Aufstand und Vernichtung

Vor 70 Jahren, am 1. August 1944, wagte das von den Nazis unterdrückte Polen den Widerstand

Denkmal des Warschauer Aufstandes
Polen: Thomas Urban

Die Tagespost,  30. Juli 2014, von Stefan Meetschen

Vor 70 Jahren, am 1. August 1944, wagte das von den Nazis unterdrückte Polen den Widerstand: Mit unzureichender Bewaffnung, aber begleitet von Gebet und Mut versuchte die Untergrundarmee, die Hauptstadt Warschau zurückzuerobern – Doch SS und Wehrmacht schlugen brutal und barbarisch zurück.

Warschau im Juli 2014: Die Schulen und Universitäten sind geschlossen, die Politiker befinden sich im Sommerurlaub – wie viele Einwohner von Polens Hauptstadt, die es aufs Land oder an die See gezogen hat. Statt der emsigen Hektik, die sonst die Atmosphäre der 1, 7 Millionen-Metropole prägt, ist ein Gefühl von Ruhe und Nachdenklichkeit eingekehrt. Hier und da laufen Touristen mit Kameras herum; junge Leute sitzen vor den Cafes. Reden, lachen und telefonieren. Geniessen das unbeschwerte Leben.

Vor 70 Jahren, am 1. August 1944, war alles anders. Es lag eine Spannung über und unter der von den Nazi-Deutschen besetzten Stadt. Dann, um genau 17 Uhr, wagte das polnische Volk, angeführt von 30- bis 40 000 Soldaten der polnischen Untergrundarmee “Armia Krajowa” (AK, dt. Heimatarmee) den Aufstand. Mit dem Befehl “Burza” (Gewitter) ging es los: man stieg aus den unterirdischen Kanälen der Stadt empor. Mit wenigen Waffen, aber mit dem Mut der Verzweifelten und priesterlicher Gebetsunterstützung, wie das Denkmal des Aufstands zeigt, aber auch zahlreiche Briefdokumente im modernen “Museum des Warschauer Aufstands”, das genau vor zehn Jahren in der polnischen Hauptstadt eröffnet wurde. Das Ziel des Aufstands, das von der polnischen Exilregierung in London goutiert worden war, bestand darin, den bereits östlich vor Warschau stehenden sowjetischen Truppen zuvorzukommen. Stalin als Befreier Polens von den Nazis zu feiern – das widerstrebte Stanislaw Mikolajczyk, dem polnischen Ministerpräsidenten im Exil und dem nationalen Ehrgefühl der Anführer der AK. Dann lieber kämpfen und auf ein Wunder hoffen. Und tatsächlich: Zunächst sah es für die AK und die vielen Frauen und Kinder, welche diese unterstützten, gar nicht schlecht aus. Bis zum 4. August 1944 hatten die Aufständischen, jeder versehen mit einer Armbinde, die das Anker-Symbol des kämpfenden Polens (“Polska Walczaca”) darstellt, die Oberhand. Was insofern nicht ganz überraschend war, als zu diesem Zeitpunkt nur 13 000 Deutsche, Wehrmacht und Polizei, in Warschau weilten, deren Aufmerksamkeit ganz der Roten Armee und der aus deutscher Sicht allgemein schlechten militärischen Gesamtlage gegolten hatte.

Allerdings waren die Deutschen mit Panzerwaffen, Artillerie und Flugzeugen weit besser ausgerüstet als die polnischen Aufstandskämpfer, die zudem fast ohne Unterstützung vonseiten der Westalliierten agieren mussten, so dass sich ab dem 5. August, als bereits polnische Flaggen auf einigen weithin sichtbaren Gebäuden wehten, das Blatt wendete. Allein im Stadtteil Wola wurden am 5. und 6. August 40 000 Zivilisten von den Deutschen ermordet. Am 11. August kontrollierten die Deutschen, wie der polnische Historiker Piotr Majewski im Buch “Deutschland, Polen und der Zweite Weltkrieg. Geschichte und Erinnerung” schreibt, bereits wieder den Stadtteil Ochota und begannen mit dem “Generalangriff auf die Altstadt”, die schon bald darauf wieder unter Nazi-Kontrolle war. Dazu wurde die Zahl der deutschen Soldaten kontinuierlich mit SS-Verbänden aufgestockt. Die Reaktion Hitlers auf die Nachricht vom Aufstand (“Warschau muss dem Erdboden gleichgemacht werden, und es soll in dieser Hinsicht ein abschreckendes Beispiel für ganz Europa geschaffen werden”) war deutlich gewesen.

Anfang September 1944 entschied die Führung der AK, dass die Vertreter des Polnischen Roten Kreuzes mit den Deutschen über die Evakuierung der Zivilbevölkerung verhandeln sollten. Eine fatale Fehleinschätzung der ideologischen Wirklichkeit. Waren die Polen doch seit Beginn des Krieges 1939 durch die deutschen Nazi-Besatzer zu völlig rechtlosen Untertanen degradiert worden, die zunächst als “führerloses Arbeitsvolk” (SS-Führer Heinrich Himmler) dienen sollten, um dann nach dem “Endsieg” in Sibirien vernichtet zu werden. Schon früh hatte die SS in Polen den Befehl erhalten, Tausende von polnischen Fabrikbesitzern, Lehrern und Professoren, Juristen, Ärzten, Ingenieuren und Geistlichen zu ermorden und diesen Auftrag mit penibler Unmenschlichkeit ausgeführt. “Zehntausende Angehörige der intellektuellen Elite kamen in Konzentrationslager, ein beträchtlicher Teil von ihnen in das KZ Dachau”, wie Thomas Urban in dem Buch “Polen” (herausgegeben von Helmut Schmidt und Richard von Weizsäcker) schreibt.

So kam es denn auch nicht zur Evakuierung der Zivilisten, sondern Himmler gab dem für Warschau verantwortlichen SS-Obergruppenführer Erich von dem Bach-Zelewski den Auftrag, das gesamte polnische Warschau “ohne Rücksicht auf Alter und Geschlecht” auszulöschen. Es kam bis zur offiziellen Einstellung der Kampfhandlungen am 2. Oktober zu einem Blutbad, das sage und schreibe 180 000 polnischen Zivilisten das Leben kostete. 17 000 bis 18 000 Aufständische starben, 25 000 wurden verletzt, darunter 7 000 schwer. Ausserdem, so Urban, wurden 50 000 der Überlebenden zur Zwangsarbeit ins Reich deportiert, rund 60 000 traten den Marsch in Konzentrationslager an, darunter fast 18 000 Frauen und Kinder. Die Niederschlagung des Warschauer Aufstands, den man – was von deutscher Seite oft gemacht wird – nicht mit dem Aufstand des Warschauer Ghettos 1943 verwechseln darf – ist damit eines der grössten Kriegsverbrechen der Menschheitsgeschichte, ausgeübt von Deutschen an Polen.

Doch damit nicht genug. Nach all diesen grausamen Massakern und Deportationen der polnischen Bevölkerung setzten Einheiten der Wehrmacht und Polizei ihre Greueltaten fort, indem sie mit Sprengtrupps Gebäude für Gebäude zerstörten. Kirchen und Theater, Museen und Privathäuser – bis hin zum Königsschloss. Eine systematische Vernichtung von Privatbesitz und nationalen Kulturgütern, die das Stadtbild Warschaus bis heute prägt, denn abgesehen von der nach den Gemälden des venezianischen Malers Bernardo Bellotto Canaletto (1722–1780) originalgetreu wiedererrichteten Altstadt bestimmen heute alte kommunistische Hochhäuser und kalte postmoderne Glasbauwerke das Angesicht der Weichsel-Metropole, das man einst als das “Paris des Ostens” schwärmerisch beschrieb. Umso unverständlicher bleibt es, dass das Faktum dieser Zerstörungstaten, ausgeführt im Namen des “Führers”, lange Zeit im deutschen Bewusstsein keinen Platz fand. Im Mittelpunkt der Erinnerungskultur stand “der Mord an den Juden, während das Schicksal der verfolgten katholischen Intelligenz nur am Rande behandelt wurde”, so Thomas Urban.

“Den berühmten Kniefall Willy Brandts vor dem Warschauer Denkmal für die Ghetto-Kämpfer im Dezember 1970 bezogen die meisten deutschen Kommentatoren in diesem Sinne vor allem auf die Verfolgung und Ermordung der Juden, weniger jedoch auf das Leid der nicht-jüdischen Mehrheit der Polen.” So erleben viele Deutsche den Besuch des Museums das Warschauer Aufstands zu Beginn des 21. Jahrhunderts als eine Art nachgeholte Geschichtsstunde, die sich mit Scham und Reue über die deutschen Verbrechen und Respekt vor den Kämpfern des Warschauer Aufstands mischt. Vor allem der aktuell dort zu sehende Film “Miasto Ruin” (Stadt der Ruinen), der eine digitale Rekonstruktion Warschaus nach der Vernichtung durch die Nazis zeigt, ist zutiefst berührend und gut geeignet, gerade jungen Deutschen vor dem Hintergrund der Geschichte den angemessenen Umgangsstil mit unseren östlichen Nachbarn zu weisen, so wie sie es bereits bei den Begegnungen mit den jüdischen Opfern der Nazi-Verbrechen in vorbildlicher Weise gelernt haben.

Und wie geschieht die Erinnerungskultur in Polen selbst? Seit dem Ende des Kommunismus ertönen an jedem 1. August um 17 Uhr die Sirenen und die Menschen bleiben dort, wo sie sich gerade befinden, stehen, um der Helden des Aufstands zu gedenken. Dazu finden in der Hauptstadt offizielle politische Feierlichkeiten statt, bei denen nicht nur polnische Politiker und ausländische Staatsgäste anwesend sind, sondern stets auch einzelne Veteranen der AK zu Wort kommen. Solange diese noch leben. Es wehen polnische Flaggen, und das kämpferische Anker-Zeichen der AK wird von jungen und alten Polen mit Stolz getragen. Ein Luxus des ungebrochenen Verhältnisses zur eigenen Nation und Tradition, von dem man in Deutschland nur träumen kann, der Lohn Polens dafür, auf der richtigen Seite der Geschichte gestanden zu haben. Was man von Stalin und seinen Truppen nicht sagen kann. Tatenlos verfolgte die Rote Armee das Gemetzel der Deutschen an den Polen, um die in Trümmern liegende Stadt im Januar 1945 als neue Besatzer einzunehmen. Die Soldaten der AK und andere Aufständische verfolgte Stalin als potenzielle Machtkonkurrenten erbarmungslos.

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