Kleine Hände brutal ausgebeutet
Weltweit leisten mindestens 5,5 Millionen Minderjährige Zwangsarbeit
Die Tagespost, 10. Juni 2014
Von Reinhard Nixdorf
Sie klopfen Ziegelsteine, knüpfen Teppiche, und schuften in Schuhfabriken – der Sklaverei ähnliche Ausbeutung von Kindern und Erwachsenen ist ein lukratives Geschäft, das jährlich rund hundertfünfzig Milliarden US-Dollar Profite abwirft, die bei legaler Beschäftigung nicht entstanden wären. Am höchsten sind die Profitraten in der Prostitution: Dort werden bis zu achtzigtausend Dollar pro Jahr und Opfer erzielt.
Weltweit sind nach internationalen Schätzungen knapp 21 Millionen Menschen Opfer von Zwangsarbeit, darunter etwa 5,5 Millionen Kinder unter achtzehn Jahren. Das geht aus einer neuen Studie des Kinderhilfswerks Terre des Hommes (TdH) hervor. Zum Welttag gegen Kinderarbeit am Donnerstag hat Terre des Hommes das Südwind-Institut mit einer Untersuchung beauftragt, für die der Studienautor Friedel Hütz-Adams über hundert Quellen, regionale Erhebungen und Berichte von Betroffenen ausgewertet hat.
Zwangsarbeit von Minderjährigen ist ein globales Phänomen – allerdings mit problematischer Datenbasis. Da Zwangsarbeit illegal ist, können statistische Erhebungen nicht zu verlässlichen Resultaten führen. Doch das Feld lässt sich schon deshalb nicht völlig ausleuchten, weil schon die Definition ihre Tücken hat: neben offensichtlicher Zwangsarbeit gibt es eine weite Grauzone, in der aus Kinderarbeit, die in der Regel ebenfalls verboten ist, Sklaverei wird.
Arbeiten Kinder aufgrund eines Zwangs durch Dritte, die nicht ihre Eltern sind, muss man nach den Standards der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) von einer Versklavung von Kindern sprechen. Opfer von Zwangsarbeit sind zudem Minderjährige, die gemeinsam mit ihren versklavten Vätern und Müttern Zwangsarbeit leisten.
Entscheidend sind drei Fragen: Konnten die Kinder selbst entscheiden, ob sie die Arbeit aufnehmen? Arbeiten und leben sie ohne Druck? Ist ihnen erlaubt, den Arbeitgeber zu verlassen?
Während die Internationale Arbeitsorganisation die Zahl der Zwangsarbeiter auf der Welt auf 20,9 Millionen schätzt, davon 5,5 Millionen Mädchen und Jungen unter achtzehn Jahren, geht die Walk Free Foundation in ihrem 2013 veröffentlichten Global Slavery Index von rund dreissig Millionen Menschen in Sklaverei aus – ohne den Anteil der Kinder gesondert auszuweisen.
Weit verbreitet ist Zwangsarbeit dort, wo die Versklavung von Menschen historisch und kulturell verankert ist. Beispiel ist Mauretanien: Es wird geschätzt, dass bis zu zwanzig Prozent der Menschen des Landes als Sklaven leben. Nach Einschätzung der Walk Free Foundation sind damit gemessen am Anteil der Bevölkerung die meisten Menschen von Zwangsarbeit betroffen. Ganze Familien “gehören” anderen “Herren”. Das System baut auf der jahrhundertelangen Ausbeutung bestimmter ethnischer Gruppen und Klassen auf.
Die grösste Zahl der von Zwangsarbeit betroffenen Menschen gibt es allerdings in Indien, darin stimmen die Statistiken und Schätzungen überein – und die Zahl der Mädchen und Jungen, die Zwangsarbeit leisten müssen, nimmt nach Angaben der Vereinten Nationen dort sogar noch zu. Über 450 000 Fälle von Kinderhandel mit dem Ziel der Ausbeutung wurden zwischen 2008 und 2012 offiziell dokumentiert. Meist bringen Vermittler die Kinder in weit vom Elternhaus entfernte Städte. Dort werden sie gegen Vorauszahlungen von umgerechnet bis zu 540 Euro an ihre “Arbeitgeber” ausgeliefert. Nur selten erreicht dieses Geld die Familien der Kindersklaven.
Die Hauptursachen von Zwangsarbeit sieht Studien-Autor Friedel Hütz-Adams in Armut, Diskriminierung, unzureichende Qualifikation und fehlendem Zugang zu formellen Kredit- und Sozialschutzsystemen. Hinzu kommt die Migration. 44 Prozent der Opfer von entdeckter Zwangsarbeit verliessen ihre Heimat, um in anderen Regionen des Landes oder gar jenseits der Grenze eine bessere Zukunft zu finden, so die Studie. Bei Menschen, die sexuell ausgebeutet werden, sind es sogar 75 Prozent.
Angesicht dieses Gesamtbildes fordert die Vorstandsvorsitzende von Terre des Hommes, Danuta Sacher, endlich “die internationalen Konventionen und nationalen Gesetze, die Kinder auf dem Papier vor Ausbeutung schützen, praktisch umzusetzen”. Betroffene Staaten müssten nationale Aktionspläne beschliessen, um die bestehenden Gesetze gegen Zwangsarbeit durchzusetzen.
Die wirksamste Vorbeugung gegen die millionenfache Ausbeutung von Jungen und Mädchen seien die soziale Absicherung der Familien gegen Armut und Krankheit sowie Bildungsangebote, meint Danuta Sacher. Brasilien zeige, dass die Zahl der Kinderarbeiter zurückgehe, “wenn soziale Sicherungssysteme Familien ein menschenwürdiges Leben ermöglichen”. In Brasilien hatte 2003 der damalige Präsident Lula da Silva das Programm “Bolsa Familia” angestossen. Es gewährt Familien finanzielle Hilfen, wenn sie ihre Kinder regelmässig zur Schule und zur medizinischen Vorsorge schicken. Mithilfe von “Bolsa Familia” konnten nach staatlichen Statistiken mehr als 36 Millionen Brasilianer den Weg aus der extremen Armut finden.
Auch die Bundesregierung müsse im Rahmen ihrer Entwicklungszusammenarbeit viel mehr tun, um den Ausbau sozialer Sicherungssysteme in armen Ländern zu fördern, fordert Danuta Sacher. “Wir erwarten, dass sie die gesamte Wertschöpfungskette ihrer Auftraggeber in den Blick nehmen und Zwangsarbeit von Kindern an jeder Stelle ausschliessen.”
Diesen Appell richtet Terre des Hommes auch an global agierende Unternehmen. Um die Wirtschaft stärker in die Pflicht zu nehmen, müssten ausserdem die Leitprinzipien der Vereinten Nationen für Wirtschaft und Menschenrechte in nationales Recht überführt werden. “Damit Verstösse juristisch verfolgt werden könnten.” Insofern müssten auch deutsche Unternehmen, deren Zulieferer mit Vermittlern von Kinderarbeit zusammenarbeiten, mit Klagen rechnen.
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