Der Vertrag

Ein Werk mit Licht und Schatten

Quelle

Die Tagespost, 30. November 2013

Weniger Schulden, mehr soziale Gerechtigkeit – überraschendes Lob der christlichen Kirchen – Lebensschutz: Nahezu vollständige Fehlanzeige. Von Stefan Rehder

“Deutschlands Zukunft gestalten” – unter diese Überschrift haben CDU, CSU und SPD den Koalitionsvertrag gestellt, den Angela Merkel, Sigmar Gabriel und Horst Seehofer am Mittwoch vor laufenden Kameras in Berlin gemeinsam unterschrieben. Ob er die Grundlage bildet, auf der die Bundesrepublik Deutschland in den kommenden Jahren von einer Grossen Koalition regiert werden wird, muss allerdings abgewartet werden. Das entscheiden – ein Novum in der Demokratiegeschichte – die Mitglieder der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands.

Gegliedert in acht Kapitel liest sich das 185 Seiten umfassende Werk über weite Strecken eher wie eine Anleitung zur Verwaltung eines Staatsbetriebs, denn als ein Manifest des Aufbruchs. Dafür gibt es angesichts der Herausforderungen, die in der Präambel des Vertrags erstaunlich ungeschminkt aufgezählt werden, allerdings auch wenig Spielräume. So räumt das Papier gleich zu Anfang ein, dass von der guten wirtschaftlichen Entwicklung, die Deutschland in den letzten Jahren “wie kaum ein anderer Staat in Europa” genommen habe, “nicht alle Menschen” profitiert hätten. Die Unterzeichner erklären, sich nicht länger mit “unsicheren Beschäftigungsverhältnissen und Einkommen, die nicht zum Leben reichen” sowie mit der “grossen Zahl von Familien und älteren Menschen, die nicht ohne Grundsicherung auskommen” abfinden zu wollen. Gleiches gelte auch für den “Lohnabstand zwischen Frauen und Männern”. Weder dürften die “Bildungs- und Zukunftschancen junger Menschen von ihrer sozialen Herkunft” abhängen, noch dürften “steigende Energiepreise” private Haushalte und Unternehmen “überfordern”. Auch die globalen Herausforderungen, die für eine exportorientierte Wirtschaft wie die deutsche, besondere Bedeutung besitzen, werden nicht verschwiegen. “Globale Ungleichgewichte, Klimawandel und der Verbrauch knapper Ressourcen” erforderten ein “neues nachhaltiges Wohlstandsmodell”. Die “europäische Schuldenkrise” sei “noch nicht überwunden” und fordere “auch in den kommenden Jahren Anstrengungen.” “Gleichzeitig” stehe das Land mit “der ältesten Bevölkerung in Europa” angesichts des “demografischen Wandels, dem Fachkräftemangel und der fortschreitenden Digitalisierung unseres Lebens vor neuen tiefgreifenden Herausforderungen”.

Die Beantwortung der Frage, wie all diesen Herausforderungen begegnet werden soll, fallen unterschiedlich konkret und detailliert aus. Grundlage für alles ist die Konsolidierung der Staatsfinanzen. Einnahmen und Ausgaben des Bundes sollen so gestaltet werden, “dass der Bund ab dem Jahr 2014 einen strukturell ausgeglichenen Haushalt und beginnend mit dem Jahr 2015 einen Haushalt ohne Neuverschuldung aufstellt”. Ferner sollen “alle gesamtstaatlichen Verpflichtungen aus dem Europäischen Fiskalpakt eingehalten werden” und die “Schuldenstaatsquote bis Ende 2017 von 81 Prozent (2012) auf unter 70 Prozent des Bruttoinlandsproduktes zurückgeführt werden. In diesem Zusammenhang kündigt der Vertrag auch einen intensiveren Kampf gegen Steuerhinterziehung, Sozialversicherungsbetrug, Schwarzarbeit und illegale Beschäftigungen nebst entsprechenden Gesetzesnovellen an. Ein Verzicht auf Steuererhöhungen findet sich allerdings nirgends festgeschrieben.

In der wichtigen Frage des Ausbaus erneuerbarer Energien haben sich Union und SPD auf eine Steigerung des Ökostromanteils von 55 bis 60 Prozent bis zum Jahr 2030 geeinigt. Daran sollen sich auch die Genehmigungen für den Bau neuer Windparks sowie konventioneller Kraftwerke orientieren. Das umstrittene “Fracking” soll “um Wissensdefizite zu beseitigen” stärker erforscht werden. Wenig überraschend ist die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns (ab 2015) sowie die stärkere Regulierung von Leiharbeit und Werkverträgen oder die Einführung einer Mitpreisbremse bei Neuvermietungen.

Ein paar Überraschungen gibt es dennoch: Positiv fällt dabei vor allem die Würdigung der Bedeutung der Kirchen und Religionsgemeinschaften auf. Dazu hält der Vertrag fest: “Sie bereichern das gesellschaftliche Leben und vermitteln Werte, die zum Zusammenhalt unserer Gesellschaft beitragen.” Weiter heisst es: “Die christlichen Kirchen und ihre Wohlfahrtsverbände sind in vielen Bereichen unserer Gesellschaft unverzichtbar, nicht zuletzt im Bildungs-, Gesundheits- und Sozialbereich, bei der Betreuung, Pflege und Beratung von Menschen sowie in der Kultur.” Ausdrücklich hebt der Vertrag hervor: “Zahlreiche Leistungen kirchlicher Einrichtungen für die Bürgerinnen und Bürger sind nur möglich, weil die Kirchen im erheblichen Umfang eigene Mittel beisteuern und Kirchenmitglieder sich ehrenamtlich engagieren.” Anders als viele andere Staaten Europas erkennen Union und SPD explizit die Prägung Deutschlands durch das Christentum an und verpflichten sich vor diesem Hintergrund “zum Respekt vor jeder Glaubensüberzeugung”. Wörtlich heisst es in dem Vertrag: “Auf der Basis der christlichen Prägung unseres Landes setzen wir uns für ein gleichberechtigtes, gesellschaftliches Miteinander ein.”

Vergeblich sucht man in dem Werk Aussagen zu bioethischen Fragen. Weder am Lebensanfang noch am Lebensende scheinen Union und SPD Regelungsbedarf zu sehen. Selbst die drängende Frage der organisierten Suizidbeihilfe, die in der vergangenen Legislaturperiode zwischen Union und FDP noch für reichlich Zündstoff sorgte, findet keine Erwähnung. Lediglich an einer Stelle, bei der es eigentlich um die “Weiterentwicklung” von Adoptionsverfahren geht, taucht ein bioethisches Reizthema auf. Dort heisst es ziemlich unvermittelt: “Die Leihmutterschaft lehnen wir ab, da sie mit der Würde des Menschen unvereinbar ist. Wir werden das Recht des Kindes auf Kenntnis seiner Herkunft bei Samenspenden gesetzlich regeln.” Man darf gespannt sein, was sich dahinter genau verbirgt.

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