Die Krise als Dauerzustand

Zum ökomischen Desaster kommt der Ausverkauf politischer Grundsätze

domizilVon Andreas Wodok

Die Tagespost, 03. Juli 2015

Zum ökomischen Desaster kommt der Ausverkauf politischer Grundsätze. Doch die schlimmste Konsequenz des Griechen-Dramas ist der soziale Sprengstoff. Der könnte für Europa schnell zu einem noch viel grösseren Problem werden. Die Lunte brennt bereits.

In welche Statistik man auch schaut, von einer “Rettung” Griechenlands kann keine Rede sein. Es droht eine humanitäre Katastrophe – und zwar in einem Ausmass, das man im Europa des 21. Jahrhunderts nicht für möglich gehalten hätte.

Während die europäische Öffentlichkeit immer mehr rätselt, auf welches Ziel die Politiker in Sachen Griechenland eigentlich zusteuern, sprechen die Fakten eine unmissverständliche Sprache: Seit fünf Jahren versuchen die Euroländer, die Europäische Zentralbank und der Internationale Währungsfonds, eine Volkswirtschaft wieder flottzumachen, die gerade einmal zwei Prozent des gesamteuropäischen Bruttoinlandsprodukts erwirtschaftet – und alle zusammen sind in Bausch und Bogen gescheitert.

In Zahlen gegossen, sieht dieses Scheitern so aus: Die griechische Wirtschaftsleistung ist seit 2010, dem Beginn der Schuldenkrise, um 25 Prozent eingebrochen; die Löhne und Renten vieler Griechen und Griechinnen sind um 30 bis 40 Prozent gekürzt worden; derzeit ist jeder vierte Grieche arbeitslos, die Jugendarbeitslosigkeit beträgt sogar 50 Prozent; das Gesundheitssystem steht kurz vor dem Kollaps; die Rentenkasse ist leer – und die Schulden des griechischen Staates und der Banken sind nach Berechnungen des Münchener ifo-Instituts von 50 Milliarden Euro im ersten Quartal 2010 auf mittlerweile gut 330 Milliarden Euro gestiegen.

Kurzum: In welche Statistik man auch schaut, von einer “Rettung” Griechenlands kann beim besten Willen keine Rede sein. Es handelt sich vielmehr um eine Krisenstrategie, die sehenden Auges eine humanitäre Katastrophe in Kauf nimmt – und zwar in einem Ausmass, das man im Europa des 21. Jahrhunderts eigentlich nicht mehr für möglich gehalten hätte.

Was in den vergangenen fünf Jahren passiert ist, nennt sich Konkursverschleppung. Statt – wie es die Fakten schon 2010 geboten haben – einen konsequenten Schuldenschnitt durchzuführen und die auch dann nötigen Milliarden in konkrete Programme zum Aufbau einer wettbewerbsfähigen Wirtschaft und eines funktionierenden Staatsapparats zu stecken, haben – um es mit den Worten von ifo-Präsident Hans-Werner Sinn zu sagen – “öffentliche Gläubiger die privaten abgelöst und ihnen die Gelegenheit gegeben, sich aus dem Staub zu machen”. Zu dem ökonomischen Desaster – ein Schuldenschnitt und konkrete Aufbauhilfe wären viel günstiger gewesen als die Troika-Strategie – kommt der Ausverkauf juristischer und politischer Grundsätze. “Defizit- und Schuldenstandgrenzen werden permanent verletzt, die EZB betreibt in grossem Stil monetäre Staatsfinanzierung, Einzelstaaten drucken per Notkredit ihr eigenes Geld, und das Beistandsverbot wurde in sein Gegenteil verkehrt”, listet Stefan Homburg die Verfehlungen in der Wirtschaftswoche auf. Der Direktor des Instituts für Öffentliche Finanzen in Hannover hält das alles nicht mehr für reparabel und rechnet mit einem Zerfall der Währungsunion.

Die schlimmste Konsequenz aber ist der soziale Sprengstoff, den die hartleibige Krisenpolitik hervorgebracht hat. Nicht nur in Griechenland, auch in Spanien, Italien, Frankreich und so manch anderem Land organisieren und formieren sich Gruppen und neue – teils radikale – Parteien, die nicht nur irgendeine Klausel in irgendeinem EU-Vertrag ändern wollen, sondern gleich die Gesellschaft, das Land, das Wirtschaftssystem, am liebsten die ganze Welt. Und der Weg von der Fundamentalkritik zum Fundamentalismus ist bekanntlich oft nur kurz.

Wie es weitergeht? Man muss davon ausgehen, dass es wieder auf einen faulen Kompromiss hinausläuft, damit alle ihr Gesicht wahren können. Ob Griechenland den Euro behält oder nicht, spielt dabei kaum eine Rolle, denn das Problem ist grundsätzlicher Natur: Die Euroländer müssen einsehen, dass es auf Dauer unmöglich ist, 19 Staaten mit einer gemeinsamen Währung zu versorgen, solange alle eine eigenständige Wirtschafts- und Fiskalpolitik betreiben.

Weil diese Einsicht aber fehlt, wird stattdessen bald das Kaninchen namens Insolvenzordnung für die Euroländer aus dem Hut gezaubert. Als Gemeinschaft ist Europa dann endgültig gescheitert. Denn dann ist Europa nur noch eine Bank und unterwirft sich der Logik der Finanzmärkte.

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