Krise des modernen Zeitgefühls
“Verlust der Aussicht auf die Ewigkeit”
Das forcierte Tempo in der heutigen Zeit hängt, so glaube ich, weitgehend mit dem Verlust der Aussicht auf die Ewigkeit zusammen. Von Bischof Heinz Josef Algermissen
Fulda, kath.net/pbf, 11. Januar 2014
Für die Menschen in früheren Zeiten gehörte die Ewigkeit selbstverständlich zum Leben hinzu. Heute jedoch konzentriert man sich so sehr auf das irdische Leben, dass der Eindruck entsteht, das Leben sei die “letzte Gelegenheit”. Und weil Menschen bei dieser letzten Gelegenheit maximales und optimales Glück erstreben, sind sie dazu verurteilt, vor allem auf ihr eigenes Wohlbefinden zu schauen, das Meiste und Beste aus dem Leben herauszupressen und dabei immer schneller zu leben. Das forcierte Tempo in der heutigen Zeit hängt, so glaube ich, weitgehend mit dem Verlust der Aussicht auf die Ewigkeit zusammen.
Es ist genau dieser Verlust, der uns so eilig macht: Wir wollen überall, wie unsere Sprache verräterisch sagt, “auf dem Laufenden sein”, wollen die Zeit überwinden durch Hochgeschwindigkeitszüge und Flugzeuge, Fax und E-Mail, Internet und Handy. Wir wollen alles gesehen haben und auf Videos festhalten, können dabei aber nur wenig in uns aufnehmen und verarbeiten. Deshalb haben wir so viele Erlebnisse, machen jedoch kaum Erfahrungen, haben viele Kontakte, aber kaum Beziehungen. Als Touristen sind wir überall gewesen, hingegen kaum irgendwo angekommen. Weil wir Zeit gewinnen wollen, haben wir keine Zeit mehr.
In diesem Klima der gehetzten Eile hat das Gebet so gut wie keinen Raum und keine Chance. Und ich frage mich, wie wir in einem solchen Milieu Jesu Zusage “Ihr seid das Salz der Erde… Ihr seid das Licht der Welt” verwirklichen können?
Die Zeit des Gebetes ist eine ganz besondere, ist vor allem Zeit des Wartens und Wachsens, wie die Dichterin Silja Walter mit ihrem schönen Text über das “Kloster am Rande der Stadt” artikuliert hat. Den tiefsten Sinn eines Klosters erblickt sie darin, dass jemand zuhause ist, wenn Gott kommt, dass jemand Gottes Abwesenheit aushält, ohne an seinem Kommen zu zweifeln, und dass jemand Gottes Schweigen aushält und trotzdem singt.
Solche dem Gebet gewidmete Zeit steht zum Zeitverlust in der heutigen Zeit quer. Von daher dürfte es wohl auch kein Zufall sein, dass sich das Zeitverständnis der Bibel in der deutschen Sprache kaum ausdrücken lässt. Die griechische Sprache kennt für das eine deutsche Wort “Zeit” zwei Begriffe mit recht unterschiedlichem Inhalt:
Chronos ist rein quantitativer Begriff und bezeichnet die messbare Zeit. Sie kann am Chronometer abgelesen werden, der ohnehin die Schlüsselmaschine des modernen Industriezeitalters geworden ist, weil er alles reguliert. Diese mechanische Zeit der allgegenwärtigen Uhren beherrscht unser Leben und macht alle Zeiten gleich.
Kairos ist demgegenüber ein qualitativer Begriff. Er bedeutet eine besonders günstige Gelegenheit oder auch eine Situation für fällige Entscheidungen. Erst diese erlebte Zeit ermöglicht Lebensqualität, die nicht dem Diktat der Uhren unterworfen ist.
Während viele Menschen heute in der fatalen Gefahr stehen, die gegenwärtige Weltzeit im Sinne des Chronos misszuverstehen, sollten sich eigentlich Christen dadurch auszeichnen, dass sie in der Zeit des Gebetes das Heilmittel gegen den Zeitverlust ihres Lebens finden.
Diese Arznei findet ihren Ausdruck bereits darin, dass das Kirchenjahr seinen Anfang nicht mit dem Neujahrstag, sondern mit dem 1. Advent nimmt. In der offenkundigen “Unterordnung des bürgerlichen Beginns unter das Geheimnis des Glaubens und seines neuen Anfangs” wird jene “Verwandlung der Zeit” angesagt, “die durch den Glauben geschieht” (Joseph Ratzinger, Gottes Angesicht suchen. Betrachtungen im Kirchenjahr, 1978, S. 9).
Das Beten will uns dazu anleiten, die Zeit nicht gottlos, sondern vor und mit Gott zu leben, was allerdings ohne Gespräch mit ihm nicht möglich ist. Die Frage ist somit existenziell: Sind wir bereit innezuhalten, unser Leben da zu verorten, wo es allein Halt, Stütze und Orientierung finden kann? Der grosse Theologe Karl Rahner hatte schon recht, als er feststellte, der Christ von morgen sei entweder ein geistlicher Mensch oder es gäbe ihn nicht mehr.
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