Der andere 11. September

Oft vergessen, doch voll von historischer Bedeutung

Csilla Freifrau von BoeselagerDer Engel von Budapest
Heute vor 25 Jahren
60 Jahre Malteser Hilfsdienst

Die Tagespost, 08. September 2014, Von Joachim Jauer

Die ungarische Grenzöffnung für DDR-Flüchtlinge vor 25 Jahren. Nicht nur die Politiker in Ost und West agierten damals überraschend grosszügig, auch der Malteser Hilfsdienst lief dank einer Frau zu grosser Form auf.

Ein Herz für Osteuropa und die Menschen dort: Csilla Freifrau von Boeselager.

Es gibt Daten, die im Gedächtnis der Menschen fest verankert sind. Tage, an denen unsere Welt verändert wurde. Ein solcher Tag ist der 11. September. Würde man heute in Deutschland eine Umfrage machen, was denn an diesem 11. September unsere Welt so sehr verändert hat, bekäme man eindeutige Antworten. Etwa: “11. September, das ist doch der Tag, an dem islamistische Terroristen mit Flugzeugen in die beiden Türme des World Trade Centers gerast sind.” Oder: “11. September, auch als Nine Eleven bekannt, damals ermordete Al-Kaida 3 000 Menschen.” Oder: “Ganz klar, New York, Flugzeugattentate, es folgte Präsident Bushs Krieg gegen Irak. Hat unsere Welt verändert.”

Es gibt aber einen anderen 11. September, den 11. September 1989, der die Welt direkt vor unserer Tür noch entscheidender verändert, ja sogar erneuert hat. An diesem Tag im Jahr des Zusammenbruchs der kommunistischen Regimes in Ost-Europa gab Ungarn die Grenze nach Österreich für zehntausende DDR-Bürger frei. Diese Flüchtlinge waren die Speerspitze der ostdeutschen Revolution, die Mutmacher für die daheimgebliebenen Demonstranten zwischen Leipzig und Ost-Berlin. Doch dieser Tag ist in den Jahren seit 1989 in der deutschen Erinnerungskultur meist übersehen oder gar vergessen worden.

Dabei beschreibt der 11. September 1989 wie kaum ein anderes Datum das Trauma von vierzig Jahren SED-Diktatur: Weggehen oder Dableiben, Flüchten oder Standhalten. Die einen – etwa drei Millionen Menschen – hielten Mangelwirtschaft, parteiliche Bevormundung und Stasi-Schnüffelei nicht mehr aus und gingen, oft genug mit hohem Risiko, in den Westen. Die anderen konnten oder wollten ihre Heimat, ihre Lieben, ihre Verantwortung für andere Menschen nicht verlassen. Vielleicht hat das Vergessen damit zu tun, dass die Deutschen seit dem Fall der Berliner Mauer – nur zwei Monate nach jenem 11. September – ganz überwiegend mit ihrer wieder errungenen Freiheit und später auch Einheit beschäftigt waren und so die sensationelle Grenzöffnung der Ungarn in den Hintergrund trat.

Mitsamt seiner Vorgeschichte. Denn bereits im März 1989 hatte Ungarn als erster und einziger Ostblockstaat die Flüchtlingskonvention der Vereinten Nationen unterzeichnet. Die Budapester Reformkommunisten taten dies mit Blick auf tausende ungarnstämmige Flüchtlinge, die aus dem rumänischen Siebenbürgen über die grüne Grenze geflohen waren. Der rumänische Diktator Nicolae Ceausescu hatte die ungarische Minderheit in seinem Land terrorisiert. Das sich reformierende Ungarn war für die Verfolgten aus Rumänien nicht nur geographisch “Westen”. Niemand konnte damals ahnen, dass wenige Monate später zehntausende DDR-Bürger von dieser Unterschrift unter der UN-Flüchtlingskonvention profitieren würden.

Ungarn hatte, wie alle anderen sogenannten Bruderstaaten, seit Jahren einen bilateralen Vertrag mit der DDR, der das Land verpflichtete, Fluchtwillige an die Staatssicherheit auszuliefern. Die UN-Konvention aber verlangte das Gegenteil: Flüchtlinge müssen geschützt, ihnen muss geholfen werden und keinesfalls dürfen sie gegen ihren Willen abgeschoben werden. Der multilaterale Vertrag mit der Völkergemeinschaft überwölbte staatsrechtlich den bilateralen mit der DDR.

Der Unterschrift unter die Flüchtlingskonvention folgte ein weiterer historischer Schritt der damals noch zum Warschauer Pakt gehörenden “Ungarischen Volksrepublik“. Ministerpräsident Miklós Németh hatte sein Amt im November 1988 angetreten. Als erste Amtshandlung habe er sich das Staatsbudget vorlegen lassen, berichtet er. Das Land war hoch verschuldet, es musste gespart werden. Einer der ersten Etatposten verlangte rund 250 Millionen Dollar für die Restaurierung der verrotteten Grenzanlagen zu Österreich, “Eiserner Vorhang“ genannt. Ex-Premier Németh nahm den Rotstift und strich den Betrag. Einige Monate später, am 2. Mai 1989, befahl er den ungarischen Grenztruppen den Abbau der Sperranlagen. Ungarn öffnete sich dem freien Europa.

Als junger Mann hatte ich in Berlin erlebt, wie am 13. August 1961 mit dem Mauerbau das letzte Schlupfloch in dem “Eisernen Vorhang” geschlossen wurde. Diese hermetische Abriegelung des von Moskau beherrschten Teils Europas reichte von der Ostsee bis zur Adria und bedeutete tödliches Risiko für jeden, der sie zu überwinden versuchte. Nun stand ich im Todesstreifen der Grenzanlagen beim ungarischen Grenzort Hegyeshalom und sah, wie ungarische Grenzsoldaten mit grossen Bolzenschneidern den rostigen Drahtverhau durchschnitten: Das erste Schlupfloch im “Eisernen Vorhang” seit dem Berliner Mauerbau. Das würde unabsehbare Folgen auch für die DDR haben. Und tatsächlich registrierte die Staatssicherheit im Frühsommer 1989 eine explosionsartig ansteigende Zahl von Reiseanträgen nach Ungarn.

Und noch ein symbolisches Datum: Am Sonntag, dem 13. August 1961, begann die SED unter Leitung Erich Honeckers mit dem Mauerbau. 28 Jahre später war der 13. August ebenfalls ein Sonntag. In Budapest trugen etwa 50 Demonstranten Stücke der Berliner Mauer aus Pappe und zerrissen sie dann: Mauerfall symbolisch. Ein DDR-Teilnehmer der Demonstration stellte fest, dass Budapest eigentlich der falsche Ort sei, aber ein derartiger Protest sei in der DDR nicht möglich. Ihm antwortete ein Ungar: “Ihr könnt eure Herrschenden wirksam nur im eigenen Land bekämpfen.”

Am Nachmittag des 13. August 1989 wurde am Gittertor der Deutschen Botschaft in Budapest ein Schild angebracht: “Die Botschaft und das Konsulat sind vorübergehend geschlossen“. Denn über 120 Flüchtlinge hielten seit Anfang August 1989 das Botschaftsgebäude besetzt. Die Bonner Vertretung war nicht mehr arbeitsfähig. In der Stadt übernachteten Hunderte meist junge DDR-Bürger in ihren Trabis, auf Parkbänken oder einfach in Schlafsäcken auf der Strasse. Am gleichen Sonntagnachmittag berieten in der Budapester Residenz eines bundesdeutschen Diplomaten zwei hochrangige Abgesandte des Bonner Aussenministers Genscher, wie man der unübersehbaren Menge von DDR-Bürgern in Ungarn Hilfe leisten könnte. Sie trafen dort die ungarisch-deutsche Malteserfrau Csilla von Boeselager, die gerade wieder einen ihrer zahlreichen Hilfstransporte für bedürftige Ungarn nach Budapest gebracht hatte. Der Einsatz der beiden Bonner Abgesandten erklärte sich aus dem deutschen Grundgesetz. Der Verfassung zufolge gab es nur eine deutsche Staatsbürgerschaft, mithin waren DDR-Bürger auch Deutsche im Sinne des Grundgesetzes. Und für diese Deutschen im Ausland Ungarn trug Bonn demnach auch Verantwortung.

Csilla von Boeselager bot den Herren des Bonner Krisenstabs ihre Unterstützung an. In ihrem Tagebuch schreibt sie: “Ich setzte mich zu ihnen und sagte: Sie wissen nicht, wohin mit den Flüchtlingen. Ich weiss, wo wir sie unterbringen können. Kein Problem, wir Malteser werden das lösen. Einerseits werden Familien aus der Pfarrgemeinde Zugliget Flüchtlinge aufnehmen und andererseits gibt es einen grossen Garten bei der Kirche, wo man Zelte aufschlagen kann. Ich rufe sofort den Katastrophendienst des Malteser Hilfsdienstes in Deutschland an.“

Am Tor zum Kirchgarten befestigte sie gemeinsam mit dem Pfarrer der Gemeinde “Zur heiligen Familie” ein Schild: Magyar Máltai Szeretetszolgálat – Ungarischer Malteser Caritasdienst. Damit war das Kirchengelände eine Art exterritoriales Gebiet, denn die Malteser sind bei den Vereinten Nationen akkreditiertes, nichtstaatliches Völkerrechtssubjekt. Am Nachmittag des 14. August war der Kirchgarten voll mit nahezu 800 Flüchtlingen. Im Verlauf der nächsten vier Wochen registrierten die Malteser Tausende von Fluchtwilligen und leiteten sie an andere Lager weiter. Drei Tage später trafen Malteser-Hilfszüge aus Paderborn, München und Essen mit dem Malteser-Katastrophenschützer Wolfgang Wagner und allem Notwendigen in Zugliget ein. Etwa 140 Malteser nahmen spontan ihren Jahresurlaub und kamen aus allen Teilen der Bundesrepublik und auch aus Österreich nach Budapest. Csilla von Boeselager wollte mit ihrer Hilfsaktion nicht “Weltpolitik” machen, sondern setzte sich dem Motto der Malteser zufolge: “Bezeugung des Glaubens und Hilfe den Bedürftigen” für die zahllosen Flüchtlinge ein. Sie hat der anonymen Menge von Fluchtwilligen ein politisches Gesicht gegeben und Budapest, Bonn und auch Moskau zum Handeln veranlasst.

Am 25. August reiste Ungarns Ministerpräsident Miklós Németh, ein charismatischer Reformer, mit Aussenminister Gyula Horn nach Bonn. Er traf Bundeskanzler Kohl auf Schloss Gymnich. Németh berichtet: “Dort eröffnete ich Kohl, dass wir für die mehr als hunderttausend DDR-Flüchtlinge in Ungarn im September die Grenze nach Österreich öffnen wollen. Daraufhin kamen diesem Koloss von Mann die Tränen. Er fragte mich mindestens dreimal, was Gorbatschow dazu sage. “Nichts“, so meine Antwort. Und er fragte mich auch, welche Gegenleistung wir erwarten. Darauf antwortete ich, dass wir keine Menschen verkaufen”.

Das war eine Anspielung auf den rumänischen Diktator Nicolae Ceausescu, der für die auswanderungswilligen deutschstämmigen Rumänen von Deutschland ein Kopfgeld verlangte. Németh sagte, er habe diese Entscheidung aus moralischen und humanitären Gründen getroffen. Zwei Wochen später, in der Nacht vom 10. auf den 11. September, also Punkt Mitternacht, gab Ungarn dann tatsächlich die Grenze nach Österreich für alle DDR-Bürger ohne weitere Kontrollen frei. Der Exodus von Zehntausenden begann. Die Daheimgebliebenen in Leipzig riefen in diesen Septembertagen noch nicht: “Wir sind das Volk“, sondern “Wir bleiben hier“, das trotzige Echo auf die Masse der Flüchtlinge. Die SED konnte das Tabu-Thema “Ausreise“ nicht mehr unter der Decke halten. In den meisten Betrieben, Schulen, Kaufhallen, Arztpraxen fehlten nach den Sommerferien Menschen. Erich Honecker heizte die Stimmung der “Verlassenen“ mit seinem zynischen Satz: “Wir weinen ihnen keine Träne nach” weiter an. Denn die Zurückgebliebenen mussten damit rechnen, ihre Lieben, die in den Westen gegangen waren, auf lange Zeit nicht mehr wiederzusehen. Sie konnten ja nicht ahnen, dass nur zwei Monate später die Mauer fiel.

Der historische Einsatz der Malteser mit Csilla von Boeselager und dem mutigen Priester Imre Kozma, der dann zum 11. September führte, wird in der deutschen Geschichtsbetrachtung meist übersehen. Man erinnert eher an die Massenflucht anlässlich des sogenannten Pan-Europa-Picknicks bei Sopron, wohl wegen der spektakulären Fernsehbilder. Oder an den Auftritt von Bundesaussenminister Genscher auf dem Balkon der Deutschen Botschaft in Prag vor viertausend Flüchtlingen am 30. September. Hier sei daran erinnert, dass Csilla von Boeselager bereits zwanzig Tage zuvor den vierzigtausend Flüchtlingen, die sich in Ungarn aufhielten, die befreiende Botschaft überbrachte: “Die Bürger der DDR können mit ihren Pässen das Land verlassen.”

Der Autor war als ZDF-Korrespondent in der DDR und Osteuropa tätig.

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