Junge Flüchtlinge im alten Europa
‘Die Aufnahme der Flüchtlinge wird so zur Bewährungsprobe für die Vitalität der europäischen Gesellschaften’
Die Tagespost, 09. September 2015
Wenig überraschend plädiert EU-Kommissionspräsident Juncker in der Flüchtlingskrise für mehr Europa, mehr Solidarität mit den Erstaufnahmeländern, mehr gemeinsame Strategie in der Migrations- und Asylpolitik. Es gehört keine besondere politische Weitsicht dazu, die Überforderung der Nationalstaaten – der Transit- wie der Zielländer – angesichts der Flüchtlingsströme wahrzunehmen. Überraschender ist da schon Junckers Plädoyer, das vermeintliche Problem als Chance wahrzunehmen: Die Zuwanderung sei auch eine Ressource für den demografisch alternden und schrumpfenden Kontinent Europa, sagte Juncker in Straßburg und warb dafür, den Arbeitsmarkt für die Asylbewerber zu öffnen. Das klingt mit Blick auf die Arbeitslosenzahlen – insbesondere bei Jugendlichen im Mittelmeerraum – zunächst absurd.
Dennoch haben Europas Arbeitsmärkte beide Probleme parallel: eine besorgniserregend hohe Jugendarbeitslosigkeit und einen eklatanten Mangel an Jugend und an Fachkräften in vielen Sparten. Die demografische Krise ist bereits heute spürbar – nicht erst dann, wenn die letzten geburtenstarken Jahrgänge ins Pensionsalter kommen. Lange bevor die Flüchtlingsfrage auf der politischen Agenda den Spitzenplatz erklomm, überlegten politische Strategen, wie der angesichts der demografischen Vergreisung fast aller Länder Europas rasch drohende Arbeitskräftemangel zu beheben wäre. Anwerbezentren in den Metropolen der Schwellenländer wurden diskutiert. Ja, die Bildungseliten aus Asien und Afrika, die iranischen Ärzte, indischen IT-Experten und arabischen Ingenieure wären den kinderlosen und darum zukunftsarmen Gesellschaften Europas gerade recht gewesen. Jetzt aber kommen nicht die ausgesuchten Menschen, die wir so dringend brauchen, sondern jene, die uns in ihrer Not dringend brauchen. Die Aufnahme der Flüchtlinge wird so zur Bewährungsprobe für die Vitalität der europäischen Gesellschaften. Wenn es gelingt, diesen – überwiegend jungen – Flüchtlingen in Europa Zuflucht und Zukunft zu geben, könnte daraus auch eine Chance für das alte Europa erwachsen.
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