Der Revolutionär aus Rom

Vor den Volksbewegungen in Santa Cruz forderte Papst Franziskus nichts Geringeres als den Umbau der Weltwirtschaft

Luis Espinal

Von Guido Horst

Wären die internationalen Flughäfen für eintreffende Fernreisende so etwas wie die Visitenkarten der betreffenden Staaten, so könnte man Ecuador für seinen Airport “Mariscal Sucre“ in der Hauptstadt Quito nur beglückwünschen, während der Flughafen “Viru Viru” in Santa Cruz de la Sierra, mit knapp 1,5 Millionen Einwohnern immerhin Boliviens grösste und auch modernste Stadt, noch heute eher an die aus viel dunkelbraunem Holz und abgenutzten Materialien bestehenden Terminals der siebziger Jahre des letzten Jahrhunderts in den damals sogenannten Ländern der Dritten Welt erinnert. Aber immerhin: Quer über die Vorderfront des Flughafengebäudes von Santa Cruz prangte jetzt zum Papstbesuch ein überdimensionales Banner mit den Konterfeis von Franziskus und Boliviens Staatspräsident Evo Morales und der Aufschrift “Justicia, Equidad e Inclusión social“: “Gerechtigkeit, Gleichheit und soziale Inklusion”. Das dürfte Morales nicht erst dann aufgehängt haben lassen, als er die Predigt des Papstes vom vergangenen Montag gehört hatte. Gleichheit, Einheit und Inklusion sind Schlüsselbegriffe der gesellschaftspolitischen Verkündigung von Franziskus, nicht erst jetzt bei seiner Lateinamerikareise, sondern schon vorher. Längst schon haben sie sich herumgesprochen – und gerade Präsident Morales ist ein Mann, der sie sich auf sein eigenes Banner schreiben und so den Papst zum Kampfgenossen machen möchte.

Trotzdem, Franziskus sah nicht sehr vergnügt aus, als ihm der “Chef” der Coca-Bauern und heutige Präsident des Andenstaats direkt bei der Ankunft als Geschenk ein Kruzifix überreichte, das auf dem kommunistischen Symbolpaar von Hammer und Sichel montiert war. Die Erklärung hiess dann, diese Skulptur habe dem 1980 in La Paz gefolterten und erschossenen Jesuitenpater Luis Espinal besonders am Herzen gelegen, der sich unter anderem an Arbeitskämpfen und Hungerstreiks bolivianischer Minenarbeiter beteiligt hatte und den Franziskus bei seiner Ankunft eigens würdigte. Bei seiner ersten Ankunft in Bolivien. Denn zuerst war er von Quito kommend in das 4 100 Meter hoch gelegene La Paz geflogen, wo ihn Morales empfing, erst am späteren Abend ging es dann von dort wieder mit dem Flugzeug weiter in das wesentlich tiefer gelegene Santa Cruz.

In La Paz folgte nicht nur das erste Bad in der Menge, als der Papst zu Fuß vom Präsidentenpalast, wo er Morales den offiziellen Höflichkeitsbesuch abstattete, zur Kathedrale der Stadt ging, um mit den Vertretern des öffentlichen Lebens zusammenzutreffen, und ihn die höhengewohnten Bewohner der Andenstadt mit einem wahren Begeisterungssturm empfingen. Es folgte auch die erste Bemerkung von Franziskus mit diplomatischen Kratzspuren. Vor den Honoratioren rief er unter anderem Bolivien zum Dialog mit seinen Nachbarn auf, um Konflikte unter Brüdervölkern zu vermeiden, und fügte wörtlich an, er denke dabei „an das Meer“. Sofort war klar, dass er die alte und von Evo Morales mit Vehemenz vertretene Forderung der bolivianischen Seite meinte, wieder einen Zugang zum Pazifik zu erhalten, den das Land im sogenannten Salpeterkrieg 1879 an die Siegermacht Chile verloren hatte. Bolivien jubelte, manche Zeitungen hoben die Nachricht als Schlagzeile auf die Seite Eins – und in Chile zeigte man sich erstaunt bis verärgert. Für den Nachbarn ist diese historische Wunde geschlossen und außerdem kein Gegenstand für bilaterale Gespräche, da die Regierung von Präsident Morales in der Frage des Zugangs zum Meer den internationalen Gerichtshof in Den Haag angerufen hat. „Es war Bolivien, das einen Dialog mit seiner Klage zunichte gemacht hat. Chile war immer offen für einen Dialog“, erklärte der chilenische Außenminister Heraldo Munoz beleidigt. So begann der Besuch von Franziskus mit einer diplomatischen Verstimmung, die gar nichts mit den Inhalten seiner Botschaften von lateinamerikanischem Boden aus an seinen Heimatkontinent zu tun hatte. Die kamen erst an seinem zweiten Bolivien-Tag, dem Donnerstag in Santa Cruz, und wieder mischte Morales an führender Stelle mit.

Dieser Donnerstag hatte am Vormittag mit einer großen Messe unter freiem Himmel begonnen, den viele Einwohner von Santa Cruz wie eine Befreiung erlebt haben müssen. Tagelang hatte es zuvor geregnet, und noch am frühen Morgen war der Himmel grau und verhangen. Doch während des Gottesdienstes schob der starke Wind über der Sierra die Wolken beiseite und eine stark scheinende Sonne und der blaue Himmel tauchten die Stadt in ein farbenprächtiges Licht. Auch hier sprach Franziskus in seiner Predigt vom Schicksal derer, die das Los tragen, fortgeschickt zu werden, nicht dazuzugehören, so wie das Volk, das den Messias gehört und dann nichts zu essen hatte – und das die Jünger nach Hause schicken wollten. „Wieder einmal“, so Franziskus, „spricht Jesus uns an und sagt: Sie brauchen nicht wegzugehen. Gebt ihr ihnen zu essen.“ Es sei eine Einladung, die heute machtvoll erklinge: „Es ist nicht nötig, dass jemand weggeht“, fuhr der Papst fort, „Schluss mit den Ausschließungen, gebt ihr ihnen zu essen.“ Der Blick Jesu akzeptiere nicht eine Logik, eine Sichtweise, die immer den Schwächsten, den am meisten Bedürftigen „den Kürzeren ziehen“ lässt. Jesus habe ein wenig Brot und etwas Fisch genommen, das Lob- und Dankgebet darüber gesprochen und es ausgeteilt, „damit die Jünger es mit den anderen teilen. Das ist der Weg des Wunders“, sagte der Papst. Mit Hilfe dieser Handlungen sei es Jesus gelungen, „eine Logik des Ausschließens in eine Logik des Miteinanders, der Gemeinschaft zu verwandeln“.

Am Nachmittag dann kam Franziskus mit Priestern, Ordensleuten, Seminaristen und Novizen in einem Zentrum der Salesianer zusammen. Wieder eine prächtige Stimmung, ganz getragen von den mehrere Tausend umfassenden Anwesenden, die sangen, klatschten und Franziskus mit Sprechchören feierten. Von der Besinnlichkeit eines Refektoriums in einem Kloster war hier nichts zu spüren. Wieder ging der Papst auf das Thema der Inklusion ein, diesmal an die Seelsorger gewandt, die er aufforderte, dem Ausgegrenzten, dem durch das Rost der Gesellschaft Gefallenen ebenso nachzugehen, wie das Jesu im Evangelium mit dem schreienden Bettler getan habe, den die Umstehenden zum Schweigen bringen wollten, als der Herr vorüberging. „Das Evangelium sagt uns, dass Jesus nicht wie die anderen vorüberging, sondern dass er stehenblieb und fragte, was denn los sei.“ Und statt ihm Schweigen zu gebieten, so Franziskus, habe Jesus gefragt: „Was kann ich für dich tun?“ Der Sohn Gottes habe wissen wollen, wer der Bettler sei, „um am Leben dieses Menschen Anteil zu nehmen, um sein Los zu teilen. So gibt er ihm nach und nach die Würde wieder, die er verloren hatte, er bezieht ihn ein.“

Der Höhepunkt des Tages war dann der spätere Nachmittag. Es kam das, was man als die Schlüsselrede des Papstes während seiner bisherigen Lateinamerikareise bezeichnen könnte – und man hätte glauben können, Franziskus spricht auf einer politischen Versammlung. Mehrere tausend Teilnehmer des zweiten Welttreffens der Volksbewegungen waren in einer Halle des Ausstellungsgeländes „Expo Feria“ in Santa Cruz zusammengekommen. Freunde von Franziskus waren darunter, wie etwa „cartoneros“ aus Buenos Aires, zu denen er bereits in seiner Zeit als Kardinal und Erzbischof freundschaftliche Beziehungen pflegte und von denen ihn einige auch schon in Rom besucht haben. „Cartoneros“ sind Kooperativen und Nichtregierungs-Organisationen, die Abfall wiederverwerten, eine Bewegung, die im Argentinien der Wirtschaftskrise ihren Anfang nahm und heute international verbreitet ist. Aber auch Landlose und Kleinbauern saßen unter den Zuhörern des Papstes. Und natürlich war Evo Morales wieder da, der sich als Chef der Bewegung für die Rechte der Coca-Bauern und als sozialistischer Staatspräsident berechtigt fühlte, das Treffen mit einer seiner Reden gegen die Vereinigten Staaten, gegen das Finanzkapital und den Kapitalismus zu eröffnen. Doch zunächst wurde eine „Erklärung von Santa Cruz“ verlesen, die das Welttreffen der Volksbewegungen auf diesem Kongress verabschiedet hatte und in der eine neue Weltwirtschaftsordnung und die Überwindung des „kapitalistischen Neoliberalismus“ gefordert wurden. Morales, der auf seiner Jacke ein Porträt von Che Guevara trug, erging sich dann in seinen üblichen Formulierungen. Er beschimpfte die Vereinigten Staaten als „nordamerikanisches Imperium“, das versuche, die „demokratischen Revolutionen“ in Lateinamerika zu bekämpfen und die Völker des Kontinents zu spalten. Seine liberalen Vorgängerregierungen bekamen ebenso ihr Fett weg wie der Internationale Währungsfonds oder der Weltsicherheitsrat, den Morales als „Welt-Unsicherheitsrat bezeichnete. Dagegen aber Lob für Alexis Tsipras und seinen Widerstand gegen die Sparauflagen des Internationalen Währungsfonds und der Gläubigerstaaten. Was die griechische Regierung versuche, so Morales, sei der Beginn einer Revolution gegen die Macht der Finanzwelt auch in Europa, der er Erfolg wünsche.

Danach sprach Franziskus. Sehr lang, einen ausgefeilten Text trug er vor, von dem Vatikansprecher Federico Lombardi später sagte, dass ihn Franziskus selber geschrieben habe. „Das stammt ganz allein aus seiner Feder“, meinte er vor Journalisten – und fügte gleich an, dass der Papst bei der Veranstaltung von Präsident Morales nicht vereinnahmt und benutzt worden sei. Die „Revolution“, die der Papst predige, sei eine absolut gewaltfreie Revolution der Liebe, sie eigne sich nicht für „ideologische Vereinnahmungen“.

Wie dem auch sei, für Papst Franziskus war nun der Augenblick gekommen, seine Rede gegen Ausgrenzung und für Inklusion, die seinen Lateinamerika-Besuch bis dahin wie ein roter Faden durchzogen hatte, vom Pastoralen ins Politische zu ziehen. Der Papst aus Rom gab sich jetzt als Revolutionär, der nichts Geringeres als den Umbau des Weltwirtschaftssystems und eine völlige Neugestaltung der internationalen Beziehungen forderte. Jetzt ging es nicht mehr um Chile und den Zugang Boliviens zum Meer, jetzt ging es um die Macht in der Welt, um die Vorherrschaft einer „Wirtschaft, die tötet“. Am Ende seiner Ansprache bat er die anwesenden Vertreter der Volksbewegungen – wie er das bei ausnahmslos allen Veranstaltungen tut –, für ihn zu beten. Warum wohl? Wer sich mit der Macht dieser Welt anlegt, führt in der Regel ein gefährliches Leben.

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