“Die Welt wird verschwinden, wir nicht”
Er gehört zu den wichtigsten Denkern der Gegenwart
Er gehört zu den wichtigsten Denkern der Gegenwart: Der französische Philosoph Rémi Brague (66), der für seine wissenschaftlichen Leistungen auf dem Gebiet der arabischen und mittelalterlichen Philosophie sowie der Religionsphilosophie mit zahlreichen Preisen und Auszeichnungen geehrt wurde, etwa mit dem Orden der Ehrenlegion im Jahr 2013. Von 2002 bis 2012 war Brague, der zuvor an der Pariser Sorbonne und an den Universitäten von Pennsylvania, Boston und Lausanne lehrte, Lehrstuhlinhaber für Philosophie der Religionen Europas (Guardini-Lehrstuhl) an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Ein Interview.
Von Stefan Meetschen
Die Tagespost, 07. Juli 2014
Sie haben einmal gesagt: “Christus ist nicht gekommen, um eine Zivilisation zu erbauen, sondern um die Menschen aller Zivilisationen zu retten”. Wie geschieht diese “Rettung” heute aus Ihrer Sicht? In Asien, in Amerika, in Afrika?
Keine Ahnung. Generell möchte ich meine Hauptthese aber unterstreichen, dass das Hauptproblem beim Menschen liegt. Der Mensch muss geheilt werden. Wenn er eines Tages wieder gesund wird, dann kann er eine Zivilisation bauen, die dem Ort und der Zeit am besten entspricht. Dabei ist der Mensch die Quelle, der Angelpunkt dieses ganzen Gebildes. Das Problem ist nie die Zivilisation. Das Problem ist, dass jede Zivilisation von einem bestimmten Typ Mensch gebaut und gepflegt wird. Wenn es dem Menschen gut geht, geht es auch der Kultur gut. Das sage ich als Europäer, wissend, dass die europäische Kultur eine Art Ausnahme darstellt. Es ist keine normale Kultur. Eher ein bizarres Ereignis. Ein Sonderfall in der Geschichte der Menschheit.
Wenn Sie, egal ob in Paris, London oder Amsterdam vor die Tür treten würden, um den Menschen zu sagen, dass sie Heilung brauchen, würde man Ihnen mit Erstaunen begegnen. Mit grösserem Erstaunen als vor 500 Jahren, als die Menschen Europas sich als sündhafte Menschen begriffen?
Nicht notwendigerweise. Jeder spürt doch, dass etwas schiefgeht. Der Hauptunterschied besteht allerdings darin, dass es Leute gibt, welche die Verantwortung anderen zuschieben möchten, was immer gelingt, weil man schliesslich immer einen Sündenbock findet, während es andere Leute gibt, die sich die Frage stellen, ob sie sich nicht selbst verbessern könnten. Als erster Schritt sozusagen. Die Christen sollten der zweiten Kategorie angehören. Was nicht heisst, dass sie sich im Lauf der Geschichte nicht auch als sündige Menschen erwiesen haben. Beispielsweise, indem sie versucht haben, den Anderen in seiner Andersartigkeit zu beseitigen oder gleichzuschalten. Das ist auch heute eine ständige Versuchung.
Glauben Sie, dass die Menschen von heute, selbst wenn sie Christen sind, weniger religiös sind als die Menschen früher? Im Mittelalter oder zur Zeit der Romantik gab es wesentlich weniger Ablenkungsmöglichkeiten als heute durch die Medien …
Das Problem ist, dass man weder die Menschen anderer Zeiten und Kulturen noch die Menschen von heute von innen untersuchen kann. Auch uns gelingt es nicht, uns selbst von innen zu erkennen. Wir können nur bis zu einer bestimmten Tiefe unseres Selbst vordringen. Meiner Meinung nach gibt es aber keinen wesentlichen Unterschied im Wesen des Menschen, im Wesen der konkreten Leute. Das einzige, was sich beobachten lässt, sind Verschiedenheiten in der Art und Weise, wie wir unsere Gefühle, unsere Weltsicht ausdrücken. Der Bestand an Gefühlen, Stimmungen, Ideen bleibt wesentlich derselbe. Ich sehe diese Kontinuität und Identität zum Beispiel bei den Philosophen der Antike, des Mittelalters und der Neuzeit. Tatsächlich kann man bei diesen, wenn wir ihre Werke lesen, die ewige Wiederkehr gleicher Fragen beobachten.
Etwas Neues gibt es aber offenbar doch, wenn man Ihrem Buch “Europa – seine Kultur, seine Barbarei. Exzentrische Identität und römische Sekundarität” glauben darf. Dort gebrauchen Sie den Ausdruck “Christianisten”. Was sind das für Leute?
Ein sehr hässliches Wort, was ich da erfunden habe. Ich wollte mit “Christianisten” eine Gruppe von Menschen beschreiben, welche es überall in Europa und der christlichen Welt gibt, die von sich selbst sagen, sie seien keine Gläubigen, keine Christen, die dabei aber voll Achtung vor den positiven Leistungen des Christentums in der abendländischen Geschichte sind. Diese Leute sind mir sympathisch. Mehr als diejenigen, die irgendeine positive Rolle des Christentums pauschal bestreiten. Noch sympathischer sind mir “Christianisten” im Vergleich zu denen, die das Christentum verantwortlich machen wollen für alle Gemetzel und Unterdrückungen der westlichen Geschichte.
Sie mögen die “Christianisten” also deshalb, weil sie die Wahrheit sagen?
Die “Christianisten” sagen die Wahrheit: Die Rolle des Christentums in der Geschichte – ich sage nicht die aller Christen – war eine positive. Diese Position genügt aber nicht. Aus zwei Gründen. Erstens, weil die sogenannte christliche Kultur von Leuten gebaut wurde, die gar nicht an die Möglichkeit einer sogenannten christlichen Kultur glaubten. Nehmen Sie beispielsweise Papst Gregor den Grossen, der davon felsenfest überzeugt war, dass er am Ende der Zeiten lebte. Er hat versucht, ein bisschen Ordnung im Haus zu schaffen. Die Ordnung, die er dabei geschaffen hat, nennen wir jetzt das Mittelalter. Er hat die Grundlegung der mittelalterlichen Kultur durchgeführt, indem er zum Beispiel die Kirchenlieder, den sogenannten gregorianischen Gesang, organisiert und kodifiziert hat.
Der zweite Einwand, den ich erheben möchte, ist der: Wenn das Christentum auf so viele Menschen einen positiven Einfluss hatte, indem es etwas Güte in die Welt gebracht hat, warum sollte es dann nicht auch für die heutigen Menschen verwendbar sein? In einem ganz nützlichen und pragmatischen Sinn. Das würde ich den Leuten vorschlagen: Versuchen Sie es doch mal, sich zu bekehren. Nicht dadurch, dass sie Kirchensteuern zahlen, sondern, indem sie versuchen, die Persönlichkeit Christi ernst zu nehmen.
Haben Sie nicht den Eindruck, dass man sich bisweilen sogar innerhalb der Kirche des Christentums schämt – bis hinauf zu Bischöfen und Kardinälen? Trotz aller kulturellen Leistungen und Beiträge zur Güte?
Aber sicher!
Ich verspüre diese Versuchung auch in mir. Wir befinden uns alle im Zustand einer vertieften Bekehrung. Es ist nötig, unseren Glauben zu vertiefen. Ihn noch ernster zu nehmen. Wir dürfen dabei nicht nur auf andere zeigen, die uns nicht ganz koscher vorkommen.
Scham beiseite. Wie verstehen Sie sich selbst? Als europäischer oder als christlicher Wissenschaftler?
Das eine schliesst das andere nicht aus. Als Europäer bin ich geboren, ich lebe in Europa, ich mag jedes europäische Land, das ich kenne. Und ich bin überzeugt, dass es kaum einen Kontinent gibt, in dem man nicht zumindest kleine Spuren der europäischen Kultur finden kann. Europa ist schon seit Ende des 15. Jahrhunderts sozusagen geplatzt und hat seinen Samen überall in die Welt verstreut. Es dürfte schwierig sein, etwas Un-Europäisches auf der Welt zu finden. So kann ich nicht umhin, mich als Europäer zu betrachten, noch dazu, weil ich leiblich und geistig im alteuropäischen Raum zuhause bin. Und auf der anderen Seite betrachte ich mich auch als Christ. Beide Zugehörigkeiten hängen aber nicht von derselben Seinsebene ab. Als Christ bin ich vor allem eine Person, die sich von einer anderen Person, nämlich von Jesus Christus, angesprochen fühlt. Dabei muss man beachten, dass jeder von uns langlebiger ist als jede Form von Kultur. Die Welt wird verschwinden, wir nicht.
Der alteuropäische Kulturraum, auf den Sie anspielen, Frankreich, hat einst eine ganze Reihe von bemerkenswerten katholischen Denkern und Schriftstellern hervorgebracht. Damit scheint es vorbei zu sein. Warum eigentlich spielen katholische Intellektuelle derzeit in der Öffentlichkeit Frankreichs und Europas eine so untergeordnete Rolle? Gibt es sie nicht? Braucht man sie nicht? Oder ziehen diejenigen, die es eigentlich sind, vor, nicht als katholische Intellektuelle aufzufallen?
Das ist eine brenzlige Frage und für mich eine recht peinliche dazu. Das Zeitalter der grossen katholischen Intellektuellen in Frankreich ist tatsächlich vorbei. Ob das endgültig ist oder nicht, weiss Gott allein. Leute wie Claudel, wie Bernanos, wie Péguy, dessen 100. Todestag wir im September erwarten, Mauriac, Blondel, diese Leute gibt es zurzeit nicht mehr. Stattdessen ist die Stimme der Kirche fast ausschliesslich aus dem Mund der Geistlichen zu vernehmen. Etwa, wenn die Medien eine katholische Stimme hören möchten, dann kommen sie zu einem Geistlichen. Laien werden nur in Ausnahmefällen gefragt. Ob das positiv oder negativ ist, weiss ich nicht. Hinzufügen möchte ich aber eine Binsenweisheit.
Das intellektuelle Klima der Medien, also bei den Leuten, welche die öffentliche Meinung prägen, ist uns Katholiken nicht besonders zugetan, sodass ein katholischer Intellektueller, der versucht, seine Stimme zu erheben, kaum vernommen wird. Das hat nichts mit seiner Lautstärke zutun. Es ist einfach kein Mikrophon da für ihn oder sie.
Vielleicht möchten Sie die katholischen Intellektuellen zur Revolution aufrufen? Ergreift die Mikrophone aller Medienhäuser und verkündet die katholische Weltsicht …
Nein, nein, das ist keine christliche Art und Weise, die Macht zu ergreifen. Das machen Katholiken auch nicht, wenn sie angegriffen werden, sondern erst, wenn sie spüren, dass der Glaube direkt angegriffen wird. Ich denke zum Beispiel an die mexikanischen Cristeros, deren Geschichte völlig in Vergessenheit geraten war. Erst der leicht Hollywood angehauchte, aber trotzdem sehenswerte Film “For greater glory” (Cristiada) mit Peter O‘Toole und Andy Garcia erinnert an diese. Trotzdem: eine christliche Taktik als Kriegsführung scheint mir recht verdächtig zu sein.
Apropos Hollywood. Sie sind ein hochgebildeter Mann, der viele Hochkulturen erforscht hat. Viele Zeitgenossen bewegen sich dagegen in den leichten Sphären der Popkultur. Wie stehen Sie zu dieser sich auch in Europa immer stärker ausbreitenden Kulturform? Dürfen wir uns Rémi Brague als heimlichen Beatles- oder Rolling Stones-Fan vorstellen?
Danke für das Kompliment! Dabei bin ich doch nur ein allseitiger Pfuscher. In der Popkultur, das muss ich gestehen, kenne ich mich nur recht wenig aus. Eine bestimmte Lebensbejahung, wie sie dort auftritt, scheint mir höchst positiv zu sein, falls diese Lebensbejahung denn eine echte ist und nicht eine noch tiefer liegende Verzweiflung verbirgt. Man kann in der hiesigen Popkultur unschwer Spuren einer gewissen Verzweiflung entdecken. Sie tritt sogar an der Oberfläche zutage. Aber ein gewisser Hedonismus, den es in der Popkultur zweifellos auch gibt, ist im Grunde recht positiver Natur. Der Teufel ist gar kein Hedonist. Das einzige Problem ist, dass es in dieser zeitgenössischen Kultur Dinge gibt, die nicht zur Freude führen. Der rechte Weg des Vergnügens sollte aber zur Freude führen. Ein Vergnügen, das sich als seinen eigenen Gegenstand nimmt, führt dagegen in die Verzweiflung.
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