Ein weitsichtiger und prägender Gesetzgeber

“Ideales Dreieck” für das Leben der Kirche

Die Tagespost, 23. April 2014, von Christoph Ohly

Als Papst Johannes Paul II. am 3. Februar 1983 das neue kirchliche Gesetzbuch der Lateinischen Kirche (Codex Iuris Canonici) feierlich präsentierte, sprach er von einem “idealen Dreieck” für das Leben der Kirche. An der oberen Seite dieses Dreiecks stünde die Heilige Schrift, an den beiden anderen Seiten die Dokumente des Zweiten Vatikanischen Konzils und der neue Codex des kanonischen Rechts. Die Beziehung dieser drei Eckdaten der Kirche beschrieb er dabei wie folgt: “Um geordnet … von diesen beiden Büchern der Kirche des 20. Jahrhunderts zu jenem höchsten und unveränderlichen Gipfel aufzusteigen, wird man die Seiten dieses Dreiecks entlanggehen müssen, ohne … Auslassungen und unter Berücksichtigung der notwendigen Beziehungen: das ganze Lehramt … der vorangegangenen ökumenischen Konzilien und auch … jenes Erbe juridischer Weisheit, das der Kirche gehört”.

Demzufolge bildet das kirchliche Recht zusammen mit den Aussagen des kirchlichen Lehramtes eines jener Instrumente, die im Gesamt des kirchlichen Lebens der Begegnung mit Jesus Christus, dem fleischgewordenen Wort Gottes, dienen wollen. Aus diesem Grund erinnert auch c. 1752 als letzter Rechtssatz (Canon) des Codex daran, dass das Heil der Seelen immer das oberste Gesetz in der Kirche sein muss (salus animarum suprema lex). Als solches ist das Recht nicht nur unersetzbar für den geordneten Vollzug der kirchlichen Sendung, es gehört zugleich zum Wesen der Kirche, deren Grundvollzüge rechtlichen Charakter besitzen, namentlich die Verkündigung des Wortes Gottes, die Feier der Sakramente und die Formen tätiger Nächstenliebe.

Wer auf das Pontifikat von Johannes Paul II. (1978–2005) und dessen theologisches Erbe schaut, kann daher nicht umhin, auch den damit verbundenen rechtlichen Aspekt zu beleuchten. Der Papst, der als erster Slawe zum Nachfolger des Apostels Petrus gewählt wurde, hat sich in den über 26 Jahren seiner Amtszeit als weitsichtiger und prägender Gesetzgeber der Universalkirche erwiesen. Er gehört nicht zuletzt unter diesem Aspekt zu den markantesten Papstgestalten der Kirchengeschichte.

Unter seinen zahlreichen gesetzgeberischen Massnahmen ragt ohne Zweifel der am 25. Januar 1983 promulgierte und am 27. November 1983 in Rechtskraft erwachsene Codex Iuris Canonici heraus. Auf den Tag genau 24 Jahre, nachdem Johannes XXIII. (1958–1963) in seiner Ansprache in St. Paul vor den Mauern nicht nur das II. Vatikanische Konzil und eine römische Diözesansynode, sondern zugleich die Revision des kirchlichen Gesetzbuches angekündigt hatte, trat durch Johannes Paul II. jenes Normenwerk ins Leben der Kirche, das die Lehren des Konzils in die rechtliche Sprache übersetzen sollte. Das vorausgehende Gesetzbuch, das Pius X. (1903–1914) initiiert und Benedikt XV. (1914–1922) im Jahre 1917 promulgiert hatte, gehörte damit der rechtlichen Geschichte an. Ein neuer kirchenrechtlicher Zeitabschnitt, der seither das Leben und die Sendung der Kirche prägt, war angebrochen. Wenn nunmehr der Initiator und der Vollender der Codex-Reform zusammen heiliggesprochen werden, dann lässt dies auch aus rechtlichem Blickwinkel den Schluss zu, dass hier ein gemeinsames Werk zu einem beeindruckenden geistlichen Abschluss gelangt.

Wodurch kann das Verhältnis zwischen dem neuen Gesetzbuch und seinem Geber in der Person von Johannes Paul II. beschrieben werden?

Nachdrückliche Mitwirkung an der Reform

Ein Blick in die Geschichte der Codex-Reform lässt zunächst den Beitrag von Johannes Paul II. ersichtlich werden, den dieser seit seiner Wahl am 16. Oktober 1978 zur Vollendung dieses bedeutenden Projekts im Rechtsleben der Kirche geleistet hat. Nachdem die ersten Schritte zur Einleitung der Reformarbeiten unmittelbar nach Abschluss des Konzils (1965) in Gang gekommen waren, konnten im Jahre 1977 nach mühevoller Zusammenarbeit der Codex-Kommission, der Sachkommissionen und zahlreicher wissenschaftlicher Fachberater (Konsultoren) alle Teilentwürfe für die geplanten sieben Bücher des Codex vorgelegt werden. Diese wurden zur Konsultation an kirchliche Einrichtungen, unter anderem an die Bischofskonferenzen und die kirchenrechtlichen Fakultäten, versandt.

In diesem Zeitraum erfolgte im Oktober 1978 die Wahl von Johannes Paul II. Seither förderte er die Reformarbeiten mit aller notwendigen Unterstützung, so dass im Jahre 1980 ein erstes Gesamtschema des Codex vorgelegt werden konnte. Um die Arbeiten zu einem zügigen Ende zu bringen, erweiterte der Papst die aus Kardinälen bestehende Codex-Kommission und berief zudem achtzehn fachkundige Bischöfe hinzu. Als einer der wichtigsten Mitarbeiter erwies sich dabei Joseph Kardinal Ratzinger, zunächst als Erzbischof von München und Freising, später dann als Präfekt der Kongregation für die Glaubenslehre. Als Benedikt XVI. erinnerte er sich anlässlich des 25. Jahrestages der Promulgation des Codex “mit aufrichtiger Freude und Dankbarkeit” an diese fruchtbare Zusammenarbeit.

Das Ergebnis der intensiven Beratungen zwischen Papst und Bischöfen war ein revidierter Gesamtentwurf des künftigen Codex, der mit Datum vom 22. April 1982 dem Papst übergeben wurde. Johannes Paul II. studierte anschliessend das Schema erneut mit einer kleinen Kardinalskommission und ermöglichte die Diskussion letzter strittiger Einzelfragen. Am 22. Dezember 1982 konnten diese Arbeiten abgeschlossen und der Gesetzesbefehl zur Promulgation des Codex erteilt werden, die mit der Apostolischen Konstitution Sacrae Disciplinae Leges (SDL) am 25. Januar 1983 erfolgte.

Bereits hier wird ersichtlich, was der Papst später im Blick auf das Gesetzbuch als “primatialen Charakter“ und “Frucht kollegialer Zusammenarbeit“ hervorhob. Die Reformarbeiten atmeten von Beginn an, verstärkt aber noch einmal durch das beherzte Mitwirken von Johannes Paul II., den Geist einer notwendigen Kooperation unter allen Beteiligten. Seine päpstliche Autorität als universaler Gesetzgeber ermöglichte somit in der knapp fünfjährigen Schlussphase der Arbeiten die Vollendung der Reform des kirchlichen Gesetzbuches.

Einen weiteren Aspekt eröffnet die Frage nach dem “Warum” des neuen Codex. War ein neues Gesetzbuch in einer Zeit notwendig, die dem Kirchenrecht eher kritisch gegenüberstand, zeitweilig sogar seine Legitimität in Frage stellte? Der primäre Grund lag zu Beginn des Vorhabens darin, den Codex von 1917 einer notwendigen Überarbeitung zu unterziehen. Darüber hinaus sah Johannes Paul II. jedoch den inneren Zusammenhang des Codex mit dem II. Vatikanischen Konzil gegeben. Dieses hatte “seine Aufmerksamkeit in höchstem Masse auf die Kirche gerichtet“ (SDL XI). Ziel war es somit, das Rechtsleben der Kirche im Licht dieser Lehre grundlegend zu ordnen und “das christliche Leben zu erneuern“ (SDL XIII). Dabei kam der Codex-Reform grundsätzlich die Lehre von der Kirche zugute. Aber auch konkrete Anweisungen, die das Konzil durch Anregungen oder ausdrückliche Beschlüsse erlassen hatte, mussten in eine gesetzliche Gestalt gebracht werden. Die umfangreiche nachkonziliare Gesetzgebung, beispielsweise im Bereich des Eherechts, der Bischofssynode, der Bischofskonferenzen oder anderer teilkirchlicher Strukturen, hat dafür viele wertvolle Vorarbeiten geleistet. Gleichzeitig galt es, diese Massgaben in einem Gesetzbuch zu kodifizieren, das sich durch Kürze und Präzision auszeichnet. Johannes Paul II. ging in der Zeit nach der Promulgation dazu über, vom Codex als dem “letzten Dokument des Konzils” zu sprechen. Aufgrund seiner Entstehungsgeschichte und seines Inhaltes trage er “den Geist des Konzils in sich“ (SDL XIII). Es versteht sich von selbst, dass für den Papst ein authentisch verstandener “Geist des Konzils“ nicht in einer subjektiven Interpretation des Konzilsereignisses besteht, sondern immer an den Aussagen der Konzilsdokumente sowie an der kollegialen Arbeitsstruktur ihrer Entstehung Mass nehmen muss.

Aber gerade deshalb sah Johannes Paul II. einerseits das Konzil als Interpretament für ein sachgerechtes Verständnis der rechtlichen Normen. Diese sind “gemäss der im Text und im Kontext wohl erwogenen eigenen Wortbedeutung“ (c. 17) zu verstehen, das heisst auch und gerade im Licht jener Texte des Konzils, die massgebend das Verständnis der Kirche berühren. Andererseits liess der Papst erkennen, dass der Codex “als Vervollständigung der vom II. Vatikanischen Konzil vorgestellten Lehre” (SDL XIX) anzusehen sei und damit zum Verständnisschlüssel des Konzils werden könne. So erwächst der Codex heute zu einem “wirksamen Instrument”, “mit dessen Hilfe sich die Kirche selbst entsprechend dem Geist des II. Vatikanischen Konzils vervollkommnen kann” (SDL XXI).

Mit der Verbindung von Konzil und Codex ist für Johannes Paul II. ein weiteres Kriterium verbunden, das die Frage nach dem “Was“ des Gesetzbuches berührt. Worin sind grundlegende Richtlinien zu erkennen? Zunächst war es dem Papst wichtig festzustellen, was der Codex nicht leistet. Er ersetzt im Leben der Kirche nicht den Glauben, die Gnade, die persönlichen Geistesgaben und ebenso nicht die tätige Liebe der Gläubigen. Das Gesetzbuch der Universalkirche, das zugleich den Rahmen für die nachgeordneten Gesetze der Bischofskonferenzen und Ortsbischöfe bildet, zielt vielmehr darauf ab, der kirchlichen Gemeinschaft “eine Ordnung zu geben, die der Liebe, der Gnade und dem Charisma Vorrang einräumt und gleichzeitig deren geordneten Fortschritt … erleichtert” (SDL XVII). Mit anderen Worten: Kirchliches Recht steht mit seinen Gesetzen und Regeln im Dienst des einzelnen Gläubigen und der kirchlichen Gemeinschaft.

Daher findet der Codex seinen Leitgedanken in der Kirche als “Communio”, der in einer dreifachen Akzentuierung ausgestaltet ist und dem exemplarische Rechtsbereiche im Gesetzbuch zugewiesen werden können. Als Gemeinschaft der Gläubigen (communio fidelium) nimmt die Kirche den einzelnen Getauften als tragendes Rechtssubjekt in den Blick. Davon zeugt beispielsweise das Gemeinstatut aller Rechte und Pflichten der Gläubigen (cc. 208–223) sowie das spezifische Statut der Laien (cc. 224–231). Zugleich ist die Kirche überall da, wo sie in Erscheinung tritt, immer hierarchisch strukturiert (communio hierarchica) und durch eine gegenseitige Zuordnung eines geistlichen Hauptes mit einem Teil des Gottesvolkes charakterisiert (Pfarrei – Pfarrer, Diözese – Bischof, Weltkirche – Papst). Hier können vor allem die Einrichtungen der Beratung oder auch Elemente im Dienst der Verkündigung und der Heiligung genannt werden. Ebenso besteht die Gesamtkirche in und aus den Teilkirchen (communio Ecclesiarum), demzufolge das Verhältnis von Teilkirchen und Gesamtkirche durch vielfältige Formen der Verbindung, so zum Beispiel durch die Bischofssynode und die Bischofskonferenzen, geprägt ist.

Die Kirche atmet mit zwei Lungenflügeln

Es darf schliesslich nicht unerwähnt bleiben, dass Johannes Paul II. nicht allein für die Lateinische Kirche als Gesetzgeber fungierte. Am 18. Oktober 1990 promulgierte er auch für die 21 katholischen Ostkirchen mit dem Codex Canonum Ecclesiarum Orientalium ein eigenes Gesetzbuch. Den ostkirchlichen Codex verstand er als eine “neue Ergänzung der Lehre” des II. Vatikanischen Konzils. Für die Tatsache, dass die Katholische Kirche zwei Gesetzbücher besitzt, zog Johannes Paul II. häufig das Bild von den beiden Lungenflügeln heran. Danach atmet die Kirche, durch den einen Geist gesammelt, mit den zwei Lungenflügeln des Ostens und Westens und glüht in der Liebe Christi mit einem Herzen, das zwei Kammern besitzt.

In der Rechtspraxis der Kirche ergänzen sich die beiden Gesetzbücher insbesondere da, wo es um Korrekturen oder Präzisierungen bestimmter Sachfragen geht. So kann man sagen, dass Johannes Paul II. auch die Kanonisten gelehrt hat, stets mit beiden Flügeln der einen Lunge zu atmen. Zugleich macht gerade dieser Aspekt deutlich, dass der Codex kein in Stein gehauenes und damit unveränderbares Gesetzbuch darstellt. Schon früh ist deshalb immer wieder eine kontinuierliche Fortschreibung im Sinne der Einarbeitung notwendiger Änderungen in das Gesetzbuch eingefordert worden. Sowohl Johannes Paul II. als auch Benedikt XVI. haben dieser Forderung, wenngleich nur in wenigen Einzelfällen, durch einschlägige Gesetzesvorgaben entsprochen.

So stehen heute beide Codices des Pontifikates von Johannes Paul II. in dem von ihm bezeichneten “idealen Dreieck” der Kirche. Es bleibt zu wünschen, dass die Gesetzbücher auch auf Zukunft hin ihrem vom neuen Heiligen bezeichneten Ziel dienen. Es geht um die lebendige Begegnung mit Christus im geordneten Leben der Kirche. Auf diese Weise tragen sie ihren ganz eigenen Anteil zu der von ihm gewünschten Neuevangelisierung bei. Auch darin könnte das rechtliche Erbe des grossen Papstes reiche Frucht tragen.

Der Autor hat den Lehrstuhl für Kirchenrecht an der theologischen Fakultät Trier inne.

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