“Da erröten Sie nicht nur leicht”

‘Die Nationalstaaten Europas versagen in der sich weiter dramatisierenden Flüchtlingskrise, weil sie ihre europäischen Zusagen und Beschlüsse einfach nicht einhalten’

Von Stephan Baier

Die Tagespost, 15. Januar 2016
Save the children

Die Nationalstaaten Europas versagen in der sich weiter dramatisierenden Flüchtlingskrise, weil sie ihre europäischen Zusagen und Beschlüsse einfach nicht einhalten. Darin sind sich die Präsidenten der EU-Kommission und des Europäischen Parlaments, Juncker und Schulz, völlig einig.

Jeden Tag erreichen uns neue Katastrophennachrichten: Am Mittwochabend wurden die Leichen von sieben ertrunkenen Flüchtlingen an der türkischen Ägäisküste bei Izmir angespült. Am Freitagmorgen kamen drei Kinder bei einem Bootsunglück in der Ägäis ums Leben. Zwanzig Flüchtlinge konnte die Küstenwache gerade noch aus den Fluten retten. Trotz eisiger Temperaturen und schwerem Seegang wagen täglich tausende Flüchtlinge die lebensgefährliche Überfahrt von der Türkei nach Europa. Derzeit gelingt sie 2 000 bis 3 000 Menschen pro Tag.

Hier in Europa jedoch ergreift die politische Klasse immer mehr die Panik: Nationale Politiker überbieten sich mit immer neuen Vorschlägen, wie dem Flüchtlingsansturm – jeweils für ihr eigenes Land – Einhalt geboten werden solle. Am Mittwoch etwa forderte Bulgariens Ministerpräsident Boiko Borissow, alle Grenzen unverzüglich dicht zu machen. Auch den Spitzen der Europäischen Union ist die Zornesröte mehr und mehr anzusehen. Allerdings nicht, weil es an Ideen mangeln würde, ja nicht einmal an Beschlüssen, sondern weil die EU-Mitgliedstaaten einfach nicht umsetzen, was sie – auf Vorschlag und Drängen der EU-Kommission – gemeinsam vor Monaten selbst beschlossen haben.

Ein paar Beispiele: Im September beschlossen die Regierungen der EU-Staaten, 160 000 Flüchtlinge umzuverteilen, doch umverteilt wurden bis Mitte Januar nur 272. Neu angesiedelt werden sollten 5 331 Personen, doch tatsächlich wurden nur 779 neu angesiedelt. Zur Registrierung der Flüchtlinge sollen „Hotspots“ in den Erstaufnahmeländern errichtet werden: Von den fünf für Griechenland beschlossenen Hotspots funktioniert zur Stunde einer, von den sechs für Italien beschlossenen Hotspots nur zwei.

Nicht nur im Flüchtlingsmanagement, sondern auch bei dessen Finanzierung denken einige EU-Mitgliedstaaten gar nicht daran, zu den gemeinschaftlichen Beschlüssen einen eigenen Beitrag zu leisten: Da handelte etwa die EU-Kommission mit der Türkei ein Abkommen aus, damit die rund 2,2 Millionen syrischen und die 300 000 irakischen Flüchtlinge in der Türkei besser versorgt werden können und Ankara deren Weiterreise nach Europa massiv drosselt. Dafür beschlossen die Staaten der EU einen Gesamtbetrag von drei Milliarden Euro, doch einige nationale Regierungen zögern noch immer, sich an der großen Kollekte zu beteiligen. Auch war man sich einig, dass es langfristig sinnvoller und billiger sei, die Migrationsursachen zu bekämpfen, als immer neue Flüchtlingswellen in Europa zu versorgen. Doch in die von Brüssel geschaffenen Fonds für Afrika, für Syrien für das Welternährungsprogramm und das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen zahlen einige EU-Staaten nicht oder nur sehr zögerlich ein. Nicht bloß arme EU-Mitglieder sind da ausgesprochen zurückhaltend, sondern auch wohlhabende wie Belgien und Schweden. Für Afrika etwa stellt die EU 1,8 Milliarden zur Verfügung, die Mitgliedstaaten aber nur 81,4 Millionen Euro, weshalb 1 718 Millionen im Topf fehlen. Ähnlich errechnet sich der Fehlbetrag im Fonds für Syrien: Von der beschlossenen Milliarde stellt Brüssel die Hälfte, aber die 28 Staaten haben bisher nur 51,7 Millionen zusammengekratzt.

Kein Wunder, dass Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker, der bereits im Mai 2015 eine detaillierte Migrationsagenda vorlegte, nun hörbar der Kragen platzt. „Ich bin des leid, dass man immer wieder die Kommission kritisiert“, zürnte Juncker am Mittwochvormittag bei einer Pressekonferenz in Brüssel. Seine Kommission sei von Anfang an bemüht gewesen, für eine kohärente und konsequente Flüchtlingspolitik zu sorgen. Allein: „Es ist bei dem Versuch geblieben“, denn „die Mitgliedstaaten haben nicht geliefert“. Die Kommission habe das ihre getan, aber „einige Mitgliedstaaten tun sich schwer, das zu tun, was sie selbst beschlossen haben“.

Und dann gerät der Kommissionspräsident so richtig in Fahrt: „Wir steuern auf eine Glaubwürdigkeitskrise zu!“ Etwa wenn die beschlossene Umverteilung nicht umgesetzt werde. Oder wenn er dem König von Jordanien, dessen Land mit einem Flüchtlingszustrom ganz anderer Ausmaße zu kämpfen hat, erklären solle, warum „der reichste Kontinent der Welt“ die Quantitäten des Vorjahres nicht bewältige. „Da erröten Sie nicht nur leicht“, gesteht Juncker und rechnet vor, dass die 507 Millionen Einwohner zählende EU rund 100 Millionen Flüchtlinge aufnehmen müsste, um sich mit dem Libanon oder mit Jordanien zu vergleichen. Auch die drei Milliarden Euro für die Türkei – präziser für die syrischen und irakischen Flüchtlinge im Lande Erdogans – sind für Juncker eine Frage der Glaubwürdigkeit. Und insgesamt fürchtet er angesichts des Chaos im Flüchtlingsmanagement um Europas globale Reputation.

Der Kommissionspräsident, der das Rechnen seit seiner Zeit als Ministerpräsident des reichen Großherzogtums Luxemburg nicht verlernt hat, fürchtet noch mehr: Die faktische Aussetzung des Schengen-Systems der offenen Binnengrenzen werde den Binnenmarkt schwer beschädigen und Europas Wirtschaft schwächen, ist Juncker überzeugt. „Wer Schengen killt, wird den Binnenmarkt zu Grabe tragen.“ Schon die jetzt temporär eingeführten Grenzkontrollen zwischen EU-Mitgliedern würden die Wirtschaft Europas drei Milliarden Euro kosten. „Ohne Schengen hat der Euro keinen Sinn“, sagt Juncker. Und: „Der wirtschaftliche Preis und der Verlust an Wachstum wird enorm sein.“

„Ich gebe nicht auf!“, versichert Juncker vor der internationalen Presse in Brüssel, in freier Rede zwischen Französisch, Englisch und Deutsch wechselnd. Den Schutz der Außengrenzen will Juncker „in den Griff bekommen“, um die Grenzkontrollen an den Binnengrenzen wieder abzuschaffen. Die Umverteilung will er, weil die Flüchtlinge ja nicht „in selbstherrlicher Selbstbestimmung festlegen“ könnten, wo sie wohnen wollen. Die von allen herbeigewünschte Liste sicherer Herkunftsländer habe die Kommission längst geliefert, aber „der Rat ist nicht zu Potte gekommen“, wettert Juncker. Und auch ein erneuertes EU-Regelwerk für die Asylpolitik (Stichwort „Dublin“) will er vorantreiben, ja bereits im Frühjahr vorlegen. Doch Juncker ahnt bereits, dass das „wieder an der unzureichenden Einsicht“ scheitert. Gemeint ist die unzureichende Einsicht der Mitgliedstaaten.

Ganz anders wird Junckers Ton, wenn er auf die Zusammenarbeit mit dem Europäischen Parlament zu sprechen kommt. Von einem „treuen Verbündeten“ und einem „wertvollen Alliierten“ ist da die Rede. Soviel Harmonie herrschte zwischen Europaparlament und EU-Kommission selten, doch Juncker kommt das gerade recht: „Wenn wir nicht zusammenarbeiten, dann wird der Zug entgleisen.“

Dass die Zusammenarbeit so reibungsfrei läuft, liegt nicht zuletzt an den beiden Präsidenten: Der deutsche Sozialdemokrat Martin Schulz und der Luxemburger Christdemokrat Jean-Claude Juncker, die in der Europawahl 2014 für ihre Parteifamilien gegeneinander um den Kommissionsvorsitz antraten, haben zu einer stabilen Partnerschaft gefunden. Kein Wunder, dass Juncker seinen Freund Schulz als „Vorbild an kühlem, gesundem Menschenverstand“ preist. Kein Wunder, dass in Brüssel Gerüchte die Runde machen, Schulz strebe – wider alle Tradition – eine dritte Amtszeit als Präsident des Europäischen Parlaments an. Mit Junckers voller Rückendeckung.

Kein Wunder auch, dass Martin Schulz – einen Tag vor dem Kommissionspräsidenten – die Flüchtlingspolitik ganz ähnlich analysiert wie dieser. Die Flüchtlingskrise sei ein weiter ungelöstes Problem, doch sie wäre gar keine Krise, „wenn alle EU-Staaten sich an der Umverteilung beteiligen würden“, meinte Schulz am Donnerstagnachmittag vor der Presse in Brüssel. Weil eine Million Flüchtlinge, verteilt auf 28 EU-Staaten, eben „keine Krise“ wäre, darum sieht Schulz die derzeitige Herausforderung auch als „Solidaritätskrise der Länder der EU untereinander“. Und wie Juncker mahnte auch Schulz die Mitgliedstaaten, endlich ihren Beschlüssen Taten folgen zu lassen: „Wir haben gute Vorschläge, aber noch besser wäre es, es gäbe gute Umsetzungen der Vorschläge.“

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