Vom schönsten Geschenk

Auf Augenhöhe sein mit dem Zeitgeist – für viele Christen ist dies die erste Kirchenpflicht

Das schönste GeschenkGerade beim Thema Ehe und Familie. Schaut man jedoch genauer hin, was die Menschen suchen, was ihnen wichtig ist, so entdeckt man, dass Liebe und Vertrauen immer noch die Wunschliste anführen. Sich dem einen anderen Menschen zu geben, ein Leben lang – diese Dimension des Seins ist topaktuell und mehr als ein Trend. Von Monika Metternich

Auf vielen Brücken in Deutschland drücken Verliebte ihre Gefühle mit Schlössern aus, die sie an das Bauwerk ketten. Ein Brauch, der viel über aktuelle Sehnsüchte verrät. Foto dpa

Schon von Ferne sieht man sie an den Brückengeländern blitzen. Kommt man näher, hängen sie zuhauf da – die farbenfrohen Schlösser, die dicht an dicht an den Streben angebracht sind. Herzen sind darauf gezeichnet, mit unendlich vielen Namen: “Sabine und Jens”, “Anna und Boris”, “Johanna und Klaus” und hunderte, wenn nicht tausende von anderen. Auf vielen ist zu lesen: “Auf ewig!” und “Für immer dein”.

Die Paare, die ihre Liebesschwüre an die Brücke über dem dahinfliessenden Fluss gekettet haben, widersprechen wohl am hübschesten der “Orientierungshilfe zu Ehe und Familie” der evangelischen Kirche Deutschlands (EKD), die in den vergangenen Wochen wortreich debattiert, angegriffen und verteidigt wurde. Eine Facette, die darin bisher noch wenig beachtet wurde, ist die distanzierte, fast bürokratisch anmutende Vorstellung des evangelischen Papiers dessen, was Ehe und Familie “im Innersten zusammenhält”. Trocken wie ein familienpolitisches Positionspapier wird darin vom Wert gegenseitiger Verantwortungsübernahme, vom bildungspolitischen Anspruch, den Problemen gleichberechtigter Familien- und Erwerbsarbeit, von Sorgetätigkeit sowie der Gefahr der Verarmung durch Kindersegen doziert. Jener Kern von Ehe und Familie, den jedes Brautpaar am Grund seines Herzens hingerissen verspürt und auf seine ganze Umgebung ausstrahlt, fehlt jedoch vollkommen: Der Aspekt des Sich-einander-Schenkens, für immer.

Nun mag die Realität heutiger Scheidungsquoten die Vorstellung des “für immer Dein” als romantische, unrealistische Rosawölkchenutopie konterkarieren. Die detaillierte Bestandsaufnahme der “Orientierungshilfe” zeigt daher penibel auf, wo die Probleme in der Realität liegen: “Zwischen Autonomie und Angewiesenheit”. Seltsam blass bleibt jedoch der innerste Charakter der Liebe. Diese wird in dem Papier höchstens als eine Art kirchliches Sahnehäubchen in Anführungszeichen vermittelt: “Der ‘kirchliche Segen‘, den die Paare und ihre Familien erbitten, soll die Liebe stark machen.” Ansonsten gilt: “Protestantische Theologie unterstützt das Leitbild der an Gerechtigkeit orientierten Familie, die in verlässlicher und verbindlicher Partnerschaft verantwortlich gelebt wird.” Quadratisch, praktisch – aber auch gut?

Lassen wir einmal die bereits ausgiebig erörterte “Öffnung“ der Familie beiseite, welche dieses Papier propagiert. In den Fällen “klassischer Brautpaare” sieht die Realität doch ganz anders aus. Da stehen nicht gesellschaftspolitische Utilitarismen im Vordergrund, wenn sie sich gegenseitig das lebensentscheidende Versprechen geben, das “Ehe und Familie“ begründet. Es mag noch vereinzelte Zweckehen geben, aber es ist tatsächlich die Liebe, die heute die wesentliche Voraussetzung für eine Bindung zweier Menschen auf Lebenszeit darstellt. Herauszuarbeiten, was “Liebe“ eigentlich bedeutet, haben sich die Macher der “Orientierungshilfe“ weitgehend gespart. Sie beschränken sich darauf, Hörensagen zu rezipieren und einen subjektiven Zweck herauszufiltern: “Liebe gilt als die intensivste persönliche und exklusive Beziehung zwischen zwei Menschen, und sie wird in einer erfüllten sexuellen und erotischen Beziehung auch so erfahren.” Anders ausgedrückt: Was man so Liebe nennt, ist das, was befriedigenden Sex erfahrbar macht.

Schon der Philosoph Josef Pieper seufzte vernehmlich, als er seinen wunderbaren Exkurs über die Liebe schrieb, angesichts dessen, was in Gazetten, Film und Fernsehen so alles als “Liebe“ bezeichnet werde. Was er sodann sorgsam als Wesenskern der Liebe herausarbeitete, kommt dem, was jungverlobte Paare empfinden, jedoch bedeutend näher als die auf persönlichen und gesellschaftlichen Nutzen ausgerichtete evangelische Handreichung: “Das Ich, das liebt, will vor allem die Existenz des Du.” Das vollkommene Bejahen eines Anderen führe hinein in die Schöpfungsordnung: “Dass in der Tat die äusserste Gestalt der Bejahung, die überhaupt gedacht werden kann, die creatio ist, die Erschaffung im strikten Sinn. Schöpfertum ist der Komparativ des Ja-Sagens.” Dass dieses schöpferische Ja-Sagen alle Facetten der Liebe – und somit insbesondere den Gesamtkontext “Ehe und Familie” – umfasst, hat Josef Pieper so klar und grossartig dargestellt, dass man sein Werk “Lieben – glauben – hoffen” gerade jetzt jedem Christen empfehlen kann, der sich von der evangelischen “Orientierungshilfe” fehlorientiert fühlt. Interessant ist weiterhin, dass in dem 160-seitigen Papier nicht ein einziges Mal vom Schenken die Rede ist, ungeachtet jenes “für immer dein”, das doch das grösste Geschenk apostrophiert, das sich zwei Menschen machen können.

Dieses Sich-Schenken stellt ja gerade eine willentliche Aufgabe der totalen Autonomie dar – nicht etwa, um in Angewiesenheit zu stürzen, sondern aus dem unbedingten Ja heraus, das dem geliebten Anderen gilt – in eine ungewisse Zukunft hinein. Dieses Versprechen beinhaltet, wie der Philosoph Robert Spaemann sagt, “dass die Bedeutsamkeit des eigenen Lebens für das Leben eines anderen zu einem zentralen Strukturelement dieses eigenen Lebens wird”. Es lohnt, sich deshalb einmal grundsätzliche Gedanken über die Bedeutung des Schenkens zu machen, um das Sich-selbst-Schenken als grösste aller Gaben einordnen zu können.

Selten machen wir uns darüber Gedanken, dass vom ersten bis zum letzten Atemzug jeder Mensch ein Gebender und Empfangender ist. Papst Benedikt XVI. brachte es in seiner Sozialenzyklika “Caritas in veritate” auf die knappe und dem Topos vom “Homo oeconomicus” entgegengesetzte Formel: “Der Mensch ist für das Geschenk geschaffen.” Mit dem ersten Schluck Nahrung wird der Säugling zum Beschenkten – sein erstes Lächeln schenkt seiner Mutter Freude. Das Geben und Empfangen wird also bereits als vorsprachliche Körpersprache evident. Die Eltern schenken ihrem Kind Worte und dadurch die Sprache, die ihn erst zum lebensfähigen Menschen macht – das Kind gibt ihnen im Gegenzug Zuneigung und Antwort. Das Geben und Empfangen durchdringt buchstäblich jede menschliche Aktion: Man gibt und nimmt nicht nur Dinge, sondern auch Zeichen, Worte, Aufgaben und Funktionen. Man schenkt sich Zeit, Aufmerksamkeit, Interesse.

Diese Tatsache zieht einen Symbolismus nach sich, der uns im Alltag gar nicht bewusst ist und der von geradezu ritueller Bedeutung für die Gewohnheit des Schenkens ist. Die “Ökonomie der Gabe” gleicht dabei einem Kreislauf. Gegenseitigkeit und Reziprozität sind die Stichwörter: Man spricht von einem “symmetrischen Tausch“, wenn eine Balance zwischen Gabe und Gegengabe, zwischen Geber und Empfänger herrscht. Der “asymmetrische Tausch” hingegen ist subtiler – in ihm scheint zuweilen die Symbolik vom erhabenen Spender und vom unterwürfigen Empfänger auf.

Und oft zu Recht: So beschreibt beispielsweise Jean Jacques Rousseau in seiner “Träumerei eines einsamen Spaziergängers”, wie einer der Gäste eines feinen Diners Mengen von Pfefferkuchen kauft und sie gezielt unter die im Park Erholung suchende Bevölkerung wirft. Die armen Bauernbuben stürzen sich darauf und prügeln sich grün und blau um die feinen Gebäckstücke. Ein wildes Gebalge, ein irrwitziges Durcheinander bewirken diese “guten Gaben”. Die “edlen Schenker” amüsieren sich dabei aufs Prächtigste. Rousseau widert das bewirkte Chaos bald nur noch an. Er wendet sich ab. Da sieht er ein kleines Bauernmädchen, das in einem Korb noch ein Dutzend Äpfel trägt, welches es zum Verkauf anbietet. Rousseau kauft dem Mädchen alle seine Äpfel ab und verteilt sie einzeln an umstehende Kinder. Obwohl es letztlich dieselbe Situation ist wie die “verschenkten” Pfefferkuchen, spürt er nun eine fast paradiesische Atmosphäre. Da herrscht Freude über das Geschenk – und diese flutet zum Geber zurück und verschafft ihm ein warmes Vergnügen. “Als ich über die Art des Vergnügens, das ich kostete, nachgedacht hatte, fand ich, dass es weniger im Gefühl des Wohltuns bestand als in dem Vergnügen, zufriedene Gesichter zu sehen.” Zufriedenheit, Frieden – so wird aus Rousseaus Erinnerung deutlich, all das trägt Ordnung in sich. Schenken hingegen, um sich selbst dadurch Befriedigung und – in diesem Falle auch noch ausgesprochen fragwürdige – Unterhaltung zu verschaffen, bringt Unordnung mit sich und Chaos.

Die Schattenseiten reziproken Schenkens erleben wiederum nicht nur Eltern, deren Kinder in den Kindergarten gehen. Ungezählt die Kindergeburtstage und Wichtelnachmittage, zu denen Geschenke mitgebracht werden müssen. Nie sollen sie zu “dürftig” ausfallen – denn sonst hätte man sich dem Verdacht der Gleichgültigkeit ausgesetzt oder schlimmer noch jenem, Mama und Papa könnten sich nichts Besseres leisten. Zu üppig dürfen die Geschenke jedoch auch nicht geraten, da man sonst die Beschenkten in die Verlegenheit bringt, sich sofort wieder auf gleichem Niveau revanchieren zu müssen, um nicht schlecht dazustehen – und beim nächsten Mal läge der schwarze Peter wieder bei einem selbst. Ein Teufelskreis, der Erschöpfung und Unmut mit sich bringt. Letztlich liegt dieser Art des Geschenkespektakels die Motivation zugrunde, selbst gut dazustehen, angepasst zu sein und möglichst nicht unangenehm aufzufallen.

Eine Oase des Friedens in dieser Hinsicht stellten andererseits noch bis vor einigen Jahren Freunde und Familie dar: War man ohne einen besonderen Anlass bei ihnen eingeladen, brauchte man nichts zu schenken. Diese schöne Tradition wird aber inzwischen auch mehr und mehr auf dem Altar einer zunehmenden Kommerzialisierung der Beziehungen geopfert. Im Geist der antiken Ethik war es hingegen die Freundschaft – eine der vielen Facetten der Liebe! – die alles zum Gemeinsamen machte. Basis war die Überzeugung, dass man sich in Familie und Freundeskreis nichts schuldig sei. Die Freundschaftsmähler der Griechen atmeten den Geist dieser Gleichheit unter Gleichen – ein mitgebrachtes Geschenk hätte diesen aus dem Gleichgewicht gebracht und womöglich die Freundschaft gefährdet durch den wiedereinsetzenden Kreislauf des ausbalancierten Gebens und Erhaltens. Wurde hier die Gegenseitigkeit ausser Kraft gesetzt? Mitnichten. Sie geht sogar noch tiefer. Ein Beispiel erzählt über den grossen griechischen Philosophen Sokrates: Aeschines, sein junger Schüler, war arm. Alle anderen Schüler brachten dem bewunderten Lehrer kostbare Geschenke als Gegenwert für seinen Unterricht. Aeschines aber trat vor Sokrates mit den Worten: “Ich habe dir nichts deiner Würdiges zu geben, und nur darum fühle ich mich arm. Daher schenke ich dir das einzige, was ich besitze: mich selbst.” Sokrates dankte Aeschines und antwortete, er werde “Sorge tragen, es dir besser zurückzuerstatten, als ich es erhalten habe”. Einer gibt alles, was er ist, weil er nichts anderes zu geben hat. Und was er zurückerhält ist, dass er dadurch zu seinem besseren Selbst verwandelt wird.

Ähnlich illustrierte der italienische Dichter des 14. Jahrhunderts Giovanni Boccaccio diese Dimension der Liebe in seinem “Decamerone”, in dem er von einem Ritter erzählt, der sich all seiner Habe entäussert für die geliebte Dame. Er macht sich arm und opfert sogar seinen letzten Besitz, einen wunderbaren Falken: Er tötet den kostbaren Vogel, um seiner Geliebten ein Mahl vorsetzen zu können. Darin liegen zugleich sein höchstes Glück und seine tiefe Erfüllung. Im Christentum verbindet die noch grössere und umfassendere Entsprechung dieser Idee Himmel und Erde, Schöpfer und Geschöpf: “Eine grössere Liebe hat niemand, als wer sein Leben hingibt für seine Freunde.” Der ewige Kreislauf des Gebens und Erhaltens schliesst sich hier in einem neuen Bund: “Denn wer sein Leben hingibt, der wird es erhalten.” Hier spitzt sich die ganze christliche Theologie zu auf die Hingabe, die Neues schafft. Wie Benedikt XVI. sagte: “Aus der Liebe Gottes geht alles hervor, durch sie nimmt alles Gestalt an, und alles strebt ihr zu. Die Liebe ist das grösste Geschenk, das Gott den Menschen gemacht hat, sie ist seine Verheissung und unsere Hoffnung.” So berührt das geschenkte Versprechen “Für immer dein” eine Sphäre, die in die Ewigkeit hineinreicht. Es ist ein Nachvollzug der kreatorischen Liebe Gottes. Darauf muss eine christliche “Orientierungshilfe” zu Ehe und Familie hinweisen. Die Voraussetzung, Zuhörer zu finden ist gut: Dass die Menschen von heute eine tiefe Ahnung von diesem lebensspendenden Geheimnis haben können, zeigt sich sogar an Brückengeländern.

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