Türkische Schicksalstage
Mit naiver Euphorie hat die westliche Öffentlichkeit vor mehr als zwei Jahren dem “Arabischen Frühling” applaudiert.
Die Tagespost, 12. Juni 2013, von Stephan Baier
Mit naiver Euphorie hat die westliche Öffentlichkeit vor mehr als zwei Jahren dem “Arabischen Frühling” applaudiert. Bis in die Adjektive der Meldungen grosser Nachrichtenagenturen hinein wurde den Medienkonsumenten in Europa vermittelt, dass hier eine junge, moderne, demokratisch gesinnte Generation die alten, verknöcherten Autokraten abräume. Wer je bei einer Freitagsdemonstration auf dem Tahrir-Platz war, konnte jedoch wahrnehmen, dass da ganz unterschiedliche Gruppen mit unterschiedlichsten Zielen, Ideen und Ideologien agitierten. Und wer mit halbwegs klarem Blick auf die “Frühlings”-Länder blickt, kann sehen, dass deren rechtsstaatliches Niveau weiter zu wünschen übrig lässt.
Nun hinkt der Vergleich zwischen “Tahrir” und “Taksim” zu sehr, um Parallelen zu erlauben: Doch welche Ziele und Ideen vertreten die in westlichen Medien nahezu heiliggesprochenen Demonstranten in der Türkei – jenseits der Rettung des Gezi-Parks und der Wut auf Erdogan? Worum geht es eigentlich – jenseits der Frage Bäume oder Shopping Mall?
Das Schwarz-Weiss-Bild verträgt ein paar Grautöne: Die türkische Innenpolitik ist mit der deutschen oder italienischen nicht vergleichbar. Der fromme Muslim Erdogan ist weder “konservativ” noch ein “Mann des Systems”, denn das konservative System der Türkei ist seit neun Jahrzehnten laizistisch-religionsfeindlich, nationalistisch und militaristisch. Davon, aber auch vom Islamismus saudischer Prägung, ist Erdogan Lichtjahre entfernt. Er hat den ideologischen Kemalismus zurückgedrängt und die türkische Demokratie mit der islamischen Prägung ihrer Gesellschaft zu versöhnen versucht. Wer ihn mit jenen arabischen Diktatoren vergleicht, die von Gnaden ihrer Generäle regierten, muss sich mangelndes Demokratieverständnis vorwerfen lassen. Westliche Politiker, die nun sorgenvoll zu bedenken geben, Erdogans AKP sei “nur” von der Hälfte der Türken gewählt worden, deshalb repräsentiere der Ministerpräsident nur das halbe Land, sollten auf ihre eigenen Wahlergebnisse blicken. Eine Partei, die in freien Wahlen 50 Prozent erringt – und laut allen Beobachtern auch heute jede Wahl gewinnen würde – regiert legitim.
Viel weniger legitim sind dagegen die alten Instrumente des “tiefen Staates”, die sich einst gegen die AKP Erdogans wandten, die der Ministerpräsident nun aber gegen die Demonstranten auf dem Taksim-Platz in Istanbul selbst anwendet: die Macht der Geheimdienste, des Polizeiapparates und der militärischen Strukturen sowie die Rechtsgrundlage einer Verfassung, die von den Putsch-Generälen einst erlassen wurde und für deren Reform Erdogan bisher mit Recht kämpfte. Erdogan ist (wie Viktor Orbán in Ungarn) demokratisch legitimiert und kann sich auf eine breite Mehrheit stützen. Doch wie in Ungarn, in Spanien, in Frankreich und in Italien gibt es auch in der Türkei einen tiefen Riss, der durch die Gesellschaft geht, und der nicht nur politische Lager, sondern Lebensgefühl, Selbstverständnis und Vision betrifft. Dieser Riss ist nicht in den vergangenen Monaten entstanden, sondern ein Resultat der ideologischen Fieberschübe des 20. Jahrhunderts. Diesen Riss zu kitten, das Lebensgefühl der türkischen Gesellschaft mit der Staatsidee zu versöhnen, war die grosse Ambition Erdogans. Ob er damit scheitert, das entscheidet sich in diesen Tagen.
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