Gottes Gebote und seine Barmherzigkeit

Fünf Kardinäle und vier weitere Wissenschaftler antworten Kardinal Walter Kasper

Reconciliatio et Pentaentiae

Von Martin Grichting

Die Tagespost, 02. Oktober 2014

Der Vorschlag von Kardinal Kasper berührt nicht allein das katholische Eheverständnis.

Zahlreich sind derzeit die Herausforderungen der Familie im Kontext der Neuevangelisierung. Die am Sonntag beginnende Bischofssynode soll sich ihrer annehmen. Eine Vielzahl von Ressourcen hat im Vorfeld leider eine von Kardinal Walter Kasper angestossene Debatte gebunden. Sein anlässlich des Konsistoriums vom vergangenen Februar gemachter Vorschlag, zivilrechtlich Wiederverheiratete unter gewissen Bedingungen zu den Sakramenten der Busse und der Eucharistie zuzulassen, hat zu einer Fülle von Publikationen geführt. Vordringliche Fragestellungen betreffend die heutige Familie sind dadurch in den Hintergrund gerückt worden.

Auch das Sammelwerk “In der Wahrheit Christi bleiben: Ehe und Kommunion in der katholischen Kirche” ist ein Teil dieser von Kardinal Kasper begonnenen Debatte. Der Herausgeber des Werkes ist Pater Robert Dodaro OSA, Präses des Patristischen Instituts “Augustinianum” in Rom. Er gibt unumwunden zu, dass der Sammelband, welcher Beiträge von fünf Kardinälen und vier weiteren Wissenschaftlern enthält, als “Reaktion“ zu verstehen sei auf Kaspers inzwischen unter dem Titel “Das Evangelium von der Familie“ erschienene Rede vor der Kardinalsversammlung. Und sein einführender Beitrag gipfelt in dem lapidaren Satz: “Die Barmherzigkeit Gottes dispensiert uns nicht davon, seine Gebote zu befolgen”.

Begrenzte Aussagekraft exegetischer Deutungen

Das im Echter-Verlag (Würzburg) erschienene Werk beleuchtet Kardinal Kaspers These aus verschiedenen Blickwinkeln. So werden zuerst die biblischen Aussagen zu Ehescheidung und Wiederheirat untersucht. Diesen Part übernimmt der am Institut “Lumen Christi” in Chicago tätige Jesuit Paul Mankowski. Einmal mehr zeigt sich hierbei, wie begrenzt die Aussagekraft exegetischer Deutungen ist. So interpretiert er die berühmte Unzuchtsklausel (“porneia“; Mt 5, 32 und 19, 9) im Sinne des Inzests oder der Polygamie, was im Panoptikum der diesbezüglichen Meinungen nur eine der möglichen Hypothesen darstellt.

Die nicht nur hier offenbar werdende Ratlosigkeit, mit der die Exegeten die Gläubigen bisweilen zurücklassen, führt wie von selbst dazu, zur kirchlichen Tradition als der wahren Auslegerin der biblischen Wahrheit Zuflucht zu nehmen. Diesem Aspekt wird im Buch breiter Raum gegeben. Der emeritierte Professor für klassische Wissenschaften und Philosophie der Universität von Toronto, John M. Rist, geht das Thema als erster an, indem er sich mit den von Kardinal Kasper herangezogenen Primär- und Sekundärquellen aus der Zeit der Frühkirche auseinandersetzt. Er zeigt, dass sich Kasper auf einen einzigen abseitigen Gewährsmann (G. Cereti) verlassen hat, dessen Thesen von den beiden Jesuiten Henri Crouzel und Gilles Pelland falsifiziert worden sind und denen Cereti bis heute eine Antwort schuldig geblieben ist. Rists Ausführungen ist zu entnehmen, dass es in den ersten Jahrhunderten seitens einzelner Bischöfe die Praxis gegeben hat, zu Lebzeiten des Ehepartners eine zweite Eheschliessung zu erlauben. Diese Fälle bleiben jedoch in Unkenntnis der Umstände im Dunkeln. Und sie sind verbunden mit damaligem staatlichen Recht und heidnischen Vorstellungen, welche Scheidung und Wiederheirat erlaubt haben. Diesen seltenen Fällen steht bis ins fünfte Jahrhundert ein breiter Strom kohärenter kirchlicher Entscheidungen und Aussagen von Kirchenvätern gegenüber. Deshalb kritisiert Rist den methodischen Kniff, wenige und darüber hinaus dunkle Quellenaussagen in ihrer Bedeutung aufzublasen und sie – falls sie dann doch nicht überzeugen – wenigstens als mögliche Alternative zur kirchlichen Lehre zu postulieren.

Kardinal Walter Brandmüller führt Rists Ausführungen auf der Zeitachse weiter, indem er die kirchliche Haltung betreffend Scheidung und Wiederheirat vom Frühmittelalter bis zum Konzil von Trient beleuchtet. Dabei wählt er nicht den Weg, die zahlreichen Quellen einzeln abzuarbeiten. Sondern er exemplifiziert das Aufeinandertreffen von christlichem Glauben und germanischen Rechts- und Lebensgewohnheiten am Beispiel Königs Lothars II., dessen Ehe mit Theutberga (860–869) und dem konsequenten Einstehen für die Unauflöslichkeit der Ehe durch den damaligen Papst Nikolaus I. (858–867). Brandmüller zeigt, dass es der Kirche bis zum Jahr 1000 im wesentlichen gelang, dem Gebot des Herrn betreffend die Unmöglichkeit der Wiederheirat Geltung zu verschaffen, auch wenn es danach noch zu abweichendem Verhalten einzelner Bischöfe oder politisch instrumentalisierter Synoden gekommen ist. Den Schlussstein der Entwicklung stellt das Konzil von Florenz dar, welches 1439 gelehrt hat: “Obwohl man auf Grund von Unzucht eine Trennung des Bettes vornehmen darf, ist es dennoch nicht erlaubt, eine andere Ehe zu schliessen, da das Band einer rechtmässig geschlossenen Ehe immerwährend ist”.

Brandmüller folgt Rist auch methodisch, indem er die “Geschichte als theologischen Ort” untersucht. Kirchliche Überlieferung sei keine “Antiquitätenmesse”, auf der man bestimmte begehrte Dinge aussuchen könne. Sie sei ein dynamischer Prozess organischer Entfaltung, der es verbiete, willkürlich auf Vergangenes zurückzugreifen. Dieses kirchliche Traditionsverständnis habe nichts mit einer Geschichtsschreibung durch den Sieger zu tun, die widersprechende “Traditionen“ unterdrückt habe. Vielmehr sei es Ausdruck des Glaubens an das immerwährende Wirken des Heiligen Geistes, der die kirchliche Identität durch allen historischen Wandel hindurch gewährleiste und bewirke. Deshalb sei die kirchliche Lehrentwicklung “unumkehrbar und nur in Richtung auf vollkommenere Erkenntnis offen“.

Von besonderem Interesse sind die Ausführungen von Erzbischof Cyril Vasil’ SJ, des Sekretärs der Kongregation für die Orientalischen Kirchen. Er beschreibt die Entstehung der Theorie der “Oikonomia“ in den orthodoxen Kirchen und deren konkrete Anwendung. Erzbischof Vasil’ weist darauf hin, dass das römische Recht Scheidungsgründe kannte, welche die christlichen Kaiser in die zivile Gesetzgebung übernahmen. Dies blieb aber staatliches Recht, dem sich die Kirche nicht unterworfen hat. Mit der zunehmenden Entfremdung vom Apostolischen Stuhl ging dann im Osten die Verstaatlichung der Kirche einher. Im Zuge dieser Entwicklung begann eine Verschmelzung des staatlichen und des kirchlichen Eherechts. Dadurch kam es zur Anerkennung von Scheidung und Wiederheirat nunmehr durch die Kirche: Im Jahr 883 wurden unter dem Patriarchen Photios erstmals Scheidungsgründe von der Kirche anerkannt, die bisher nur der staatlichen Gesetzgebung angehört hatten. Dieser Prozess setzte sich später in der russischen Orthodoxie fort, wo weitere Scheidungsgründe wie etwa die Unfruchtbarkeit der Frau oder die schwere Krankheit anerkannt wurden.

Im Verlauf der Jahrhunderte änderten die anerkannten Scheidungsgründe, die eine Wiederheirat erlaubten, aufgrund von politischen oder kirchenpolitischen Umständen mehrfach. Mittlerweile gelten in der russisch-orthodoxen Kirche auch AIDS und Alkohol- sowie Drogensucht als Scheidungsgründe. Inwieweit die “zulässigen“ Scheidungsgründe im konkreten Fall überhaupt eine Rolle spielen, lässt sich oft nicht sagen, da die entsprechenden kirchlichen Scheidungsdokumente darüber keinen Aufschluss geben.

Auch in der griechisch-orthodoxen Kirche variierten im Verlauf des zweiten Jahrtausends die Scheidungsgründe erheblich und sind nicht mit dem Katalog der russisch-orthodoxen Kirche identisch. Faktisch heissen viele orthodoxe Kirchen heute die staatlicherseits vorgenommene Scheidung offen oder verschleiert gut, und dies, obwohl an der grundsätzlichen Unauflöslichkeit der Ehe festgehalten wird und die Scheidung sowie die Wiederheirat nach wie vor offiziell als Ausnahmen betrachtet werden. Auch die Unterscheidung zwischen dem “schuldigen“ und dem “unschuldigen“ Partner spielt in der Praxis vieler orthodoxen Kirchen betreffend die Wiederheirat kaum noch eine Rolle. Aufgrund dieses niederschmetternden Befunds lehnt es Erzbischof Vasi’ ab, dass die katholische Kirche ins Alte Testament zurückfallen und wegen der “Herzenshärte“ des heutigen Menschen das klare Gebot des Herrn betreffend die Ehe aufweichen solle. Und ein Schelm wäre, wer behaupten würde, bei der von Kardinal Kasper nur für wenige Härtefälle geforderten Erlaubnis des Zugangs zur Eucharistie würde es in fernerer Zukunft tatsächlich bleiben.

Auf die Besprechung des von Gerhard Ludwig Kardinal Müller verfassten Beitrags kann an dieser Stelle verzichtet werden – nicht weil er kein Gewicht hätte, sondern weil er bereits am 15. Juni 2013 in dieser Zeitung sowie einige Monate später im “Osservatore Romano“ publiziert worden ist. Seine theologisch profunde und aufgrund seines Amtes als Präfekt der Glaubenskongregation auch autoritative Stellungnahme gibt dem ganzen Werk ein besonderes Gewicht. Erinnert sei immerhin an einen Kernsatz Müllers, der in der Auseinandersetzung mit der These Kardinal Kaspers von besonderer Bedeutung ist: “Die ganze sakramentale Ordnung ist ein Werk göttlicher Barmherzigkeit und kann nicht mit Berufung auf dieselbe aufgehoben werden.”

Der mit dem Päpstlichen Familieninstitut verbundene Kardinal Carlo Caffarra, Erzbischof von Bologna, erinnert daran, dass die Ausübung der Sexualität nur innerhalb der Ehe des Menschen würdig ist. Nicht nur der “Ehebruch als Akt“, sondern auch der “Ehebruch als Lebensstand“ könne durch Gottes Barmherzigkeit vergeben werden. Die göttliche Vergebung sei jedoch in die “Sinfonie der Wahrheit“ eingebettet. Deshalb betont Caffarra, dass zur Definition der zur Vergebung führenden Reue gemäss dem Konzil von Trient der Vorsatz gehöre, nicht wieder zu sündigen. Im vorliegenden Zusammenhang müsse die Reue also darin bestehen, einen “ehebrecherischen Lebensstand“ aufzugeben. Über einen Weg der Busse zu sprechen, der diese Entscheidung nicht fordere, sei deshalb widersprüchlich: “Nach dem Weg der Busse bin ich berechtigt, in dem Lebensstand zu bleiben, den ich bereue!”. Wenn man im übrigen behaupte, dass es Situationen gebe, in denen es nicht möglich sei, den Vorsatz, nicht mehr zu sündigen, zu leben, so würde dies bedeuten, dass das menschliche Böse stärker sei als die erlösende Gnade Christi.

Abschliessend ergreifen zwei herausragende Kanonisten im Kardinalsrang, Velasio De Paolis und Raymond Burke, das Wort. Ersterer liefert eine lectio magistralis zur Fragestellung der Zulassung zur Kommunion von zivilrechtlich Wiederverheirateten. Er kommt zum Schluss, man könne für Kaspers These “nicht einmal den Anschein eines überzeugenden Arguments” finden. Zudem verweist er darauf, dass es im Falle der zivilrechtlich Wiederverheirateten nicht um einen Mittelweg zwischen Laxismus und Rigorismus gehe, sondern um eine Situation, die “in schwerwiegendem, fortdauernden Widerspruch zum göttlichen Gesetz der Heiligkeit der Ehe steht”. Der Vorschlag von Kasper bedeute “eine Legitimierung der Situation selber, die in sich schlecht ist und die in keinem Falle gut und annehmbar sein kann”.

Raymond Kardinal Burke, Präfekt des Obersten Gerichtshofs der Apostolischen Signatur, verteidigt in seinem abschliessenden Beitrag das Ehenichtigkeitsverfahren als Mittel der Wahrheitssuche. Dem Argument, lediglich eine Gerichtsinstanz werde in Zukunft für die Nichtigerklärung ausreichend sein, wenn diese gut arbeite, entgegnet Burke, das Ratifizierungsdekret einer zweiten Instanz benötige nicht viel Zeit, wenn die erste Instanz gut gearbeitet habe. Fehle die zweite Instanz, drohe Nachlässigkeit. Dies habe sich in den Jahren 1971 bis 1983 in den USA gezeigt, wo das Erfordernis der zweiten Instanz unter gewissen Bedingungen nicht bestanden habe. Nicht ohne Grund habe man deshalb in den Vereinigten Staaten begonnen, von “katholischer Scheidung” zu sprechen.

Für weiterführendes Nachdenken ist dem Werk ein 54 Seiten umfassender Anhang beigegeben, welcher jeweils lateinisch und deutsch einschlägige Quellen des kirchlichen Lehramts dokumentiert. Bedauerlicherweise fehlt einzig Nr. 34 aus dem 1984 publizierten Nachsynodalen Apostolischen Schreiben “Reconciliatio et Paenitentiae” des heiligen Papstes Johannes Paul II. Darin hatte er die von Kardinal Kasper aufgebrachte Frage nach der Barmherzigkeit bereits umsichtig beantwortet. Der Papst betonte zwar einerseits die Bedeutung der Barmherzigkeit, die das geknickte Rohr nicht bricht, sondern immer bemüht ist, dem Sünder den Weg zurück zu Gott zu weisen.

Die bestmögliche Antwort gab Johannes Paul II.

Der heilige Papst erinnerte jedoch anderseits an den Grundsatz der Wahrheit, “aufgrund dessen die Kirche es nicht duldet, gut zu nennen, was böse ist, und böse, was gut ist”. Barmherzigkeit und Wahrheit seien zwei Grundsätze, “die zusammen gelten, gleich wichtig sind und sich gegenseitig bedingen“. Das gelte auch für Menschen wie die zivilrechtlich Wiederverheirateten, die durch eine freiwillig gewählte Lebensentscheidung daran gehindert seien, am sakramentalen Leben teilzunehmen. Der Papst betonte sodann, dass solche Menschen nicht von der Barmherzigkeit Gottes ausgeschlossen seien. Nur lud er sie – im Gegensatz zu Kardinal Kasper – dazu ein, “sich auf anderen Wegen der Barmherzigkeit Gottes zu nähern, jedoch nicht auf dem Weg der Sakramente der Busse und der Eucharistie, solange sie die erforderlichen Voraussetzungen noch nicht erfüllt haben”. Diese Wege seien: das aufrichtige Bemühen um Verbundenheit mit dem Herrn, die Teilnahme an der heiligen Messe sowie die häufige Erneuerung von möglichst vollkommenen Akten des Glaubens, der Hoffnung, der Liebe und der Reue. So werde der Weg bereitet “zur vollen Versöhnung in einer Stunde, die nur der göttlichen Vorsehung bekannt ist”. Damit wurde wohl schon vor dreissig Jahren die bestmögliche Antwort auf die These von Kardinal Kasper gegeben.

Der Verfasser ist Generalvikar des Bistums Chur.

P. Robert Dodaro OSA (Hrsg.): “In der Wahrheit Christi bleiben”: Ehe und Kommunion in der katholischen Kirche, Echter-Verlag, Würzburg 2014, 244 Seiten, ISBN 978-3-429-03783-3, EUR 19,90

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