Die göttliche Barmherzigkeit lässt sich nicht dekretieren

Gedanken zur Sakramentenordnung anlässlich der bevorstehenden Bischofssynode

Von Christian Spaemann

Es bleibt ein Wagnis zweier schwacher Menschen: Wenn das Abenteuer Ehe nicht gutgeht, ist seitens der Kirche seelsorgliche Kreativität gefragt, keine Willkür.

Die Tagespost, 30. September 2015

Dem Beobachter der gegenwärtigen Debatte um die Frage nach der Beichte und Kommunion für Geschiedene, die in einer neuen Verbindung leben, fällt auf, dass das Augenmerk auf die Betroffenen unterschiedlich ausfällt, je nachdem, welche Position bezogen wird. Die Gegner einer solchen Zulassung haben gewichtige Argumente der Theologie und Tradition auf ihrer Seite.

Auf der psychologischen Ebene finden bei Ihnen mehr die Opfer einer Scheidung, also die vom Partner Verlassenen Beachtung. Diese müssten im Falle einer Änderung der bisherigen Praxis mit ansehen, wie die durch Untreue entstandene neue Verbindung durch die Zulassung zur Beichte und Kommunion vor der kirchlichen Gemeinschaft legitimiert wird. Neu gewachsene familiäre Lebensrealitäten werden bei den Vertretern der kirchlichen Tradition zwar nicht ausgeblendet, die Partner dieser Verbindungen können sich nach ihrer Auffassung aber nur durch den Verzicht auf Sexualität in voller sakramentaler Gemeinschaft mit der Kirche und im Einklang mit den Geboten Gottes sehen. Andernfalls bestünde weiter der Tatbestand fortgesetzten Ehebruchs und, zumindest objektiv, der schweren Sünde. Sie berufen sich vor allem auf das Nachsynodale Apostolische Schreiben Familiaris consortio von Papst Johannes Paul II.

Die Verfechter einer Änderung der traditionellen Praxis der Sakramentenspendung hingegen neigen dazu, ihren Blick auf diejenigen zu richten, die ihre Familie verlassen und eine neue Familie gegründet haben. Irgendwann müsse Schluss sein mit Aufrechnungen. Da sei nun mal eine andere Lebensrealität entstanden und die aufgegebene Ehe sei definitiv nicht mehr wiederherstellbar. Der Verzicht auf Sexualität ist in ihren Augen eine unrealistische Forderung, zumal die Sexualität des neuen Paares niemandem mehr etwas nehme, da die gelöste Beziehung nur noch abstrakt als Ehesakrament im Raum stehe, aber keine Option mehr für die Partner darstelle. Die Barmherzigkeit Gottes sei nichts Abstraktes, sondern etwas, das an die Lebensrealität der Menschen anknüpft und unmittelbar erfahrbar sein muss. Es gehe nicht an, die Betroffenen über Jahrzehnte von den Sakramenten der Beichte und Kommunion fernzuhalten, ohne damit zu bewirken, dass sie sich weiter von der Kirche entfernen, mit unabsehbaren Folgen für die religiöse Erziehung und die kirchliche Bindung der aus den neuen Verbindungen hervorgegangenen Kinder und Kindeskinder.

Die Argumente der Zulassungsbefürworter ließen sich noch vertiefen, wenn man den Blick auf die Opfer einer Trennung richtet, die weniger Schuld haben, wenn sie eine neue Verbindung eingehen. Nehmen wir zum Beispiel jenen jungen gläubigen Mann, dessen Frau nach dem ersten Kind eine schwere psychische Erkrankung mit chronischer Verlaufsform entwickelt hat und seither krankheitsbedingt ein Zusammenleben mit ihm und den Kindern strikt ablehnt. Eine kirchliche Annullierung der Ehe kommt nicht in Frage, da die Erkrankung erst nach der Eheschließung ausgebrochen ist, somit kein Verschweigen eines schwerwiegenden Umstands vorlag. Dieser Zustand hält nun schon einige Jahre an. Der junge Mann sehnt sich nach einer Frau. Das Fehlen einer Mutter für sein Kind, Einsamkeit und Sexualität spielen dabei die wesentlichen Rollen. Alleine zu bleiben stellt für ihn, der sich mit seinem Glauben identifiziert, keine Perspektive dar. In einem Gebetskreis lernt er eine zwei Jahre ältere Frau kennen, die sich schon seit langem einen christlichen Partner ersehnt hat. Sie verlieben sich ineinander. Sie hat das für sich untrügliche Empfinden, für ihn und seine Kinder, zu denen sie spontan einen guten Draht gefunden hat, da sein zu müssen. Sie will sein Schicksal teilen und hat Sehnsucht nach eigenen Kindern. Ein anderes Beispiel wäre die menschlich und spirituell delikate Situation einer Frau in zweiter, standesamtlicher Ehe mit zwei Töchtern und einem Sohn aus erster Ehe, die ihre „zweite Bekehrung“ erlebt hat und nun im Einklang mit der Kirche leben will. Sie selber sieht keine Gründe für eine Annullierung der ersten Ehe. Sich dem jetzigen Mann verweigern hieße, die gegenwärtige Familie aufs Spiel zu setzen mit allen Folgen, vor allem für die Kinder. Beispiele solcher Art ließen sich beliebig fortsetzen.

Der Apostel Paulus hatte eine realistische Einschätzung der menschlichen Sexualität. Nach ihm soll der, der vor „Begierde brennt“, heiraten (1 Kor 7, 9). Die Kirche hat diese Sichtweise immer vertreten. Im bis zum Jahre 1983 geltenden Kirchenrecht wurde die Befriedigung des Geschlechtstriebs neben der Erzeugung von Kindern und dem gegenseitigen Beistand zu den drei Ehezielen gerechnet. Die Kirche hatte also immer Verständnis für so etwas wie eine sexuelle Not und sah nicht jeden gleich begabt an, enthaltsam zu leben (Mt 19, 11–13). Die oben beschriebene Situation des jungen Mannes entspricht auf psychologischer Ebene der, die von Paulus und dem Kirchenrecht gemeint ist. Wie soll dieses Verständnis der Kirche mit der Barriere im Einklang stehen, die für den Empfang der Sakramente im Falle einer neuen Verbindung des jungen Mannes und seiner Freundin besteht? Muss es sein, dass die Frau in zweiter Ehe durch ihre Glaubensentwicklung in solch ein Dilemma gerät?

Um dieser Frage gerecht zu werden, kommt man nicht umhin, eine grundlegende anthropologische Reflexion anzustellen. Menschliche Sexualität wird heute zunehmend als Konsumgut gesehen, das in der Verfügungsmacht des Einzelnen steht. Konsens ist demnach die einzige ethische Regel zwischen beliebigen Sexualpartnern. Ehe und Familie werden so zu einer privaten Option, zu einer Art Geschmacksfrage. Die menschliche Sexualität verliert im Kontext dieser Entwicklung und angesichts der immer bedenkenloser genutzten reproduktionsmedizinischen Möglichkeiten mehr und mehr ihre öffentliche Bedeutung.

Dem steht eine teleologische Sichtweise gegenüber, die in der menschlichen Sexualität einen Sinngehalt und ein Ziel erkennt, sie also nicht als ein „Etwas“ ansieht, das irgendwie ausgeübt wird. Sexualität ist demnach Ausdruck der Gemeinschaft zwischen Mann und Frau auf biologischer, leiblicher, seelischer und geistiger Ebene. Leiblichkeit ist so besehen nicht von der Person ablösbar, sondern Teil ihrer Identität, so dass die geschlechtliche Gemeinschaft zwischen Mann und Frau wesentlich als personale Gemeinschaft zu verstehen ist. Nach Johannes Paul II. ist die „leibliche Hingabe in der geschlechtlichen Begegnung … ein Realsymbol für die Hingabe der ganzen Person“ (Familiaris consortio, Art. 80). Da Vergangenheit und Zukunft zur Identität des Menschen gehören, bedeutet einen anderen anzunehmen, seine Vergangenheit und Zukunft anzunehmen. Deshalb ist für die Qualität und Würde der sexuellen Vereinigung ihr Kontext wesentlich. Von ihm hängt ab, ob der Andere als Person angenommen oder benutzt wird. Es ist eine Illusion zu meinen, echte Hingabe in der Sexualität könne sich unter Ausschluss der zeitlichen Dimension des Menschen verwirklichen. So betrachtet weist die Struktur der menschlichen Sexualität auf eine ihr entsprechende, verbindliche Lebensform hin, die die Annahme des anderen als Person in der sexuellen Vereinigung erst ermöglicht. Im freien Jawort der Ehe findet diese Verbindlichkeit ihren Ausdruck. Die Ehe ist der Rahmen, in dem sich die Liebe der Partner entfalten und reifen kann. Die sexuelle Vereinigung ist so besehen Sprache des Leibes mit Bedeutung. Eine Bedeutung, die aus der Sicht des Glaubens den Charakter eines Sakraments haben kann, so dass es sinnvoll ist, jede ehelich sexuelle Vereinigung als eine Erneuerung des Eheversprechens zu verstehen. Annahme der Person bedeutet dann aber auch Verzicht auf Sexualität, wo dies die Rücksicht auf den Partner erfordert. Menschliche Sexualität schließt Verzicht mit ein, wenn sie menschlich bleiben will.

Nimmt man die Gemeinschaft zwischen Mann und Frau näher in den Blick, kann man erkennen, dass sie von der Natur zubereitet und tief in der Evolution verankert ist. Zu ihr gehören ihre leibliche und seelische Komplementarität, das Zusammenpassen der Geschlechtsorgane, die Fruchtbarkeit und die transhistorisch und transkulturell nachgewiesenen seelischen Unterschiede. Sie beziehen sich auch auf die unterschiedlichen, nicht einfach austauschbaren Rollen von Vater und Mutter, die in je verschiedener Weise die Identität ihrer Söhne und Töchter prägen. Die Liebe zwischen Mann und Frau zeigt sich so eingebettet in natürliche, sich ergänzende Verschiedenheit. Über die Bildung von Ehe und Familie wird sie zum Eckstein für das Gefüge des generationenübergreifenden menschlichen Lebens.

Vor dem Hintergrund dieser anthropologischen Sichtweise wird es nachvollziehbar, dass die Kirche jede Form sexueller Aktivität, die hinter dem aufgezeigten Telos menschlicher Sexualität zurückbleibt, objektiv als eine Verletzung seiner Würde, als Sünde ansieht. Dazu gehören unter anderem Selbstbefriedigung, vor- und außerehelicher Geschlechtsverkehr, die Verwendung von Verhütungsmitteln, die immer die Sexualität irgendwie vergegenständlichen, oder auch homosexuelle Verhaltensweisen. Es wird zudem deutlich, dass die beispielhaft angeführten Zitate von Paulus und dem Kirchenrecht keine positive Bestimmung der Sexualität enthalten, sondern der Pastoral angesichts der Schwäche des Menschen geschuldet sind. Sie haben daher eine nachrangige Bedeutung und heben die durch die positive Bestimmung der menschlichen Sexualität gesetzten Grenzen im Umgang mit der Sexualität nicht auf. Die lebenslange Gültigkeit des Jaworts in der Ehe kann also durch pastorale Überlegungen nicht in Frage gestellt werden. Wer schon einmal auf Taufen, Hochzeiten oder Beerdigungen erlebt hat, wie längst getrennte Verbindungen, ob ehelicher oder nicht, als eine Art Schattenfamilien in den Gedanken und Sehnsüchten, insbesondere der aus ihr hervorgegangenen Kinder über Jahrzehnte fortbestehen, sieht, dass es sich hier nicht einfach um abstrakte Anthropologie handelt. Die ungerecht erscheinende Kluft zwischen denen, die Chancen auf eine rechtmäßige Ehe und damit auf erfüllte Sexualität und eigene Familie haben und denen, die diese Chance nicht oder nicht mehr haben, gab es schon immer. Sie war früher und in ärmeren Ländern heute noch vor allem durch die ungleichen materiellen Voraussetzungen für eine Familiengründung bedingt. Solches Leid und dessen Folgen können nicht auf Kosten der Wahrheit über den Menschen entsorgt, sondern nur durch verständnis- und phantasievolle pastorale Anstrengungen gelindert werden. Zudem stellt die dem kirchlichen Verständnis von Sexualität innewohnende Grenzsetzung im Bereich der Sakramentenspendung eine Herausforderung und Chance für die Betroffenen dar, ihre Situation im Einklang mit dem Glauben zu lösen und dadurch spirituell zu wachsen. Die Bedingungen für den Empfang der Sakramente einfach zu ändern hieße so auch, ihnen die Motivation hierfür zu nehmen. Es ist bemerkenswert, dass Papst Johannes Paul II. in Familiaris consortio offensichtlich mit Blick auf die zahlreichen schwierigen Einzelschicksale vermieden hat, beim Thema „Wiederverheiratet Geschiedene“ direkt von schwerer Sünde oder fortgesetztem Ehebruch zu sprechen. Dennoch bleibt er hinsichtlich der Sakramentenspendung ganz in der Begrenzung, die sich aus seiner positiven Bestimmung der menschlichen Sexualität als „Realsymbol für die Hingabe der ganzen Person“ ergibt, zu der eben auch die zeitliche Dimension gehört. Johannes Paul II. selber betont diese zeitliche Dimension, wenn er im Zusammenhang mit der sogenannten „Ehe auf Probe“ davon spricht, dass „… es um menschliche Personen geht, deren Würde verlangt, dass sie für immer und ausschließlich das Ziel liebender Hingabe sind, ohne jegliche zeitliche oder sonstige Begrenzung“ (a.a.O., Art. 80). Eine Änderung in der Praxis der Sakramentenspendung wäre daher keine Weiterentwicklung von Familiaris consortio, sondern ein Bruch mit ihrer wesentlichen anthropologischen und theologischen Lehre über die menschliche Ehe und Sexualität.

Nun könnte man immer noch einwenden, dass die angeführten anthropologischen und theologischen Überlegungen zwar richtig sind, dass aber Gottes Barmherzigkeit nicht an die gezeigten Grenzen gebunden ist, sondern an das je konkrete Leben und die Disposition des Einzelnen anknüpft. Dem ist entgegenzuhalten, dass so, wie die leibliche Vereinigung zwischen Mann und Frau in christlicher Anthropologie die Bedeutung einer Besiegelung ihres Bundes hat, auch das Wort der Lossprechung in der Beichte, insbesondere aber die Eucharistie, als eine Art leiblicher Vereinigung des Gläubigen mit Christus, eine Besiegelung des Bundes mit dem lebendigen Gott darstellt. Die Darreichung der Eucharistie ist ein objektiver Akt, bei dem sich Gott in gewissem Sinne „zwingen“ lässt. Es bedarf daher vor dem Kommunionempfang der verantwortlichen Selbstprüfung hinsichtlich der eigenen Disposition und schwerwiegender Sünden, die zuvor noch bereut und gebeichtet werden müssen (vgl. 1 Kor 11, 28).

Bei Vorliegen einer anhaltend objektiv ungeordneten, dem Gebot widersprechenden Lebenssituation, in der die Betroffenen keinen Ausweg für sich sehen, sich vielleicht auch subjektiv nicht schuldig fühlen und der Seelsorger voller Verständnis ist, kann auf die Barmherzigkeit Gottes gehofft, ja vertraut werden. Das Vertrauen auf die Barmherzigkeit Gottes bedeutet in solchen Fällen aber gerade nicht, den Zustand, in dem man lebt, zu exkulpieren und zur Beichte und Kommunion zu gehen, sondern eine Haltung, aus der heraus man nicht Gottes Urteil vorgreifen will. Man kann Gottes Barmherzigkeit nämlich nicht dekretieren. Die Empfehlung der Kirche zur „geistlichen Kommunion“ für die Betroffenen stellt insofern keinen Widerspruch zum Gesagten dar, als hier eine Sehnsucht des Gläubigen nach Vereinigung mit Christus in der Anbetung zum Ausdruck kommt, bei der nichts besiegelt und das letzte Urteil Christus überlassen wird. Diese Haltung bedeutet Ehrfurcht vor der Heiligkeit Gottes. Die Beichte mit Lossprechung und der Empfang der Kommunion für Wiederverheiratete Geschiedene, die in sexueller Gemeinschaft leben hingegen wäre eine Art Grenzüberschreitung gegenüber dem Urteil Christi, bei der das subjektive Urteil des Spenders und des Empfängers über die objektive Situation gestellt und von beiden positiv sanktioniert würde. Hier sei auch angefügt, dass es im Falle einer solchen Subjektivierung der Zulassungsbedingungen zu den Sakramenten kein Argument gibt, warum diese nur Wiederverheirateten Geschiedenen und nicht auch Gläubigen, die in anderen Formen sexueller Beziehungen leben, zuteil werden sollte.

Eng im Zusammenhang mit der Diskussion über die Sakramentenordnung wurde der Aspekt der Gradualität verschiedener Lebensformen in die Diskussion eingebracht. Dabei wurde auf eine Formulierung des Zweiten Vatikanischen Konzils über die Kirche Bezug genommen. Damals ging es darum, eine sprachliche Wendung für die Beschreibung der katholischen Kirche zu finden, die mehr inklusiven Charakter für andere christliche Konfessionen hat und den eher exkludierenden Charakter üblicher Bezeichnungen wie „einzig wahre Kirche“ vermeidet, ohne den damit ausgesagten Gehalt zu verlieren. Hierbei stieß man auf den Begriff der „Subsistenz“. Die Fülle dessen, was die Kirche ausmacht, „subsistiert“ demnach in der katholischen Kirche, kommt also in ihr zur Verwirklichung (vgl. Vaticanum II, LG 8). Das bedeutet eine Sichtweise, bei der die anderen christlichen Konfessionen an dieser Fülle Anteil haben. Auf die sakramentale Ehe angewendet hieße dies, durch den Begriff der „Gradualität“ eine Wendung zu finden, bei der in den vielfältigen nicht sakramentalen Verbindungen, in denen die Christen vor allem in der westlichen Welt heute leben, mehr die positiven Aspekte gesehen werden, also all das, was auf ein Bemühen um jene Art von Beziehung hinweist, wie sie in der sakramentalen Ehe verwirklicht ist.

Der Sinn dieser eher würdigenden Sichtweise scheint unmittelbar einleuchtend. Jeder kennt getaufte Paare, die sich dem Glauben verbunden fühlen, aber aus welchen Gründen auch immer ohne Trauschein oder wiederverheiratet zusammenleben. Viele von ihnen bilden eine Familie mit Kindern. Demgegenüber kann das Leben in kirchenrechtlich legal geschlossenen Ehen voller Lug und Trug sein. Jeder, der mit jungen Menschen zu tun hat, kann sich davon anrühren lassen, wie oftmals in rudimentäre Beziehungen Hoffnungen und Sehnsüchte auf eine verbindliche, tragfähige Verbindung gesetzt werden. So scheint es ein Gebot der Menschlichkeit zu sein, ohne Scheuklappen das gute Bestreben in den Beziehungen der Menschen zu sehen. Vor allem von christlichen Eltern wird erwartet, dass sie im Leben ihrer Kinder das lebendige, dynamische Wachstum sehen, also liebevoll bottom up und nicht einseitig top down von den Geboten Gottes her auf sie schauen, was von diesen als Distanz und Kälte empfunden würde.

Dennoch gibt es Grenzen dieser Perspektive. Der Glaube ist keine pädagogische Veranstaltung zur „Erziehung des Menschengeschlechts“ (Lessing). Er ist seinerseits etwas Lebendiges, ein Beziehungsgeschehen, bei dem der Mensch mit dem lebendigen Gott in Berührung kommt. Deshalb kommt man bei der Frage nach der Gradualität um den Begriff der Sünde nicht herum. Andernfalls gerät man in eine andere Distanz und Kälte, nämlich Gott gegenüber. Der ganze Bereich der Beziehungen insbesondere der Sexualität betrifft die Würde des Menschen, seine Freiheit und sein Personsein. Er hat etwas mit dem Leib als „Tempel Gottes“ zu tun, zu dem der Mensch berufen ist (vgl. 1 Kor 6, 19). Jede Verletzung dieses Bereichs, und mag sie noch so oft vorkommen, ist daher auch eine Verletzung der Beziehung zu Gott. Sie braucht immer wieder Reinigung und Umkehr. Es ist daher auch problematisch, die christliche Lebensordnung als ein „Ideal“ zu bezeichnen. Ein Ideal ist etwas Entrücktes, eher Abstraktes, das man anstrebt oder auch nicht. Es geht hier vielmehr um die Gebote Gottes und deren Einhaltung oder Übertretung. Der Aspekt der Sünde ist es auch, der erst die Reue ermöglicht. Was ist zum Beispiel mit einem Paar, das unehelich zusammenlebt, neu zum Glauben findet und heiratet? Jetzt gehen ihnen die Augen auf und sie bereuen, dass sie sich nicht gegenseitig von Gott haben schenken lassen, sondern ohne das bewusste eheliche Ja in ihre intime Beziehung hineingeschlittert sind. Der einseitig betonte Aspekt der Gradualität und die Bezeichnung der christlichen Lebensordnung als ein Ideal ermöglichen vielleicht eine Reflexion auf das mehr oder weniger gelungene eigene seelische Wachstum, verstellen aber den Blick auf das Drama des Menschen, auf Sünde, Gnade, Reue und Umkehr. Der Begriff der Gradualität hat also mit Blick auf die christliche Lebensordnung nur dann seine Berechtigung, wenn er zum Begriff der Sünde in Beziehung gesetzt wird. Johannes Paul II. selber hat in seiner Predigt zum Abschluss der 5. Generalversammlung der Bischofssynode am 25.10.1980 eingehend zum Begriff der Gradualität Stellung bezogen und es kategorisch abgelehnt, in den Lebensformen, die nicht der christlichen Lebensordnung entsprechen, eine Art Gradualität der Gebote Gottes zu sehen. Es gehe „nicht darum, das Gesetz nur als reines Ideal anzusehen, das in der Zukunft erreicht werden soll, sondern es muss als ein Gebot Christi, des Herrn, gesehen werden, sich um die Überwindung der Schwierigkeiten zu bemühen“.

Die Ausführungen sollen zeigen, dass es in Bezug auf die menschliche Sexualität nicht möglich ist, die Spannung zwischen der psychologischen Perspektive und der Perspektive des Glaubens zu glätten. Das hängt offensichtlich mit der Gebrochenheit und Erlösungsbedürftigkeit des Menschen zusammen. Glättungsversuche erzeugen auf der einen Seite, der Seite der Tradition, immer eine gewisse Gefahr, die Augen vor der Realität vieler Christen zu verschließen, sich in ein sicheres doktrinäres Gebäude einzusperren und es zu versäumen, auf die Menschen in schwierigen Situationen zuzugehen und mit ihnen Freundschaft zu schließen. Auf der anderen, der eher liberalen Seite wiederum besteht die Gefahr, sich mit einem Augenzwinkern über die Ansprüche des Glaubens und wesentlicher anthropologischer und theologischer Einsichten hinwegzusetzen und den vor allem pastoral einfacheren Weg zu wählen, indem man die Sakramentenordnung aufweicht. Man kann die Barmherzigkeit Gottes nicht dekretieren.

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