Religion im Fokus der Politik
Jahrzehntelang gab sich die westliche, und damit die internationale Politik der Illusion hin, Religion spiele keine weltpolitische Rolle mehr
So ignorierte man die systematische Christenverfolgung durch die kommunistischen Regime ebenso wie die Diskriminierung der Christen in vielen islamischen Staaten. Man übersah so aber auch eine Ideologisierung innerhalb des Islam, die 1978 im Iran die schiitische und ab 1980 mit dem Afghanistan-Krieg zunehmend die sunnitische Welt erfasste. Im Gegensatz zu früheren, frommen Erneuerungsbewegungen geht es heutigen islamistischen Ideologen nicht darum, aus lauen Muslimen gottesfürchtige Muslime zu machen. Es geht ihnen auch nicht um ein Anknüpfen an die theologische und kulturelle Blüte des Islam. Wahhabiten, Taliban, arabische Salafisten, ISIS-Fanatiker und nigerianische Boko Haram-Terroristen benutzen den Islam als Waffe, um ideologische, soziale und religiöse Homogenität zu erzwingen. Ihr Hass richtet sich nicht bloss auf die Ungläubigen sowie auf Christen und Juden, sondern ebenso auf jene Muslime, die den Islam anders verstehen, interpretieren und leben.
Nichts dient diesen Ideologen propagandistisch, psychologisch und politisch mehr, als wenn Islamkritiker diese Primitiv- und Brachialversionen des Islam zum wahren Islam erklären. Nichts schadet ihnen mehr als die Distanzierung hoher islamischer Autoritäten. Und die gibt es tatsächlich: Der Generalsekretär der “Organisation für Islamische Zusammenarbeit” (OIC), einer Plattform von 56 islamischen Staaten, verurteilte die Vertreibung der Christen aus Mossul durch die ISIS-Terroristen, wie er vor drei Monaten die Entführungen von Schulmädchen durch Boko Haram verurteilt hatte. In beiden öffentlichen Erklärungen argumentierte die OIC nicht politisch, sondern religiös: unter Berufung auf den Islam. Die ideologischen Fieberschübe, die die islamische Welt immer stärker erfassen, töten Christen wie Muslime, Säkulare wie Fromme. Sie sind zur Bedrohung für die auf die Apostel zurückreichende Präsenz der Christen im Orient geworden, aber auch zu einer Bedrohung für den Frieden vieler Gesellschaften und die Existenz etlicher Staaten.
Darum ist Religion heute ein Megathema der Weltpolitik: Rätselhafter, gefährlicher, bedrohlicher denn je. Dem weitgehend säkularisierten Westen dämmert nun langsam, dass eine rein pragmatische, an puren Interessen orientierte Aussenpolitik kläglich gescheitert ist, dass ohne ein differenziertes Wissen um die Religionen und ihre Wirkungsgeschichte keine zielführende Aussenpolitik mehr gemacht werden kann. Die Europäische Union machte nach den Anschlägen auf koptische Kirchen Anfang 2011 die Religionsfreiheit zu einem Leitmotiv ihrer Aussen- und Aussenhandelspolitik.
Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen wachte nun am Montag, angesichts der Christenvertreibung aus Mossul, endlich auf. In beiden Fällen wurde das Leiden der Christen in den Ländern der Bibel zum Fanal, das die westliche Welt aus ihrem säkularistischen Tiefschlaf schreckte. Diesem Erwachen und dem allgemeinen Entsetzen muss aber eine aussenpolitische Konsequenz folgen. Wenn es jetzt nicht zu praktischen Allianzen aller Kräfte kommt, die die Menschenrechte einschliesslich der Religionsfreiheit gemeinsam zu verteidigen bereit sind, dann ist der Nahe Osten verloren – und nicht nur seine Christen.
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