Wladimir Putin richtig verstehen
Niemand weiss, wozu die jüngste Eskalation in der Ukraine die Regierungen in Moskau und Kiew führen werden
Die Tagespost, 02. Mai 2014, Von Stefan Rehder
Niemand weiss, wozu die jüngste Eskalation in der Ukraine die Regierungen in Moskau und Kiew führen werden. Und niemand, ob und wie der Westen darauf reagieren wird.
Anstatt sich von einer Wasserstandsmeldung zur nächsten zu hangeln, lohnt es daher, den Blick auf ein Phänomen zu richten, dem bislang nur wenig Beachtung geschenkt wurde: das bemerkenswerte Verständnis und die Sympathie, die Menschen in Deutschland und anderen Teilen Europas bislang Russlands Präsidenten entgegenbringen.
Wer zu seinen Kern vordringen will, darf nicht bei der Selbstinszenierung Putins stehen bleiben, auch wenn sie die beabsichtigte Wirkung kaum verfehlen wird. Zu zahlreich sind die Auftritte, in denen der 61-Jährige in wechselnden Kostümen – als Karate-Kämpfer, Eishockeyspieler, Sportschütze und dergleichen mehr – “bella figura” macht, um anzunehmen, Russlands Präsident wolle die Welt bloss an seiner dann recht üppigen Freizeitgestaltung teilnehmen lassen. Nein, wer den Kern der Sympathie verstehen will, die Putin entgegenschlägt, muss den Blick von ihm weg und vor die eigene Haustür richten.
Was er dort sieht, ist alles andere als angenehm. Denn der Westen diskreditiert sich längst in einem Umfang, den während des Kalten Krieges nicht einmal der Kreml für möglich gehalten haben dürfte. So wächst etwa das Ausmass, mit dem sich westliche Staaten scheinbar mühelos über ihr eigenes Recht und Gesetz hinwegsetzen, nahezu atemberaubend. Ob es um die Aufweichung der Stabilitätskriterien innerhalb der Europäischen Union und das Anwerfen der Druckerpressen geht, oder um die flächendeckende Überwachung, mit der westliche Geheimdienste den elektronischen Datenverkehr von Bürgern kontrollieren; ob es um die fast unvorstellbare Lässigkeit geht, mit der ein Parlament nach dem anderen Gesetze beschliesst, die das Lebensrecht ungeborener und selbst geborener Menschen mit Füssen treten (zuletzt bei der Zulassung der PID in Deutschland, der Abtreibung in Irland und der Früheuthanasie in Belgien) – stets nahm das Vertrauen in den Rechtsstaat und der Respekt der Mächtigen vor den Menschen- und Bürgerrechten gewaltigen Schaden.
Vor einem solchen Hintergrund kann selbst ein ehemaliger KGB-Offizier, der erkennbar auf die Souveränität von Völkern pfeift, zum Sympathie- und Hoffnungsträger werden. Doch sollte sich niemand täuschen. Putin taugt als politischer Messias genauso wenig wie der längst entzauberte Obama. Dass Putin in Russland hart gegen Blasphemie vorgeht, Abtreibungen einschränkt und Werbung für Homosexualität unter Strafe stellt, ist weder persönlichen Wertüberzeugungen, noch der Einsicht in unverrückbare Wahrheiten, sondern allein knallharten Interessen geschuldet. Putin ist kein “lupenreiner” Lebensschützer, sondern ein waschechter Nationalist. Der promovierte Wirtschaftswissenschaftler weiss, dass ein Land, dessen Bevölkerung aufgrund des Alkoholkonsums seiner männlichen und der Abtreibungen seiner weiblichen Bürger derart rapide schrumpft wie die russische, bald auch ökonomische Probleme bekommt. Nicht um die Wahrung der Menschenrechte geht es Putin, sondern um die “Gesundung des Volkskörpers”, ohne den das Einsammeln einstmals besetzter Erde nicht gelingen kann.
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