“Berechtigte Proteste“
Probleme im brasilianischen Bildungs- und Gesundheitswesen
Don Orione-Werk
Luigi Orione
Hl. Luigi Orione
Die Proteste, die in Brasilien auch bis zum Papstbesuch nicht abrissen, richten sich gegen Korruption und soziale Ungerechtigkeit, vor allem im brasilianischen Schul- und Gesundheitswesen. Was sind in diesen Bereichen die grössten Mängel aus Sicht der brasilianischen Kirche? Auf diese Frage antwortete der Don Orione-Missionar Joséph unserer Korrespondentin Anne Preckel in Rio.
Der 58-jährige Brasilianer arbeitet in Bildungsprojekten auf den Philippinen, wo die Kongregation eine Missionsstation hat. Er kam zum Weltjugendtag von Mindanao aus mit einer Jugendgruppe nach Rio. Das brasilianische Bildungssystem produziere soziale Ungerechtigkeit:
“Es ist vor allem sehr teuer. Man hat wenig Möglichkeiten zu studieren. Wenn man tagsüber nicht arbeitet, kann man nachts nicht studieren, weil man das ja alles irgendwie bezahlen muss. Es bräuchte also mehr Möglichkeiten und Gelegenheiten vor allem für die armen Menschen. Sie bräuchten die Zeit, um studieren zu können, aber sie arbeiten von morgens bis abends, um sich die Uni-Kurse leisten zu können. Und die stehen lange nicht allen offen – nur der reichen Klasse.”
Auch im Gesundheitswesen gebe es eine Zwei-Klassen-Logik: Gesundheit könnten sich in Brasilien eigentlich nur die Reichen richtig leisten. Dabei sieht das System auf dem Papier eigentlich einen universellen Zugang aller Bürger zur Gesundheitsversorgung vor.
“Wenn du nicht eine gute Versicherung hast, kümmert sich keiner um dich. Und ich denke vor allem an die armen Leute. Es gibt zwar ein nationales Gesundheitssystem, aber wenn man Gesundheitsversorgung braucht, muss man ein, zwei, drei Monate warten! So was kann man einfach nicht machen. Die Krankenhäuser sind auch schlecht. Und die Ärzte wollen nicht in den abgelegenen Gegenden arbeiten, denn sie bekommen zwar ein gutes Gehalt, aber es fehlen dort die Infrastrukturen.”
Armut und Krankheit kommen gemeinsam
So ist etwa im Bundesland Maranhão, einem der ärmsten Brasiliens, die Säuglingssterblichkeit erheblich höher als in São Paulo, dem reichsten Bundesland. Laut offizieller Vergleichsstatistiken haben Krankheiten in sozial schwächeren Schichten Brasiliens stärkere Auswirkungen, arme Menschen sind früher chronisch krank und haben durchschnittlich eine geringere Lebenserwartung. Pater Joseph machen solche Dinge wütend. Er kann den Unmut vieler Bürger sehr gut verstehen:
“Die Leute haben ein Recht auf solche Dinge, denn wir zahlen ja Steuern! Für mich sind diese Demonstrationen der Schrei der Armen. Brasilien gibt so viel Geld für bestimmte Aktionen aus, doch um die grundlegenden Dinge, die für jeden garantiert sein sollten, kümmern sie sich nicht. Mehr als Proteste sind das also die Stimmen des Volkes. Es ist an der Zeit, sie zu erheben – so viel Geld wird ausgegeben für Sport, die Weltmeisterschaften, schön und gut – aber niemand wird danach gefragt, wie man dieses Geld gebrauchen soll.”
Ohne die Kirchen sähe es noch schlimmer aus
“Der Staat kommt seinen Aufgaben nicht nach.“ So nannte der aus Niedersachsen stammende brasilianische Bischof von Obidos, Bernardo Johannes Bahlmann, diesen Missstand am Freitag im Interview mit dem “Kölner Stadt-Anzeiger“. Die Organisation des Staates funktioniere nur auf dem Papier, so der Geistliche. So werde in abgelegenen Gegenden wie zum Beispiel in Obidos im Bundesstaat Pará “weder in das Schulwesen, noch in die Gesundheitsversorgung investiert“. Um das Bildungs- und Gesundheitswesen wäre es noch viel schlechter bestellt, würde die Kirche nicht Schulen und Krankenhäuser bauen, so Bahlmann. Pater Joseph geht im Gespräch mit Radio Vatikan in Rio auf eine weitere Forderung der Protestbewegung ein:
“Das Transportwesen ist sehr teuer. Vor allem in Rio, in den grossen Städten, bezahlt man eine Menge Geld für die Verkehrsmittel, und die Qualität ist auch nicht so gut.”
Der Missionar ist fest davon überzeugt, dass die jungen Leute, die aktuell in Brasilien auf die Strasse gehen, um gegen diese Missstände zu protestieren, sich auch mit der Kirche zusammentun, um ihre Ziele zu erreichen:
“Ja, ich denke schon, denn unsere Kirche in Lateinamerika war ja sehr stark darin, diese soziale Sicht zu geben und sich um die Bedürfnisse des Volkes, vor allem der armen Leute, zu kümmern. Und ich denke, jetzt ist die Zeit gekommen, um in diese Richtung zu gehen. Die jungen Leute sind jetzt die Kraft!”
Den Weltjugendtag geniesst der Pater in vollen Zügen:
“Es ist so wundervoll (lacht). Man sieht, dass die jungen Leute Durst nach Gott haben. Für mich ist das der beste Ausdruck des Glaubens. Es geht nicht nur darum, den Papst zu sehen, um das Event, sondern tief im Herzen gibt es diesen Durst der jungen Leute nach Gott. Sie suchen nach mehr als nur nach Lösungen nur für wirtschaftliche Probleme, sie suchen nach Gott. Ich bin sehr glücklich, hier zu sein, mit ihnen zusammen.“
Hintergrund
Im Rahmen des gesamtgesellschaftlichen Demokratisierungsprozesses nach der Militärdiktatur gab es in Brasilien Ende der 80er Jahre eine Strukturreform im Gesundheitswesen, das in ein steuerfinanziertes Versorgungssystem mit uneingeschränktem Zugang für alle Bürger verwandelt wurde. De Facto haben Armut, ungleiche Einkommensverteilung und fehlende Infrastrukturen in vielen Gegenden des Landes zur Folge, dass es erhebliche Unterschiede in der tatsächlichen Versorgung gibt.
rv/kna/diverse 26.07.2013 pr
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