Luxus direkt neben Elend
Impressionen von den “Tagen der Begegnung” in Brasilien
Besuch in einer Favela und einem Nobelviertel im brasilianischen Carapicuiba.
Mauern um die Slums
Die Globalisierungsfalle
Carapicuiba Rio, Die Tagespost, 22. Juli 2013,von Clemens Mann
“Das ist weit und breit die einzige Erholungsmöglichkeit in diesem Viertel”, erzählt Maria Rita. Die Jurastudentin deutet auf den kleinen staubtrockenen Bolzplatz vor ihr. Ein brasilianischer Junge, nicht älter als zehn Jahre, klettert gerade durch ein breites Loch im von Rost zerfressenen Maschendrahtzaun.
Ein kitschiges Schlagerlied schallt aus einem Auto über den mit Müll verdreckten Platz, auf dem Kinder barfüssig Fußball spielen. Allein vom Zuschauen schmerzen die Füsse. Von der Seite kläffen aufgescheuchte Hunde über den Platz. Kinder lassen Drachen steigen. Einer besteht nur aus einem gefalteten Blatt Papier. An den Ecken ist notdürftig eine Schnur befestigt. Die ist auf einer Konservendose aufgerollt. Ein laues Lüftchen weht durch die Favela Sao Miguel, einem Elendsviertel der 650 000-Einwohner-Stadt Carapicuiba im Westen des Bundesstaates Sao Paulo. Die Drachen liegen gut in der Luft.
Die Kriminalität in Carapicuiba ist erschreckend hoch. “Die Leute hier verdienen nicht genug Geld und rutschen so in die Kriminalität”, erzählt Maria. “Sie wissen, dass sie dieser Weg in den Ruin führt. Doch vielen sehen einfach keine andere Möglichkeit. Für sie gibt es nur noch zwei Wege: Entweder die Verhaftung oder der Tod.” Vier bis fünf Morde ereignen sich in den Elendsvierteln der Stadt. Pro Monat. Kriminelle Banden bestimmen über Leben oder Tod in dem scheinbar wild wuchernden Häusermeer, das sich die Hänge entlang erstreckt.
Maria gehört zu einer Gruppe engagierter Katholiken der Pfarrei, die sich um Drogensüchtige in dem Viertel kümmert. “Wir arbeiten am meisten mit den Jugendlichen. Die Arbeit ist sehr spontan. Wir gehen in die Favelas und reden einfach mit den Leuten. Wir informieren sie über die Gefahren von Drogen. Und wir holen diejenigen, die nichts mehr anderes im Leben als Drogen und Alkohol haben auch für mehrere Tage hier heraus”, erzählt die 28-Jährige. Während der Woche der Mission im Vorfeld des Weltjugendtages führt sie eine Gruppe deutscher Pilger aus Fulda durch das Elendsviertel. Die brasilianischen Kinder, die später mit den Deutschen für knapp 20 Minuten Fussball spielen werden, haben wohl noch niemals einen Europäer gesehen. Beim Abschied sind sie traurig. Erwachsene spielen sonst nicht mit ihnen, erklärt Christine, eine Brasilianerin mit deutschen Wurzeln, die für die Gruppe dolmetscht.
Maria lotst durch eine enge Gasse über eine kleine Betonbrücke. Braun und trüb fliesst das Abwasser des illegal errichteten Viertels. Grüne und weisse Plastikflaschen verstopfen das Bachbett. Wenige Gehminuten vom Bolzplatz entfernt liegt die kleine Pfarrkirche Sao Miguel. An dem kleinen weissen Bau, am Sonntag bis zum Bersten überfüllt, ist ein Kinderhort angegliedert. 200 Kinder werden dort betreut. Im angrenzenden Gebäude werden Kurse zur Berufsqualifizierung angeboten, berichtet Pfarrer Link. Die Gemeinde, die der aus aus dem Bistum Fulda kommende Priester aufgebaut hat, verteilt Geld und Nahrungsmittel an bedürftige Familien. Ohne die Kirche gäbe es keine Unterstützung für die Ärmsten der Armen, keine Hilfe beim Bau neuer Häuser, kein Geld für Arztbesuche. Die Kirche kämpft dafür, dass die brasilianische Gesellschaft nicht noch weiter auseinanderdriftet. Es ist ein Kampf gegen die Gleichgültigkeit vieler reicher Brasilianer und einem Staat, der in vielen Gegenden vor den sozialen Problemen bereits kapituliert hat, erklärt der 74-Jährige.
Die Sonnenseite des Lebens – von Sao Miguel aus ist sie keinen Kilometer entfernt. Eine dicke Mauer am Hügelkamm trennt zwischen Elend und Reichtum. Dahinter Paläste und Villen, von mit Stacheldraht gekrönten Mauern geschützt. In Faziendinha, einem Ortsteil von Carapicuiba leben die Gewinner der Globalisierung. Bis zu einer Million Euro kostet hier eine Villa, erzählt Cinthia Russo, die als Managerin in der Finanzmetropole Sao Paulo arbeitet. In das Viertel kommt man nur über einen Checkpoint, den Sicherheitskräfte bewachen. Die Strassen sind sauber. Neue Limousinen und Mittelklassewagen brausen auf den breit ausgebauten Strassen herum. Statt Betonwüste spriesst hier viel Grün. Ein Jogger mit Ipod trabt langsam vorbei.
Ortsbesuch in der Gemeinde “Nossa Senhora Aparecida”. Ein idyllisches Fleckchen Erde. Ein kleiner Bananenhain mit Papayabäumen befindet sich auf dem 3 500 Quadratmeter grossen Gelände, auf dem die Deutschen einen Tag nach dem Besuch in der Favela empfangen werden. Man serviert gekühltes Wasser, abgepackt in Plastikbechern, Cola in Dosen, Milchreis und Kuchen. Fast jeder hier spricht Englisch, das nur in den teueren privaten Schulen unterrichtet wird. Etwa 60 bis 80 Leute kommen hier jeden Sonntag in die Gemeinde. Es gibt Pläne für einen Ausbau der Kirche. Alle Familien, die hier leben, sind finanziell gut ausgestattet. “Seit zehn Jahren gibt es eine Aktivierung der Gemeinde”, erzählt Cinthia. Dienste würden verteilt, karitative Projekte gestartet, man verbringt gemeinsam den Urlaub. Neben einer regelmässigen Gebetsgruppe organisieren Gemeindemitglieder ein traditionelles Charity-Dinner. “Mit dem Geld unterstützen wir Bedürftige, die hier in der Nähe wohnen”, sagt Cinthia. Ausserdem veranstaltet die Teilgemeinde seit einigen Jahren Katechesekurse für Kinder und Jugendliche. “In unserer Gemeinde gibt es nicht so viele junge Leute”, sagt Cinthia. “Aber nur eine Kirche mit jungen Leuten hat eine Zukunft.”
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