet. Im Moment spielt es im Schauspielhaus oder im Audimax der Universität. Es gab Wettbewerbe, Sieger, Feiern und Frust. Bochums Stadtkasse ist leer, der Nothaushalt erlaubt keine grossen Ausgaben. Und dann auch noch für Kultur? Für ein Konzerthaus? Stehen doch in Dortmund und Essen neue Häuser. Unnötig, urteilte auch der Bund der Steuerzahler vor einigen Jahren und setzte das Projekt auf die böse Liste.

Dabei erwuchs das Bochumer Haus aus der Mitte der Bürgergesellschaft. Vom Lotto-Unternehmer Norman Faber kam in einem Moment, da wieder einmal alle Pläne Makulatur zu sein schienen, die Zusage für fünf Millionen Euro – für den Fall, dass weitere zwei Millionen gespendet würden und das Haus in die Innenstadt käme. Das war der Impuls, der den Bauplatz samt Kirche in den Blickpunkt rückte. Zwölf Millionen Euro kamen an Spenden schließlich zusammen, bestehend aus 25.000 Einzelgaben. Land, EU und Stadt ergänzen das Budget.

Mit aktuell 37,2 Millionen Euro Baukosten ist das Bochumer Projekt vergleichsweise günstig, trotz einer Kostensteigerung um 4,2 Millionen, die sich aber auch deshalb ergab, weil der Heizungsbauer unangekündigt die Arbeit einstellte und im Boden Schadstoffe gefunden wurden, die erst beseitigt werden mussten. Der Bau ist ein Schnäppchen, vergleicht man ihn mit der Hamburger Elbphilharmonie, die 800 Millionen verbraucht, oder der Berliner Staatsoper, die für einen zweistelligen Millionenbetrag saniert werden sollte und nun 400 Millionen Euro verschlingen soll. Auch beim geplanten Münchner Konzertsaal bewegt man sich im Hunderte-Millionen-Euro-Bereich.

Ein akustisches Vermächtnis der alten Kirche bleibt

Wie in Hamburg und München soll das Musikforum auch seine Umgebung neu definieren. Die Fläche neben St. Marien war lange Parkplatz, davor gähnte eine Baugrube für ein Kino, das nie gebaut wurde. Die Nähe zum Bermudadreieck, einem über Bochum hinaus berühmten Ausgehviertel, schafft ein integratives Moment, da sich Konzertpublikum, Currywurstesser, Kinobesucher und Cocktailtrinker mischen werden.

Die U-Bahn-Station wurde bereits in Musikforum umbenannt. Im Herbst 2016 soll Eröffnung gefeiert werden. Etwas später als geplant. Aber das ist in Anbetracht des Starts des Hochbaus im Februar 2014 noch immer früh. Die Projekte in Hamburg und Berlin sind viele Jahre in Verzug.

Der Grundstein St. Mariens von 1868 wird dann nicht mehr in seiner Wandnische stecken. Das Glasgefäss soll den Besuchern beim Eintritt in das Kirchenfoyer in einer Nische begegnen. Und noch etwas wird sie an ihre alte Kirche und deren Funktion erinnern: ein Ton. Ein 4,5 Tonnen schweres B. Die vier Glocken wurden aus dem Turm entfernt, drei von ihnen eingelagert, die grösste aber wird in den Kirchenraum zurückkehren. Sie wird vor Konzertbeginn und in den Pausen geschlagen. Um zu signalisieren, dass es Zeit ist, Gespräche einzustellen, sich niederzulassen. Zur Ruhe zu kommen. Eigentlich ganz wie früher.

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