Kinder auf der Fahrt zum “schönsten Bahnhof der Welt”
“Ein Sozialprojekt erinnert an die Existenz einer eigenen päpstlichen Bahnhofsstation”
Von Ulrich Nersinger
Vatikan, 27. Mai 2015
Am Samstag, dem 30. Mai, wird ein Zug mit aussergewöhnlichen Fahrgästen im Bahnhof der Vatikanstadt eintreffen. An Bord befinden sich die Kinder von Gefängnisinsassen der Haftanstalten von Rom, Civitavecchia, Latina, Bari und Trani. Der von der italienischen Eisenbahngesellschaft zur Verfügung gestellte Sonderzug wird die “Stazione Ferroviaria Vaticana” gegen 10.40 Uhr erreichen. Die Kinder und ihre Begleitpersonen treten dann den Weg zur Audienzhalle Pauls VI. an, wo sie mit Papst Franziskus zusammentreffen werden. Dieser besondere Ausflug in den Vatikan beginnt mit der Ankunft auf einem der ungewöhnlichsten Bahnhöfe der Welt.
In den Lateranverträgen von 1929 hatte sich Italien verpflichtet, für einen Anschluss des neu entstandenen Vatikanstaates an das italienische Schienennetz Sorge zu tragen. Die Arbeiten erforderten einen enormen Aufwand. Der römische Bahnhof San Pietro im Stadtviertel Trastevere musste ausgebaut, ein Viadukt über das Tal des Gelsomino konstruiert, 861,78 Meter Schienen verlegt und eine Station auf vatikanischem Territorium errichtet werden. Der technisch aufwendigste und komplizierteste Teil der Arbeiten war der Bau der Brücke.
Der Grund dafür lag in dem sandigem Erdreich. Für einen der Hauptpfeiler benötigte man ein 23 Meter tiefes Fundament. Auch für den Bau der Stützmauern des Viadukts mussten zahlreiche Pfeiler errichtet werden, die zwischen fünf und 17 Meter in den Boden getrieben wurden.
Den Eingang in die Vatikanstadt gewann man mit Hilfe eines Durchbruchs in die alten Vatikanischen Mauern. Das eiserne, elektrisch betriebene Portal, das die Öffnung schliesst, besteht aus zwei Flügeln mit einem Gesamtgewicht von 35,5 Tonnen. Im Gebiet des heutigen Bahnhofs gab es zahlreiche kleine Häuser. Es war daher notwendig, 3 700 Quadratmeter Mauerwerk abzutragen und 67 000 Kubikmeter Erdreich zu bewegen. Die Flanke des Hügels, der aus dem üblichen Megelsand des Vatikanischen Hügels besteht, musste mit einer hohen und breiten Mauer aus Bruchsteinen, verziert mit Ziegeln und einem Sockel und Gesimsen aus Travertin, gestützt werden. Die Bahnanlage des Papstes verfügt über zwei parallel zueinander verlaufende Gleise, zwei kurze Abstellgleise zum Entladen von Güterwaggons und ein Gleis, das in einen Tunnel am Kopfende der Anlage führt, um das Rangieren eines Zuges zu ermöglichen. Das Bahnhofsgebäude der Vatikanstadt entstand nach einem Entwurf von Giuseppe Momo. Es ist als Repräsentationsbau konzipiert: Die Aussenmauern schmücken Travertin, ein kleiner Brunnen, päpstliche Wappen und Reliefs des Bildhauers Edoardo Rubino. Das Innere imponiert durch den Marmor aus den Steinbrüchen von Versilia und Seravezzo; die Räume sind ausgestattet mit Säulen aus Cipollino, gewaltigen Bronzevasen und Kronleuchtern aus kostbarem Muranoglas. Der Bahnhof sollte vor allem den Ausfahrten des Papstes und dem Empfang hoher Persönlichkeiten, die zu einem offiziellen Empfang in den Vatikan kamen, dienen. Doch kein einziger Staatsgast traf hier jemals ein. Pius XI. (1922-1939) nannte die Station zwar “den schönsten Bahnhof der Welt“, benutzte sie jedoch nie.
Nur wenige Male sollten Päpste die Eisenbahn von ihrem eigenen Staatsterritorium aus in Anspruch nehmen. Am 6. Mai 1959 wurde der Leichnam des heiligen Pius’ X. (1903-1914) von der Vatikanstadt nach Venedig überführt, wo den Gläubigen der Lagunenstadt die Möglichkeit gegeben werden sollte, die sterbliche Hülle ihres ehemaligen Patriarchen zu verehren. Papst Johannes XXIII. (1958–1963) begab sich am 4. Oktober 1962 zum Bahnhof der Vatikanstadt und bestieg dort einen Zug, der ihn zu einer Pilgerfahrt nach Assisi und Loretto brachte. Johannes Paul II. (1978–2005) unternahm am 8. November 1979, dem “Tag des Eisenbahners”, eine symbolische Fahrt zu dem im Norden Roms gelegenen Lokomotivendepot des Rangierbahnhofs Salario, wo er sich mit Mitarbeitern der Italienischen Staatsbahnen und deren Familien traf. 2002 fuhr der Papst zu einem internationalen Gebetstreffen für den Weltfrieden nach Assisi; 2011 nahm auch Benedikt XVI. von hier aus den Zug in die Stadt des hl. Franziskus. Bei allen Fahrten wurden den Päpsten von Italien Sonderzüge gestellt.
Der Bahnhof der Vatikanstadt dient heute hauptsächlich dem Güterverkehr. Die Durchführung des Eisenbahndienstes ist dem “Ufficio Merci”, dem Warenamt der Gouverneursbehörde des Vatikanstaates, anvertraut. Einen regulären Personenverkehr zur oder von der vatikanischen Bahnhofsstation gibt es nicht; nur Sonderfahrten erreichen den Vatikan: Krankentransporte von UNITALSI-Wallfahrten nach St. Peter und Züge einer Initiative, die Ferienreisen für Kinder aus wenig begüterten Familien quer durch Italien organisiert. Äusserlich hat sich der Bahnhof seit seinem Entstehen nicht verändert. Mit einer Ausnahme: Am 5. November 1943 fielen vier Bomben alliierter Flugzeuge auf die neutrale Vatikanstadt.
Ein Bahnhof wäre dem Papst lieber als das neue Kaufhaus
Einer der Sprengsätze fügte der Fassade Schäden zu, die noch heute zu sehen sind. Im Innern der Station sind jedoch erhebliche Veränderungen vorgenommen worden. Im Mai 2003 vermeldete die Schweizer Nachrichtenagentur Kipa: “Roms exklusivste Adresse für den Einkauf von italienischen Markenschuhen und Schweizer Luxusuhren liegt neuerdings nicht mehr in der Via Condotti, sondern im Vatikan.”
Das Bahnhofsgebäude war zu einem kleinen Kaufhaus für beim Heiligen Stuhl akkreditierte Dipomaten, Kurienmitarbeiter und Angestellte des Vatikanstaates umfunktioniert worden. In der ersten Phase der Planungen für die Durchführung des Heiligen Jahres 2000 kamen kurzzeitig Überlegungen auf, den vatikanischen Bahnhof für die Anreise von Pilgern zu nutzen. Man wollte so einem erwarteten Verkehrschaos entgehen. Doch die Gouverneursbehörde des Vatikanstaates konnte darlegen, dass ein solches Unterfangen nur schwer durchführbar sei und die Idylle der Vatikanischen Gärten mit Sicherheit zerstören würde. Aus der Umgebung des Papstes heisst es heute jedoch wieder, dass dem Heiligen Vater ein echter Bahnhof lieber wäre als ein Kaufhaus.
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