‘Meine erste Aufgabe: Das Evangelium zu verkünden’

Das Evangelium ist die Ansage des Reiches Gottes

Passau, kath.net/Facebookseite Bischof Oster, 30. Dezember 2014

Liebe Facebook-Freunde, manchmal werde ich – auch auf dieser Plattform – gefragt, warum ich mich nicht häufiger zu politischen Themen äussere, jüngst zum Beispiel zu Pegida oder etwa zur Flüchtlingsdebatte oder zur Genderfrage oder zur Familienpolitik und anderes mehr.

Zunächst: Zu manchen der aktuellen Themen habe ich mich dezidiert und explizit geäussert, bei manchen bin ich angesichts der Komplexität der Thematik zurückhaltend. Ich will vor allem dann nicht allzu schnell urteilen, wo mir vertiefte Kenntnisse fehlen.

Aber wichtiger ist mir zunächst dieses: Ich halte es für meine erste Aufgabe, das Evangelium zu verkünden. Und das Evangelium ist die Ansage des Reiches Gottes – und zwar ausdrücklich vor aller Politik! Reich Gottes ist, wo Gott herrscht, wo Gott König ist. Und wenn bei einem einzelnen Menschen beginnt, dass Gott die Herrschaft über sein Denken, Sprechen und Handeln übernimmt, dann tritt er ein in das Reich Gottes, schon jetzt und heute – auch wenn es dieses Reich seiner Fülle erst später vollends sichtbar wird. Damit dieser Eintritt aber geschehen kann, muss ein Mensch Jesus persönlich und in Gemeinschaft kennen und lieben lernen. Denn Jesus ist – so steht es sehr klar im Evangelium – der einzige Weg dort hinein, der einzige Weg ins Reich des Vaters und zum Vater (vgl. Joh 14,6). Paulus sagt deshalb im 1. Korintherbrief überdeutlich (frei übersetzt): “Wer den Herrn nicht liebt, gehört nicht zu uns!“ (vgl. 1 Kor 16,22).

Ich halte es deshalb für meine erste Aufgabe als Bischof, Jesus selbst und das Geheimnis seiner Kirche immer besser und tiefer bekannt machen und zu verkündigen, was natürlich auch voraussetzt, dass ich selbst ihn immer besser kennen und lieben lernen will und soll. Und ich muss sagen: Mit dieser Aufgabe bin ich tatsächlich schon sehr herausgefordert neben all den Dingen, die die Leitung eines Bistums täglich mit sich bringt.

Ich bin aber zusätzlich davon überzeugt, dass uns aus der Herzenserkenntnis Jesu und aus dem damit verbundenen Eintritt in sein Reich und ins Reich des Vaters auch die politischen Überzeugungen zuwachsen, die für uns besonders relevant sind: Zum Beispiel unbedingter Schutz und Achtung der Personwürde vom Moment der Empfängnis bis zum natürlichen Tod – unabhängig von Herkunft, Geschlecht, Nation, religiösem Bekenntnis etc.; nötiges Engagement für die wenig Privilegierten, für Menschen in Not, für Bildung, für junge und alte Menschen, für Arbeit, für den Erhalt der Familien, für die Bewahrung der Schöpfung, für ein gerechtes Wirtschaftssystem, für den Schutz von Minderheiten, für Flüchtlinge und anderes mehr. Alles das sind Dinge, die im Grunde selbstverständlich aus dem Evangelium erwachsen – auch dann, wenn sie den Gläubigen nicht alle zu allen Zeiten gleich bewusst waren. Und sicher werden in den nächsten Jahren und Jahrzehnten noch einige dazu kommen, die uns heute noch nicht bewusst sind. Die Stichworte Biotechnologie oder Neuro-Enhancement, um nur zwei zu nennen, stellen uns jedenfalls ganz neue Fragen, für die wir auch Antworten auf der Basis des Evangeliums brauchen.

Die Frage ist trotzdem: Warum verlieren wir als Kirchen in unserer Gesellschaft so deutlich an politischer, ökonomischer, kultureller oder auch wissenschaftlicher Relevanz? Meine persönliche Antwort: Weil unser eigener Glaube an Christus und seine Einladung in sein Reich für uns selbst an Relevanz verliert und verloren hat. Wo in uns und unter uns das Bewusstsein und die Erfahrung schwinden, dass wir tatsächlich Kinder des Vaters, Neugeborene, neue Menschen, Schwestern und Brüder Jesu, Angehörige seines Reiches sind, verliert der Glaube in der Gesellschaft selbst an Bedeutung. Wo unser Leben nicht mehr selbstverständlich getragen wird aus der Freude an der Zugehörigkeit zu einer Kirche, die uns Christus schenkt und damit den Anfang der Zugehörigkeit zum Gottesreich, dort haben oder bekommen wir als Christinnen und Christen notwendig ein Identitätsproblem. Wir wissen dann im Grunde nicht mehr allzu gut, wer wir sind – und wozu wir da sind. Und wenn wir es nicht mehr wissen oder wenn diese Identität ins Wanken gerät, dann brauchen wir äussere Mechanismen der Identitätssicherung, die uns von innen her fehlen.

Dann suchen wir uns zum Beispiel Verbündete, mit denen wir auf die Strasse gehen, um uns unserer “abendländischen“ Identität zu versichern. Aber solch eine Versicherung ist im Grunde ex negativo: Wir suchen nach einem Verstehen, wer wir sind (“abendländische Patrioten“?), indem wir uns und den anderen gemeinsam sagen, wer wir nicht sind (“Islamisten“?). Hier artikuliert sich dann schwache Identität, die Angst hat vor starker oder vermeintlich stärkerer Identität. Denn was hiesse für einen Christen Islamisierung? Und wie könnten wir Furcht vor Islamisierung haben, wenn wir wirklich in Christus stünden, weil wir Ihn kennen und lieben? Paulus schreibt im 8. Kapitel des Römerbriefes: “Ist Gott für uns, wer ist dann gegen uns? Er hat seinen eigenen Sohn nicht verschont, sondern ihn für uns alle hingegeben — wie sollte er uns mit ihm nicht alles schenken? … Denn ich bin gewiss: Weder Tod noch Leben, weder Engel noch Mächte, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder Gewalten der Höhe oder Tiefe noch irgendeine andere Kreatur können uns scheiden von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserem Herrn.“

Meine ehrliche Überzeugung: Unser Glaube an Christus hat die Gotteserfahrung unserer jüdischen Brüder und Schwestern vertieft und ungeahnt erneuert. Der Jude und Pharisäer Paulus wusste sehr tief darüber zu sprechen und er wusste – existenziell ergriffen – von wem er sprach. Der Islam scheint mir (in dem, was ich bislang von ihm weiss), deutlich verwandter mit dem von Paulus beschriebenen Judentum als mit dem Christentum. Mir hat sich bislang jedenfalls noch nicht erschlossen, worin seit Christus und dem, was das Evangelium über ihn sagt, die besondere spirituelle oder intellektuelle Herausforderung bestünde, vor die uns der Islam stellt. Die eigentliche herausfordernde Dimension ist aus meiner Sicht deshalb die politische. Aber die Frage nach dem Verhältnis von Glaubensgemeinschaft und Politik beantworten Christen und Muslime aus meiner Sicht sehr verschieden.

Das Christentum hat vor allem in der Zeit seit der Aufklärung und der Katholizismus in besonders ausdrücklicher Weise nach dem II. Vatikanischen Konzil sein Verhältnis zum Staat neu geklärt. Das politische Gemeinwesen ist seither gegenüber der Kirche weitgehend autonom und das ist recht so. Aber die Politik lässt im gelingenden Fall die Kirchen Partner im politischen Meinungs- und Willensbildungsprozess sein – und nicht selbst politisch Mächtige. Denn die geistliche Vollmacht Jesu ist eine andere als die politische Macht des Pilatus, dem er sich ausliefert. Selbst dann noch, wenn auch dem Pilatus seine Macht “von oben“ gegeben wurde (Joh 19,11)

Der Islam dagegen – auch in seinen nichtradikalen Ausprägungen – strebt nach meiner Kenntnis aus sich selbst nach geistlicher Hoheit auch über die politischen Angelegenheiten. Eine muslimische Theokratie wäre also eher folgerichtige Konsequenz dieser Ambitionen und nicht etwa ein unaufgeklärter Unfall, weil politische Macht auch zu den Zielen des Islam gehört. Und die innerreligiöse kritische Stellungnahme und Distanz zu politischer Macht, die in der christlichen Kultur mit der Person Jesu selbst Bestandteil des kritischen Verhältnisses von Staat und Kirche wurde und immer neu ist, hat es nach meiner Kenntnis in dieser starken Ausprägung im Islam nicht gegeben. Mohammed war selbst Anführer eines Kriegsheeres und weltlicher Herrscher, Christus nie.

Wenn dem so ist, muss das Christentum im Prozess politischer Willensbildung seine eigene Kraft aus anderen Quellen gewinnen als im primären Streben nach politischem oder öffentlichem Einfluss. Es kann sie nach meiner Einschätzung primär nur im Erringen geistlicher Identität und Autorität gewinnen. Das heisst: Im Mass, in dem Christen glaubwürdig leben und bezeugen, dass sie deshalb anders leben, weil sie zu Christus und zum Reich Gottes gehören, werden sie von selbst eine politische Grösse, mit der Staat und Kultur zu rechnen haben. Schwindet diese Identität aber, ist die Versuchung der Christen gross, sich an Einflusssphären anderer Art zu klammern und im politischen Prozess nur noch genau so und nicht mehr anders mitzuwirken, wie eben alle anderen auch: Im äusseren Streben nach Macht, Einfluss und öffentlicher Wahrnehmung. Das ist grundsätzlich nicht nur verkehrt, und es ist gut, wenn Christinnen und Christen auch darin kenntnisreich tätig sind. Aber es wird verkehrt, wenn es unser hauptsächlicher Weg ist, weil unsere eigentliche Kraftquelle zu versiegen scheint.

Schliesslich: Auch die Pegida-Debatte – und die mehr oder weniger christlichen Stellungnahmen dazu – weisen für mich einmal mehr darauf hin, dass diese Welt nichts mehr nötig hat als das Evangelium vom Reich und von Christus, der gestorben und auferstanden ist, damit alle Menschen wieder in dieses Reich finden. Dies ist der erste Schwerpunkt für mich als Bischof. Politik ist darüber hinaus nicht unwichtig, aber dennoch sekundär. Denn wenn auch Christinnen und Christen bei Pegida mitmarschieren, ist das möglicherweise für viele von ihnen in erster Linie die Artikulation einer Suche nach einer stabilen Identität, die sie durch ihre Kirche nicht mehr finden, weil sich ihnen der Zusammenhang zwischen Kirche und dem Eintritt in Gottes Reich kaum mehr erschliesst. Mein Schwerpunkt ist deshalb: Helfen, diesen Zusammenhang immer neu zu erschliessen – und damit Mithilfe am (Neu- oder Wieder-) Aufbau christlicher Identität. Wo dieser Aufbau sich neu ereignet und gelingt, gewinnt er von selbst auch Strahlkraft und Wirksamkeit hinein in die Sphäre der Politik und andere Felder gesellschaftlichen Zusammenlebens.

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