Die kulturelle Selbstvergessenheit des Islam
Friedenspreisträger Navid Kermani zeigt die Schwächen des heutigen Islam und fordert den Westen zum Kampf gegen den IS auf
Am Schluss seiner Dankesrede für die Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels rief der Muslim Navid Kermani zum Gebet für die verfolgten Christen auf.
Von Alexander Riebel
Nie zuvor hatte ein Friedenspreisträger des Deutschen Buchhandels im besten Sinne so emotional über Leben und Tod gesprochen. Sollte der Westen die Terrororganisation IS militärisch besiegen und wieviel kulturelle Substanz hat überhaupt noch der Islam? Der Schriftsteller Navid Kermani wurde am Sonntag in der Frankfurter Paulskirche für sein Werk geehrt, das im Zeichen der Annäherung, ja der Verbrüderung von Christentum und Islam steht. Am Ende seiner Rede wollte er keinen Beifall, sondern rief zum Gebet für die verfolgten Christen im Nahen Osten auf.
Kern von Kermanis Dankesrede, der in Deutschland geboren als Sohn iranischer Einwanderer wurde, war das Leben christlicher Mönche im Orden von Mar Musa in Syrien, in dem sich die dort Lebenden so sehr an die Sitten des Islam angenähert haben, dass sie sogar den Ramadan mitfeiern und selbst täglich von Muslimen besucht werden, die mit ihnen sprechen wollen. Die Klostergemeinschaft beschrieb Kermani als ein Ideal, das er sich auch für das Zusammenleben aller Christen und Muslime wünscht. Pater Paolo Dall?Oglio, der den Ordens leitet, habe schon vor dem Krieg in Syrien vor dem Krieg der Religionen gewarnt. Sowohl Pater Paolo wie auch Pater Jacques Murat, mit denen Kermani gut bekannt ist, sind vom IS entführt worden. Pater Jacques hatte Kermani wenige Tage vor der Entführung gesagt: „Wir sind verlassen von der christlichen Welt, die beschlossen hat, uns auf Distanz zu halten.“
Nach Kermani „gibt der IS ein fürchterliches Bild vom Islam“. Die meisten Muslime lehnten Gewalt zwar ab, aber diese Gewalt, das war bedrückend von Kermani zu hören, ist nicht der Anfang einer neuen Bewegung, sondern ein „Endpunkt“ im Islam. Über Jahrzehnte sei der Terror in Büchern und im Fernsehen vorbereitet worden. Auch wenn die meisten Muslime den IS-Terror ablehnten, würden sich die Verantwortlichen in islamischen Staaten und Koranschulen auf den Islam berufen, „wenn sie das eigene Volk unterdrücken, Frauen benachteiligen, Andersdenkende, Andersgläubige, anders Lebende verfolgen, vertreiben, massakrieren“. Bereits 1988, als Kermani begann, Orientalistik zu studieren, sei es für jeden Studierenden schwierig gewesen, Vergangenheit und Gegenwart zusammenzubringen. Der Islam habe seine kulturelle Substanz verloren. Die großen alten Schriften, von denen der Sufis bis zu „1001 Nacht“, seien vom Koran durchdrungen gewesen. Von dieser Hochkultur des Islam spürt Kermani nichts mehr: „Die islamische Kunst gibt es nicht mehr.“ Zu seiner Studienzeit sei es noch „denkmöglich“ gewesen, den Koran als rein ästhetisches Werk zu lesen. Aber sein Lehrer, der ihm das beigebracht hatte, ist längst vom Lehrstuhl verstoßen worden. „Der Koran ist kein Buch“, sagte Kermani, er bewege durch Rhythmus und Poesie, sinke aber immer mehr zum Vademecum herab, aus dem Stellen im Internet gesucht würden. Dass die islamischen Klassiker vieles gesehen hätten, was heute verloren sei, komme einem Verlust des kulturellen Gedächtnisses gleich. Die Dramatik des islamischen Kulturverlustes sieht Kermani bereits im frühen zwanzigsten Jahrhundert bei Rezah Schah, der mit schmutzigen Reitstiefeln eine Moschee betrat und dem Iman mit der Peitsche ins Gesicht schlug – wer könne sich vorstellen, ein italienischer Politiker tue dies mit dem Papst, fragte Kermani.
Erschütternd war auch der Bericht Kermanis über die Stationen des Niedergangs des einst großen Islam, dass etwa am einstigen Haus von Mohammed und seiner Frau heute ein „öffentliches Klo“ stehe, und dass gleich neben der Kaaba in Mekka die größte Shopping Mall der Welt sei.
Gibt es dennoch Hoffnung, fragte Kermani, und könne ein Preisträger zum Krieg aufrufen? Der Westen müsse endlich handeln; aber auch wenn Kermani nicht zum Krieg aufrufe, seien die „hochgerechnet 30 000 IS-Kämpfer nicht unbesiegbar“. Aber wir stehen erst auf, wenn uns die Bomben selbst treffen wie in Paris, meinte er und sprach vom „religiösen Faschismus des IS“: „Erst wenn unsere Gesellschaften den Irrsinn nicht länger akzeptieren, werden sich auch die Regierungen bewegen.“ Der Bischof von Mossul habe über den IS gesagt, „heute sind sie bei uns, morgen bei Euch in Europa“. Für den größten Fehler hält es Kermani, nichts zu tun gegen den IS und gegen Assad. Für ihre Flüchtlingspolitik lobte Kermani die Deutschen – die Flüchtlinge sehen Europa als Modell und Utopie und hätten dafür alles zurückgelassen. Der Friedenspreisträger forderte einen Dialog der Barmherzigkeit und fürchte um die Welt des Dollar und des Euro. An die Adresse der Politiker richtete Kermani den Vorwurf, man habe sich nichts überlegt, wie man den Krieg in Syrien beenden könne. „Wir fragen nicht, warum unser engster Partner im Nahen Osten ausgerechnet Saudi-Arabien ist“, kritisierte er und warf dem Land die Finanzierung des Dschihadismus vor – der Islam führe Krieg gegen sich selbst.
Seine Rede hatte Kermani geschrieben, fünf Tage bevor Pater Jacques wieder die Freiheit erlangte. Muslime hatten den Christen heimlich befreit und dabei ihr Leben riskiert. Von Pater Paolo fehle weiterhin jede Spur. Für die verfolgten Christen rief Kermani schließlich zum Gebet auf und die Nichtreligiösen bat er, ihre Wünsche an Gott zu richten: „Die Liebe soll gewinnen.“
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