“Da gehen ja Hinz und Kunz mit”

Bunt, immer professioneller und ein neuer Rekord

Maria FriedensköniginQuelle

4 500 Lebensrechtler nahmen am “Marsch für das Leben” durch Berlin teil. Von Matthias Lochner

Samstag, 21. September, einen Tag vor der Bundestagswahl. Über Berlin scheint die Sonne, nur wenige Wolken treiben am Himmel dahin. Katharina ist aufgeregt, es ist ihre Premiere. Die 23-Jährige, rund 1,70 Meter gross, ist sportlich gekleidet. Ihr braunes, schulterlanges Haar hat sie zu einem Zopf gebunden, ein Lächeln im Gesicht. Die Berlinerin ist “Pro-Life”, doch beim “Marsch für das Leben” war sie noch nie.”Immer ist was dazwischen gekommen, diesmal hat es endlich geklappt.” Nun steht sie unmittelbar vor der Bühne, wo gleich die Auftakt-Kundgebung beginnt. Zum dritten Mal in Folge findet diese direkt neben dem Bundeskanzleramt statt. Christoph Pagel und seine Band sorgen dort schon für Stimmung und kommen bei den Lebensrechtlern, die aus ganz Deutschland angereist sind, gut an. Zum elften Mal hat der Bundesverband Lebensrecht (BVL), der Dachverband von 13 deutschen Lebensschutzorganisationen, bereits zum Schweigemarsch in die Hauptstadt geladen.

Um 13 Uhr betritt der BVL-Vorsitzende Martin Lohmann die Bühne, begrüsst die Teilnehmer und dankt für ihr Kommen. Gegendemonstranten stören durch Pfiffe und Rufe. Wie in den vergangenen Jahren hat das “Bündnis für sexuelle Selbstbestimmung”, ein Zusammenschluss strikter Abtreibungsbefürworter, zu Gegenprotesten aufgerufen. Doch die Lebensrechtler lassen sich davon nicht aus der Ruhe bringen. Im Wechsel mit Musik geben Lebensrechtler kurze Statements ab. Hedwig von Beverfoerde, Koordinatorin der Europäischen Bürgerinitiative “Einer von uns”, macht den Anfang. Die Initiative will erreichen, dass sich die EU an ihr eigenes Recht hält und die Finanzierung von Forschung, bei der menschliche Embryonen getötet werden, stoppt. “Wir haben EU-weit und in Deutschland das notwendige Quorum erreicht. Das ist ein grosser Erfolg”, so Beverfoerde. Demnächst muss sich die EU-Kommission mit dem Anliegen beschäftigen. “Ich habe abgetrieben”, ruft Astrid aus den Niederlanden mit zittriger Stimme. Es sei nur der Gnade Gottes zu verdanken, dass sie heute hier stehe. “Bis heute bereue ich meine Abtreibung. Ich wünschte, jemand hätte zu mir gesagt: ‘Tu es nicht'”, sagt sie traurig. “Ich möchte eine Gesellschaft, in der sich jede Frau für ihr Kind entscheiden kann”, fordert denn auch Angelika Doose, Vorsitzende der “Jugend für das Leben”, der Jugendorganisation der “Aktion Lebensrecht für Alle”.

Höhepunkt der Kundgebung allerdings ist der Auftritt von Michaela Schatz. Sie betritt mit Holm Schneider, Genforscher und Leiter der Molekularen Pädiatrie am Universitätsklinikum Erlangen, die Bühne. Michaela ist 21, trägt eine Brille, hat braunes langes Haar und ein fröhliches Gesicht. Sie ist Schneiders Sekretärin, hat Trisomie 21 und ist sehr glücklich. Ruhig und mit fester Stimme trägt sie ihr Statement vor. Selbst die Abtreibungsbefürworter verstummen jetzt. “Ich bin total froh, auf der Welt zu sein. Und das gilt nicht nur für mich, das gilt für alle – mit und ohne Down-Syndrom.“ Sätze, die unter die Haut gehen. Das Publikum antwortet mit tosendem Applaus. “Das war das beste der Kundgebung“, sind sich später viele einig. Michaelas Zeugnis bewegt auch Katharina. Sie ist hier, weil sie ein Zeichen setzen will. Wie ihr Umfeld das sehe? “Meine Freunde haben Verständnis, sie würden aber nicht mitgehen.“ Die meisten seien nicht gegen Abtreibung. Das liege letztlich an Unwissenheit und Desinteresse.

Es ist soweit: Gegen 14 Uhr setzt sich die Menge in Bewegung. Wie gewohnt werden weisse Holzkreuze und bunte Schilder mit lebensfrohen Fotos und Sprüchen verteilt. Die Abtreibungsbefürworter schaffen es immer wieder, sich unter die Reihen zu mischen und Kreuze zu entwenden. Dann halten sie sie demonstrativ falsch herum in die Höhe oder zerstören sie. Laut Polizeiangaben sind rund 200 Gegendemonstranten gekommen. Rund 120 von ihnen sind bei einer Kundgebung am Brandenburger Tor, circa 80 begleiten den Marsch, wechseln mehrfach den Standort und stören lauthals. “Für die Freiheit, für das Leben, Fundis von der Strasse fegen” – “Hätt’ Maria abgetrieben, wär’t ihr uns erspart geblieben“ – “Kondome, Spirale, Linksradikale”, sind nur einige Beispiele ihrer Parolen.

Zum ersten Mal waren auch Femen-Aktivisten mit dabei. Auf ihre entblössten Oberkörper hatten sie Parolen wie “Mein Körper mein Recht“, “Recht auf Abtreibung“ und “No fetus defeat us“, zu deutsch “Kein Fötus besiegt uns“, geschmiert.

Zum Glück verläuft der Tag grösstenteils friedlich. Es habe nur wenige Zwischenfälle und keine handgreiflichen Auseinandersetzungen gegeben, freut sich der Einsatzleiter später. Was wohl auch daran liegt, dass sich die Marschteilnehmer nicht provozieren lassen. “Gar nicht reagieren oder lächeln, das ist das Beste. Ich bete für sie“, meint ein älterer Herr lächelnd. Ob ihn die Sprüche ärgern? “Nein, die sprechen doch für sich. Die Parolen sind primitiv, öde und unkreativ: Jedes Jahr dieselben.“ Warum die Abtreibungsbefürworter so aggressiv sind? “Das liegt sicher an Ressentiments gegen Christen und die Kirchen. Vorurteile, die dann noch durch die Medien befeuert werden“, vermutet eine blonde Frau, Mitte 40. Die Route führt diesmal vom Kanzleramt vorbei am Brandenburger Tor über den Potsdamer Platz, vorbei am Bundesrat und dem Gendarmenmarkt bis hin zum Berliner Dom. Hier schliesst die Veranstaltung mit einem ökumenischen Freiluftgottesdienst. Ursprünglich war geplant, den Gottesdienst im Dom zu feiern. Das Domkirchenkollegium hatte dies allerdings abgelehnt: Man sehe es als problematisch an “die ausgesprochen sensiblen und komplexen Themen menschlicher Existenz – wie zum Beispiel einen Schwangerschaftsabbruch oder die Präimplantationsdiagnostik – zum Gegenstand einer Aktion mit dem Namen ‘Marsch für das Leben‘ zu machen“, so die Begründung.

Drei protestantische Bischöfe unter den Teilnehmern

Der Bischof der Selbstständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche (SELK), Hans-Jörg Voigt, hat dafür kein Verständnis. “Ich würde mir ein stärkeres Engagement der christlichen Kirchen wünschen.“ Der Lebensschutz sei uns als Christen besonders aufgegeben, “denn Gott ist ein Gott des Lebens“. Neben ihm gehen noch Altbischof Jobst Schöne und Regionalbischof Johannes Rehr mit – beide ebenfalls von der SELK. Einen katholischen Bischof sucht man vergeblich. “Ich wünsche mir mehr Mut von den evangelischen und katholischen Bischöfen. Sie schicken zwar schöne Grussworte, aber kaum einer traut sich, das hier persönlich vorzubringen“, so Regionalbischof Johannes Rehr.

Wer schon öfter mitgegangen ist, entdeckt bekannte Gesichter. Es sind aber auch viele neue dabei. So wie die Teilnehmer der “Sonderreise zum Marsch“, die die Agentur “Ragg’s Domspatz“ organisiert hat. Neben Gottesdiensten und Begegnungen mit Gästen aus dem “katholischen Berlin“ stehen auch eine Stadtrundfahrt und eine Soirée auf dem Programm. Im Mittelpunkt jedoch steht der Marsch. 30 Personen seien dabei, so Agenturchef Michael Ragg. “Das Entscheidende ist, dass sie nicht gekommen wären, wenn es keine organisierte Reise gäbe.” Auffällig stark vertreten ist auch die junge Generation. Allein 80 Jugendliche nahmen diesmal am Programm der “Jugend für das Leben“ teil. “Gerade unter jungen Menschen wächst die Sensibilität für das Leben. Das macht Mut!“, erklärte Lohmann denn auch nach dem Marsch.

Erfreulich ist auch die Unterstützung durch Grussworte. Etwa ein Dutzend Bischöfe, darunter der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, die Erzbischöfe von Köln und Hamburg sowie der Apostolische Nuntius in Deutschland, haben eines gesandt. “Mit Besorgnis nehmen wir wahr, dass das menschliche Leben immer verfügbarer zu werden droht.“ Das Leben sei jedoch eine kostbare Gabe Gottes, die es unbedingt zu schützen gelte, schreibt etwa Robert Zollitsch. Aus der Politik kommt deutlich weniger Unterstützung als früher. Immerhin: Volker Kauder, Patrick Sensburg und Steffen Flath von der CDU sowie Martin Kastler von der CSU haben Grussworte geschickt. Der Europaabgeordnete Kastler etwa dankt den Teilnehmern für ihr “unübersehbares Signal“. Die Abtreibung sei ein Skandal, “mit dem wir uns niemals abfinden dürfen“. Zugleich mache der Erfolg von “Einer von uns“ Mut.

Wie die Bürgerinitiative ist auch der Marsch ein voller Erfolg. Die Gründe dafür liegen auf der Hand. Die Lebensrechtsbewegung wächst und wird bunter. So viele privat organisierte Reisebusse gab es noch nie. Auch die Teilnehmerzahl am Marsch steigt stetig. Diesmal ist der Sprung von 3 000 im Vorjahr zur neuen Rekordzahl von 4 500 sogar besonders gross. Und: Beim Marsch sind viele gesellschaftliche Gruppen und alle Altersklassen vertreten. Ein Passant drückt es so aus: “Mich überrascht, wie viele das sind. Da gehen ja Hinz und Kunz und keine Radikale mit. Die Teilnehmer repräsentieren unsere Gesellschaft.“ Ferner lässt sich feststellen, dass sich die Szene professionalisiert hat. Die Märsche sind von Jahr zu Jahr besser organisiert. Die Zusammenarbeit, etwa mit den Einsatzkräften, hat sich eingespielt. Auch die Pressearbeit war in diesem Jahr intensiver als je zuvor. Zudem bieten immer mehr Lebensschutzorganisationen ein vielfältiges Rahmenprogramm an. So wird die Teilnahme auch für Menschen attraktiv, die eine weite Anreise haben. Doch auch das lässt sich nicht leugnen: Das Verhältnis der Kirchen zu den Lebensrechtlern bleibt ambivalent. Einerseits wurde ihnen ein Gottesdienst im Berliner Dom untersagt, anderseits waren drei evangelische Bischöfe anwesend. Gingen vor zwei Jahren noch die beiden Berliner Weihbischöfe mit, so war diesmal kein katholischer Bischof dabei. Aber: So viele Bischöfe wie nie zuvor haben Grussworte übermittelt.

Man darf gespannt sein, ob und wie sich diese Tendenzen weiterentwickeln. Eine enge Kooperation mit den Kirchen, wie sie etwa in den USA selbstverständlich ist, wäre sicher ein weiterer Schritt nach vorne, der freilich von zahlreichen Faktoren abhängt. Was jeder selbst in der Hand hat, ist die Steigerung der Teilnehmerzahl. Dazu hat der BVL ein klares Motto: “Jeder Teilnehmer bringt im nächsten Jahr noch einen mit.“ Katharina will auf jeden Fall wiederkommen. Und hat auch schon eine Idee, wen sie mitbringen wird.

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