Entweltlichung reloaded

“Nun also der Durchbruch”

Die Tagespost, 13. Dezember 2013

Von Professor Elmar Nass

Kaum hat Papst Franziskus sein erstes Lehrschreiben “Evangelii Gaudium” veröffentlicht, wird eine Zeitenwende Katholischer Soziallehre bejubelt: der Sieg der rechten Sozialpraxis (Orthopraxie) über die rechte Soziallehre (Orthodoxie). Seit Mitte der Neunziger Jahre wurde vor allem in Deutschland von Lehramtsskeptikern auch ganz offen eine solche Abkehr vom vermeintlich sinnentleerten Fossil der Lehre herbeigesehnt.

Nun also der Durchbruch: Mit Franziskus habe die Praxis das Zepter von der in Benedikt XVI. inkarnierten Schreibtischgelehrsamkeit übernommen: Eine arme Kirche für die Armen entdeckt Schätze in den Herzen der Menschen, die in allem Elend, Dreck und Zweifel des Lebens nicht verzweifeln. Jeder noch menschlich gebliebene Mensch spürt, dass das stimmt. Und dass damit eine Würde gemeint ist jenseits aller materialistischen Wert- und Würdeskalen, eine absolute Würde, die uns in den Gesten und der bildreichen Sprache des neuen Papstes anrührt. Da stimmen wohl alle zu: Menschen dürfen nicht als “Abfall” des “vergötterten Marktes” entwürdigt werden.

Intuitiv spüren wir mit, dass ein solcher Geist die Würde relativiert. Die Welt wurde zu einem herzlosen Betonbau ohne Fenster für den Schöpfergeist, der nicht von dieser Welt ist. So hat es Benedikt XVI. in seiner Bundestagsrede ausgedrückt. Hier brillierte er mit der christlichen Vernunftbegründung unantastbarer Menschenwürde. Er sprach vom Geist des Relativismus, den das Naturrecht herausfordert. Das alles aber klang manchem wohl wie allzu abstrakter Verstand. Denn geklatscht wurde an anderen Stellen. Franziskus beklagt heute einen Geist individualistischer Traurigkeit, er mahnt zu einer permanenten Mission in dieser Welt, zu einer “Revolution der zärtlichen Liebe“, mit der wir die Welt beseelen sollen. Das rüttelt wach, klingt warmherzig und gewinnend. Ja, so können Christen die Welt gestalten. Benedikt sprach von der “Liebe in Wahrheit”, mit der wir das Gute erkennen und den Visionen einer “Menschheitsfamilie” wie einer “Kultur des Schenkens” Gesichter geben können. Das wurde allenfalls in wenig beachteten Fachzirkeln diskutiert.

Franziskus wünscht sich, was wir alle wollen: den offenherzigen Dialog in der Ökumene. Sein Vorgänger gilt vielen als deren Hemmschuh. Dabei baute Benedikt in seiner Enzyklika ‘Caritas in veritate’ eine in ihren Fundamenten kaum zu überschätzende Brücke zu den Kirchen der Reformation. Katholisches Verständnis von Gottes Naturgesetz und die lutherische Idee des göttlichen Liebesgesetzes sind nunmehr miteinander denkbar: eine systematische Meisterleistung der Ökumene.

Doch das war keine Schlagzeile wert.

Franziskus beklagt die Gefahren einer Weltlichkeit der Kirche und geht Reformen der Kurie an. Das löst Jubelstürme aus. Alle wissen worum es geht: geistliches Profil statt Filz und Machtgebaren. Als Benedikt die Entweltlichung der Kirche anmahnte, gab es dagegen Kopfschütteln, weil man einen angestrebten Rückzug aus der Welt hineinlas. Dabei meinen beide Päpste offensichtlich das Gleiche: dem Einzug des entwürdigenden Zeitgeistes im Herzen der Kirche entgegen dort wieder die Freude des Evangeliums und so das Gewinnende unseres Glaubens einpflanzen. Anders als die Propheten der franziskanischen Zeitenwende es herbeireden, entspricht es mehr dem Auftrag des Evangeliums, die Kraft der Symbiose beider Pontifikate zu entdecken. Was Benedikt schlüssig begründete, will Franziskus umsetzen: Unser Glaube ist vernünftig. Und mit ihm lässt sich die Welt verändern. Praxis ohne Lehre ist leer, Lehre ohne Praxis ist blind. Was Orthodoxie und Orthopraxie eint, ist die Überzeugung vom Rechten als Gott gegebener Orientierung. Und die kann nicht relativ sein. Gott sei Dank für Benedikt und Franziskus, die in all ihrer Unterschiedlichkeit ein Papsttum kirchlicher Entweltlichung für die Welt eingeläutet haben.

Der Autor ist Professor für Wirtschafts- und Sozialethik in Fürth.

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