‘Die alternde Republik und das Versagen der Politik’
Keine Gesellschaft kommt dauerhaft ohne eigenen Nachwuchs aus
Der Demografie-Experte Herwig Birg stellt in Berlin sein jüngstes Buch vor und wirft darin der Politik “katastrophales Versagen” vor.
Von Michael Leh
Die Tagespost, 15. Dezember 2014
‘Die alternde Republik und das Versagen der Politik’, heisst das neue Werk des international renommierten Demografie-Experten Herwig Birg. Das Buch wurde jetzt im “Haus des Familienunternehmens” am Brandenburger Tor in Berlin vorgestellt. Unter Leitung des langjährigen “Tagespost-Autors” und Redakteurs des Deutschlandfunks Jürgen Liminski diskutierte der frühere sächsische Ministerpräsident Kurt Biedenkopf (CDU) mit dem Autor. Der 1939 im Banat geborene Birg ist Volkswirt und hatte von 1981 bis zu seiner Emeritierung 2004 den Lehrstuhl für Bevölkerungswissenschaft an der Universität Bielefeld inne. Biedenkopf hat sich seit Jahrzehnten auch intensiv mit der Bevölkerungsentwicklung, der steigenden Staatsverschuldung und der Sicherung der Sozialsysteme befasst. Einer seiner Buchtitel lautet: “Die Ausbeutung der Enkel”.
Zu Beginn überreichten die beiden Diskutanten einander kunstvoll gebundene Lob-Girlanden. So rühmte Birg Biedenkopf: “Was die Blaue Mauritius ist unter den Briefmarken, das ist für mich Kurt Biedenkopf unter den Politikern.” Biedenkopf wiederum lobte Birgs neuestes Werk: “Ich halte es für eines der wichtigsten Bücher” und erklärte: “Es gehört zu den wenigen Büchern, bei denen ich bedauere, dass nicht ich es geschrieben habe.”
Doch dann wurde auch Biedenkopf ernst: Vor allem führe Birg die Zusammenhänge vor Augen, die zu den gravierenden demografischen Veränderungen geführt haben und verdeutliche, wie sie sich bis in die gesellschaftlichen Verästelungen hinein auswirkten.
In Deutschland gibt es kaum noch universitäre Forschung auf dem Gebiet der Bevölkerungswissenschaft. Birgs früheres Institut für Bevölkerungsforschung und Sozialpolitik in Bielefeld wurde zeitgleich mit seiner Emeritierung aufgelöst. Eingespart wurden auch die beiden Lehrstühle für Bevölkerungssoziologie an der Universität Bamberg und der Berliner Humboldt-Universität. Dabei gab es in Deutschland ohnehin nur diese drei Lehrstühle auf dem Fachgebiet der Demografie – weniger als in vielen Entwicklungsländern, wie Birg schreibt. Diese Streichungen seien dabei nicht aus Finanzknappheit erfolgt. In derselben Zeit seien an den Universitäten in Bielefeld, Berlin sowie den meisten anderen deutschen Universitäten Dutzende von neuen Professuren für Frauenforschung und Gender-Studies geschaffen worden.
Wie Biedenkopf mitteilte, wurde er von Birg bereits vor Jahren über die desolate Lage der Bevölkerungswissenschaft unterrichtet. Auch deshalb habe er, Biedenkopf, sich im Senat der Max-Planck-Gesellschaft sehr dafür eingesetzt, dass ein Max-Planck-Institut für demografische Forschung errichtet wird. Dieses ist heute in Rostock ansässig. Biedenkopf hält es für möglich, dass die Grosse Koalition aufgrund der auch demografisch bedingten schwierigen Lage des Rentensystems noch gezwungen sein werde, die verfassungsrechtliche Schuldenbremse zu lockern. Es drohe immer mehr Altersarmut. Die Zahl der Aufstocker bei der Rente werde immer grösser. “Was ist das für eine blamable Situation?”, fragte Biedenkopf und zeigte sich überzeugt, “dass wir in absehbarer Zeit Millionen Menschen dazu zwingen, Auskunft darüber zu geben, dass sie im Grunde finanziell am Ende sind.”
Herwig Birg erläutert in seinem Werk auf wissenschaftlichem Niveau die Kernprobleme des demografischen Wandels. Er beschreibt dessen Auswirkungen unter anderem auf das Rentensystem sowie die gesetzliche Kranken- und Pflegeversicherung, behandelt Fragen der Generationengerechtigkeit, analysiert präzise die Probleme der Migration und Internationalisierung der Bevölkerung und erklärt die globalen demografischen Megatrends. Mit markanten Beispielen verdeutlicht er auch, wie ignorant in Deutschland mit der katastrophalen – von Wissenschaftlern präzis vorausberechneten – demografischen Krise umgegangen wird. Die Probleme würden von der Politik beschwiegen oder schöngeredet.
So habe die frühere Bundesministerin für Bildung und Forschung, Annette Schavan, das von ihr ausgerufene “Wissenschaftsjahr 2013” unter das Motto “Die demografische Chance” gestellt. Birg dazu ironisch: “Nach dieser Logik war das Flächenbombardement deutscher Städte im Zweiten Weltkrieg keine Katastrophe, sondern eine ‘Chance‘ für den Wiederaufbau.” Auch der frühere Bundespräsident Horst Köhler habe in der Abnahme der deutschen Bevölkerung irrigerweise noch etwas Gutes sehen wollen – etwa für die Umwelt.
Für Fehlvorstellungen in der Öffentlichkeit macht Birg zudem den Bestseller des verstorbenen FAZ-Herausgebers Frank Schirrmacher, “Das Methusalem-Komplott”, verantwortlich. Schirrmacher habe fälschlicherweise die Steigerung der Lebenserwartung als Hauptgrund für die Alterung der Gesellschaft identifiziert und so eine unrichtige Schwerpunktsetzung vorgenommen. Tatsächlich werde der Anstieg des Durchschnittsalters der Bevölkerung vor allem durch die extrem niedrige Geburtenrate in Deutschland verursacht. Dem Anstieg der Lebenserwartung komme demgegenüber nur eine vergleichsweise geringe Bedeutung zu.
Wie Birg erläutert, ist die Hauptursache des Geburtenrückgangs der hohe Anteil der lebenslang kinderlos bleibenden Bevölkerung. “Bei derjenigen Gruppe von Menschen”, schreibt er, “die überhaupt Kinder haben, liegt die Kinderzahl seit Jahrzehnten unverändert bei dem idealen Wert von durchschnittlich zwei Kindern je Frau, hier gibt es keine Probleme mit einer niedrigen Geburtenrate. Der Hauptgrund für die Bevölkerungsprobleme Deutschlands ist der im internationalen Vergleich extrem hohe und wachsende Anteil der Menschen mit einer Geburtenrate von Null.” Das Kernproblem bestehe nicht darin, dass die Menschen, die sich für Kinder entschieden hätten, zu wenig Kinder hätten, sondern darin, dass immer weniger Menschen den Schritt zur Elternschaft wagten und zeitlebens kinderlos blieben. In Deutschland sei beispielsweise der Frauenjahrgang 1970 zu einem Viertel kinderlos geblieben. Bei der grössten Personengruppe, den Frauen ohne Migrationserfahrung in den alten Bundesländern, sei der Anteil der Kinderlosen vom Jahrgang 1950 bis zum Jahrgang 1970 von 15,4 auf 30 Prozent gestiegen.
Die Bundesregierung lehne jedoch jede Politik zur Erhöhung der Geburtenrate wegen der Bevölkerungs- und Rassenpolitik in der Nazizeit ab. So habe etwa der frühere Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) auf einem Berliner Demografie-Forum jede Politik zur Erhöhung der Geburtenrate mit dem Argument kategorisch abgelehnt, dies sei “Bevölkerungspolitik“.
Deutschland entwickele sich unterdessen nicht zu einer multikulturellen Gesellschaft, sondern zu einer Multiminoritätengesellschaft. Die bisherige deutsche Mehrheitsgesellschaft werde immer öfter zu einer Minderheit unter anderen Minderheiten. Bei den unter 40-Jährigen habe die Gruppe der Zugewanderten in einigen Grossstädten die 50-Prozent-Schwelle erreicht. Dies sei nur aus der amtlichen Statistik nicht ohne weiteres erkennbar, weil hier unter anderem Doppelstaater nur als Deutsche ausgewiesen würden. Immer noch bestritten und tabuisiert würden die hohen finanziellen Belastungen der öffentlichen Haushalte durch bildungsferne Zuwanderer. “In Deutschland“, schreibt Birg, “werden nicht irgendwelche Einwanderer gebraucht, sondern gut ausgebildete, integrationsfähige und -willige Einwanderer.”
Die “Demografiestrategie” der Bundesregierung nennt er ein “drastisches Beispiel für eine verantwortungslose Untätigkeit” angesichts eines existenziellen Problems. Keine Gesellschaft komme auf Dauer ohne nachwachsende Generationen aus. Die Regierung ergreife nur gewisse Anpassungsmassnahmen. Deutschland brauche jedoch parallel eine “Stabilitätsstrategie” bezüglich der demografischen Entwicklung. Birg fordert unter anderem einen “Demografie-Check” bei Gesetzen. Geprüft werden müssten besonders die demografische Auswirkungen in der Familien-, Sozial-, Bildungs-, Gesundheits- und Wirtschaftspolitik. Ferner die Gesetze zur Zuwanderungs- und Integrationspolitik, der Regional- und Raumordnungspolitik einschliesslich der Stadtplanung.
Birg schlägt verschiedene Massnahmen für eine nachhaltige Demografiepolitik vor. Zum Beispiel müsse die vom Bundesverfassungsgericht schon 2001 gerügte Benachteiligung von Familien bei den Beiträgen zur Pflegeversicherung beendet werden. Die Politik habe die Entscheidung des Gerichts nicht beziehungsweise nicht ausreichend umgesetzt. Birg spricht ferner von einer “interregionalen demografischen Ausbeutung“, weil Landeshauptstädte, Oberzentren und Metropolregionen von den Zuzügen junger, gut ausgebildeter Menschen aus ländlichen oder peripheren Regionen Deutschlands profitierten. Deshalb müsse der Finanzausgleich neu konzipiert und dabei demographische Indikatoren berücksichtigt werden. Birg plädiert ausserdem dafür, Eltern bei der Vergabe von Arbeitsplätzen im Falle gleich qualifizierter Bewerber zu bevorzugen. Ein solcher “Vorrang für Eltern” sei freilich rechtlich nicht erzwingbar. Erfolgversprechender wäre laut Birg eine freiwillige Selbstverpflichtung der Unternehmen, besonders der Arbeitgeber im öffentlichen Dienst.
Ferner spricht sich Birg dafür aus, zusätzlich zu den existierenden Frauenquoten auch Mütterquoten einzuführen, um der Doppelbelastung durch Familien- und Erwerbsarbeit Rechnung zu tragen. Ob dies durchführbar sei, fragte Moderator Liminski Kurt Biedenkopf. Dieser antwortete: “Wenn der Gedanke ausführlich diskutiert wird, dann kann ich mir sehr gut vorstellen, dass sich so etwas entwickelt, aber nicht per Gesetz.”
Birg spricht auch kurz mit einem Zitat von Paul Kirchhof den Gedanken eines Familienwahlrechts an, also eines aktiven Wahlrechts durch die Eltern für noch nicht wahlberechtigte Kinder.
Bei der Migrationspolitik sollten laut Birg zwei getrennte Einwanderungskontingente unterschieden werden. Und zwar erstens humanitär begründete Einwanderungen im Rahmen der Asyl- und Flüchtlingspolitik ohne Auswahl der Personen nach ökonomischen Kriterien. Zweitens Einwanderungen gemäss wirtschaftlicher Interessen Deutschlands. “Über die Höhe der beiden Kontingente müsste das Parlament in namentlicher Abstimmung alle zwei Jahre entscheiden”, so Birg. Dabei sollten die beiden Kontingente prinzipiell “nicht gegeneinander ausgespielt oder aufgerechnet” werden dürfen. Hierzu ist klarstellend anzumerken, dass es insbesondere im Rahmen des geltenden Asylrechts, das einen individuellen Anspruch verbürgt, keine rechtlich festgeschriebene Kontingentierung geben kann.
Herwig Birg: Die alternde Republik und das Versagen der Politik. Eine demografische Prognose. Lit Verlag, Berlin-Münster 2014. 256 Seiten, gebunden. EUR 34,90.
Schreibe einen Kommentar