Der Religionsunterricht ist bedroht

Die Landtagswahl am 13. März wird entscheiden, wie in Baden-Württemberg künftig Staat und Kirche zueinander stehen werden

christus pantokratorDie Tagespost, 24. Februar 2016

Von Sebastian Krockenberger

Winfried Kretschmann, grüner Ministerpräsident von Baden-Württemberg, gibt sich als gläubiger Katholik. Dies ist Teil seines Images, mit dem er viele kirchliche und bürgerliche Wähler überzeugen kann. Doch wie sieht eigentlich die grüne Politik gegenüber Christentum und Kirche aus?

Im März 2015 wurde ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts veröffentlicht, dass ein pauschales Kopftuchverbot für Lehrerinnen unzulässig sei. Nur im Einzelfall sei ein solches möglich. Der Entscheid gilt nur für Nordrhein-Westfalen, da eine Lehrerin gegen die dortige Regelung geklagt hatte. Grüne und SPD, die zusammen regieren, wollten nun unverzüglich die Rechtslage in Baden-Württemberg anpassen, denn hier besteht seit 2004 eine ähnliche Regelung. Von CDU und FDP erwarteten sie Unterstützung. Guido Wolf und Hans-Ulrich Rülke, die Fraktionsvorsitzenden von CDU und FDP/DVP, stellten sich quer, da das Thema seine „notwendige Beratungszeit“ brauche.

Dennoch brachten am 8. Juli 2015 Grüne und SPD einen Gesetzentwurf zur Änderung des Schulgesetzes in den Landtag ein. Das Pikante an diesem Entwurf war, dass die herausgehobene Stellung des Christentums an den Schulen aus dem Schulgesetz gestrichen werden sollte. CDU und FDP machten deshalb eine eigene Anhörung zum Kopftuchverbot.

Bei den Kirchen regte sich Unruhe. Im Rahmen des parlamentarischen Anhörungsverfahrens wiesen sie auf die „Gefahr einer laizistischen Fehldeutung“ der von Grün-Rot geplanten Neuregelung hin und brachten einen eigenen Gesetzentwurf vor. Katholische und evangelische Kirche wollten unter anderem in das Schulgesetz einfügen: „Der Schule ist aufgegeben, in Offenheit für die verschiedenen religiösen und weltanschaulichen Überzeugungen die christlichen und abendländischen Überlieferungen und Werte in ihrer Bedeutung als prägende Kultur- und Bildungsfaktoren im Unterricht zu vermitteln.“

Grünen und SPD wurde schliesslich das Thema zu heiss. Am 22. September 2015 beantragten sie die Absetzung ihres Gesetzentwurfes von der Tagesordnung des Landtags. In der laufenden Legislaturperiode würde es keine Gesetzesänderung mehr geben. Vom Ergebnis der Landtagswahl am 13. März 2016 wird abhängen, wie die Neuregelung gestaltet wird.

Sabine Kurtz (CDU), Landtagsabgeordnete und Vorsitzende des Evangelischen Arbeitskreises (EAK) der CDU Baden-Württemberg, erklärte: „Für den EAK ist es von entscheidender Bedeutung, dass der Bezug auf christliche Werte und Traditionen auch in Zukunft eindeutig und an prominenter Stelle im Schulgesetz verankert ist.“ Über den Gesetzentwurf sagte sie: „Dieser Vorschlag hätte dazu geführt, dass es künftig für Religion keinen Platz mehr an unseren Schulen gibt.“

Im Januar 2013 gründete sich der „Bundesweite Arbeitskreis Säkulare Grüne“. In ihrem am 23. März 2013 in Köln beschlossenen Grundsatzdokument erklären die Säkularen Grünen, dass für immer mehr Menschen „religiöse Bezüge nicht mehr relevant“ seien. Muslimische, alevitische, buddhistische und andere nichtchristliche Religionsgemeinschaften seien Bestandteil der Lebenswirklichkeit unserer Gesellschaft geworden. Jüdisches Leben habe in Deutschland wieder seinen Platz gefunden.

Aus diesen Gründen wollen die Säkularen Grünen die Grundregeln des gesellschaftlichen und politischen Lebens in Deutschland überdenken und ändern. Sie wollen das freundschaftliche Verhältnis zwischen Kirche und Staat beenden und stattdessen eine konsequente Trennung durchsetzen. Verfassungsregelungen, die Rechte der Kirchen begründen, „sollen langfristig gestrichen werden“. Orientierungspunkt sei „die freie Entfaltung der Persönlichkeit in sozialer und ökologischer Verantwortung, also individuelle Selbstbestimmung“. Eine kritische Befragung aller Religionen wird angestrebt: „Wir fordern … die Religionsgemeinschaften auf, Traditionen, Praktiken und Rituale, die mit humanistischen Werten, Menschenrechten und demokratischen Selbstverständlichkeiten kollidieren, kritisch zu reflektieren und sich einer öffentlichen Diskussion hierzu nicht zu entziehen.“

Die Säkularen Grünen sehen „Klärungs- und Änderungsbedarf“ beim besonderen „Arbeitsrecht in Betrieben, die sich in kirchlicher Trägerschaft befinden“. Die „kirchliche Trägerschaft von Gesundheits- und Sozialeinrichtungen“ wird in Frage gestellt. Der Religionsunterricht soll durch Ethik- oder Religionskundeunterricht ersetzt werden. Die „Präsenz religiöser Symbole in staatlichen oder kommunalen Einrichtungen“ – was vor allem christliche Symbole betrifft – wird als „umstritten“ in Frage gestellt. Selbst Schüler, die zum Beispiel ein Kreuz tragen, rücken in den Fokus. In den Rundfunkräten soll die Vertretung der Religionsgemeinschaften geändert werden. Die bestehenden gesetzlichen Feiertage sollen überprüft werden. Es stehen des Weiteren zur Disposition: der „Kirchensteuereinzug über die öffentliche Hand“, der „Status von Religionsgemeinschaften als Körperschaft des öffentlichen Rechts“, das Reichskonkordat, und „die Einstufung des Heiligen Stuhls als Völkerrechtssubjekt“.

Der Konflikt mit dem päpstlichen Lehramt ist vorprogrammiert, denn Religionen werden aufgerufen, „ihre innere Verfassung demokratisch zu gestalten und auch Inhalte der Glaubenslehre, sowie Gebote, Verhaltensnormen und Praktiken innerhalb der Gemeinschaften auf demokratische Weise auszuhandeln“. Judentum und Islam werden angegriffen, denn die Vorhautbeschneidung bei Jungen wird als „Missachtung von Kinderrechten“ verworfen. Angesichts soviel laizistischen Eifers konnte sich Ministerpräsident Kretschmann die Bemerkung nicht verkneifen: „Wenn ich nicht aufpasse, fasst meine Partei immer laizistische Beschlüsse.“

Doch wird es Kretschmann gelingen aufzupassen, dass keine laizistischen Beschlüsse gefasst werden? Wohl schwerlich, wie das grüne Wahlprogramm zur Landtagswahl zeigt. Die Gebühren für den Kirchenaustritt sollen neu geordnet und teilweise gesenkt werden. Im Baden-Konkordat von 1932 wurde ein Mitspracherecht der Kirche bei der Besetzung eines Lehrstuhls für Philosophie und eines für Geschichte an der Universität Freiburg festgelegt, da an diesen Lehrstühlen auch Theologen ausgebildet werden. Das wird in Frage gestellt. Die Ausgleichszahlungen für die Enteignung von Kirchengut aus der Zeit der Säkularisierung sollen per Vertrag beendet werden.

In ihrer Regierungszeit hat Grün-Rot Kirchen und Gläubige bei Bildungsplan, Feiertagsregelungen, Kopftuchverbot oder bei einem Aktionsplan für Homosexuelle und weitere Gruppen in Unruhe und Bedrängnis gebracht. Freikirchen und Orthodoxe wurden aus dem Rundfunkrat des Südwestrundfunks (SWR) ausgeschlossen, damit ein Vertreter des Islam diesen Platz einnehmen konnte. Mit vielen kleinen, oft kaum wahrnehmbaren Schritten wird versucht, das Christentum zurückzudrängen.

Die Forderungen der Säkularen Grünen haben die parteiinterne Debatte stark befeuert. Der Bundesvorstand von Bündnis 90/Die Grünen setzte am 16. Dezember 2013 die Kommission „Weltanschauungen, Religionsgemeinschaften und Staat“ ein, „die sich mit dem Verhältnis von Staat und Religion auseinandersetzen und Reformvorschläge, insbesondere zum Religionsverfassungsrecht, erarbeiten“ sollte. Im Herbst 2016 werden die Ergebnisse der Kommission auf der Bundesdelegiertenkonferenz in Münster, dem Bundesparteitag der Grünen, eingebracht. Bettina Jarasch, Landesvorsitzende in Berlin, und die Parteivorsitzende Simone Peter leiten die Kommission. Die Fraktionsvorsitzende im Bundestag Katrin Göring-Eckardt, Volker Beck und weitere Bundestagsabgeordnete sind Mitglieder. Und vier Vertreter gehören den Säkularen Grünen an.

Im Rahmen der Kommission brachten Ministerpräsident Kretschmann und der nordrhein-westfälische Europaabgeordnete Sven Giegold am 13. Juni 2014 ihre „Religionspolitischen Thesen“ ein. Eine Neuordnung des Staat-Kirche-Verhältnisses regen sie an: „Eine kritische Durchsicht des bestehenden Systems der kooperativen Trennung, vor allem im Hinblick auf mehr Pluralität, birgt aus unserer Sicht für den Staat wie für die Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften nur Vorteile.“ Nur noch die wichtigsten christlichen Feiertage sollen geschützt sein. Das kirchliche Arbeitsrecht soll auf den Prüfstand. Der Islam in Deutschland soll Strukturen und Rechte vergleichbar den christlichen Amtskirchen erhalten. Eine Gleichbehandlung aller Religionen wird angestrebt, was in Deutschland dann eine Benachteiligung und Herabstufung des Christentums bedeutet.

Die soziale Funktion der Religion wird von Kretschmann und Giegold hervorgehoben. Religion ist für sie eine „sinnstiftende Gemeinschaft“. Der Staat werde von der Gesellschaft getragen, die eine „Gemeinschaft der Gemeinschaften“ sei. Diese Gemeinschaften „helfen dem Einzelnen mit ihren Traditionen, Bräuchen und Strukturen, den staatlichen Freiheitsrahmen sinnvoll auszufüllen. Sie bilden dadurch das Wertefundament aus, auf dem der Staat überhaupt erst existieren kann. Deshalb muss er sinnstiftende Gemeinschaften fördern, weil er selber keinen Sinn stiften kann und – wenn er freiheitlich bleiben will – auch nicht darf.“ Es sei gut, so Kretschmann und Giegold „dass die Verfassung die Bundesrepublik als säkularen und nicht als laizistischen Staat entwirft. Das bedeutet nämlich: Trennung ja, aber verstanden als kooperative und nicht als strikte Trennung, weil der Staat von den Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften profitiert“.

Die Anklänge an Böckenfördes Aussage, dass der freiheitliche, säkularisierte Staat von Voraussetzungen lebe, die er selbst nicht garantieren könne, sind unverkennbar. Böckenfördes Aussage entlarvt einen wesentlichen Mangel moderner Staatskonzeption. Religion droht dabei, zum blossen Lückenbüsser für eine Funktion zu werden, die der Staat nicht erfüllen würde. Demgegenüber erklärte 2004 Joseph Ratzinger in einem Brief an Ernst-Wolfgang Böckenförde: „Ein Staat kann sich nicht völlig von seinen eigenen Wurzeln abschneiden und sich sozusagen zum reinen Vernunftstaat erheben, der ohne eigene Kultur und ohne eigenes Profil alle für Ethos und Recht relevanten Traditionen gleich behandelt und alle öffentlichen Äusserungen der Religion gleich einstuft. Was in der Diskussion der letzten Jahre ziemlich unzulänglich mit dem Wort ,Leitkultur‘ angesprochen war, ist in der Sache fundiert.“ Kretschmann und Giegold verkennen wie die meisten Grünen, dass der Glaube etwas Unbedingtes ist, das nur sehr eingeschränkt mit politischen oder pädagogischen Methoden gestaltet werden kann. Der Glaube kann keine Kompromisse eingehen. Eine Religion, die beansprucht, für die Wahrheit zu stehen, kann einen Staat grundsätzlich herausfordern. Doch die Grünen meinen, mit Religionspolitik könnten sie die Gläubigen dazu bringen, sich in eine links und liberal bestimmte Gesellschaft einzufügen. Daher rührt auch ihr Optimismus in Bezug auf die Zuwanderung. Sie meinen, dass die Menschen, die zu uns kommen, sich so verändern werden, dass sie eine linke oder liberale Gesinnung herausbilden.

Und auch die Begriffsprägung „kooperative Trennung“ ist zwiespältig. Kirche und Staat stehen in einem „kooperativen Verhältnis“. „Trennung“ ist nicht gleichbedeutend mit „Verhältnis“. Mit solcher Begriffsakrobatik versuchen Kretschmann und Giegold, zwischen grüner Partei und den Gläubigen zu vermitteln. Die Formel, Deutschland sei ein säkularer, und kein laizistischer Staat, ist auch solch ein Kunststück. Der Begriff „säkular“ wird einfach für unsere aktuelle Situation verwendet. Doch Kirchensteuer, Mitwirkung der Kirchen in den Schulen, Erwähnung von Gott im Grundgesetz, christliche Erziehungsziele in den Landesverfassungen passen nicht zu einem säkularen Staat. Der Philosoph Robert Spaemann kam deshalb zu dem Schluss, dass Deutschland kein säkularer Staat sei. „Staat und Kirche stehen in einem freundschaftlichen Verhältnis.“

Als Gegenentwurf zum laizistischen Staat führte Joseph Ratzinger den Begriff des „laikalen Staates“ an, der eine „Balance zwischen Vernunft und Religion“ einschliesst. „Ein laikaler Staat darf, ja, muss sich auf die prägenden moralischen Wurzeln stützen, die ihn gebaut haben; er darf und muss die grundlegenden Werte anerkennen, ohne die er nicht geworden wäre und ohne die er nicht überleben kann.“ Merkmale eines „laikalen Staates“ sind in der Landesverfassung von Baden-Württemberg zu finden. Artikel 1 erwähnt das „christliche Sittengesetz“. In „Ehrfurcht vor Gott“ und im „Geiste der christlichen Nächstenliebe“ soll die Jugend erzogen werden (Artikel 12). „Die öffentlichen Volksschulen (Grund- und Hauptschulen) haben die Schulform der christlichen Gemeinschaftsschule“ (Artikel 15).

Die „christliche Gemeinschaftsschule“ ist bereits ein Kompromiss. Gemeinschaftsschule bedeutet hier überkonfessionelle Schule. Im deutschen Südwesten gab es kurz nach dem Zweiten Weltkrieg noch zahlreiche konfessionelle Schulen. Doch Reinhold Maier (FDP/DVP), überzeugter Laizist und 1952 erster Ministerpräsident des Landes Baden-Württemberg, wollte kein starkes konfessionelles Schulwesen. Ein Kompromiss wurde geschlossen. In der Landesverfassung wurde der Begriff „christliche Gemeinschaftsschule“ verankert, dafür wurde das Schulwesen weitestgehend verstaatlicht. Im Regierungsbezirk Württemberg-Hohenzollern ermöglichte eine Sonderregelung den Fortbestand der konfessionellen Schulen noch eine Zeit lang. Die ganze Regelung war im Grunde ein Kuhhandel, denn die Kirchen gaben für einen Begriff in der Verfassung das konfessionelle Schulwesen auf.

Nun droht, was den Kirchen 1952 in der Landesverfassung als Garantie gegeben wurde, durch grüne Religionspolitik unter die Räder zu kommen. Kretschmann streut den Bürgern Sand in die Augen, wenn er behauptet, dass er zum Beispiel die Kirchensteuer nicht abschaffen wolle. – Er will sogar „weiteren gemeinnützigen oder mildtätigen Gemeinschaften“ ermöglichen, „in ähnlicher Form … Beiträge mit Unterstützung des Staates zu erheben“. – Die CDU Baden-Württemberg hingegen steht zu dem kooperativ-freundschaftlichen Verhältnis zwischen Kirche und Staat.

Bei Bildungsplan und Aktionsplan, die sexuelle Fragen überbetonen, wird bereits die Absicht der grünen Partei sichtbar, grundlegende Veränderungen herbeizuführen und traditionelle Strukturen und Lebensweisen zu untergraben. Deshalb regt sich in Baden-Württemberg auch Protest, wie zum Beispiel bei der Demo für Alle, die am kommenden Sonntag, den 28. Februar, um 14 Uhr wieder auf dem Stuttgarter Schillerplatz demonstrieren wird.

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