Die unverzichtbare Religion

“Führt Säkularisierung zu Moralverfall?”

Salz der ErdeDie Tagespost, 26.04.2013 

“Führt Säkularisierung zu Moralverfall?” Der Freiburger Soziologe Hans Joas glaubt: Nein. Diese Einschätzung verlangt eine Gegenrede. Von Andreas Püttmann

In einem Brief an alle Bischöfe der Weltkirche schrieb Papst Benedikt XVI. am 10. März 2009: “Das eigentliche Problem unserer Geschichtsstunde ist es, dass Gott aus dem Horizont der Menschen verschwindet und dass mit dem Erlöschen des von Gott kommenden Lichts Orientierungslosigkeit in die Menschheit hereinbricht, deren zerstörerische Wirkungen wir immer mehr zu sehen bekommen.” Anders gesagt: Mit der Säkularisierung, verstanden als Lösung aus den Deutungsmustern und Bindungen der Religion, hier als “Entchristlichung” oder “Exkarnation” (Charles Taylor) des christlichen Glaubens, nehmen die sozialen Beziehungen Schaden, kommt es, speziell in Fragen des Lebensschutzes, zu Moralverfall.

Ausgerechnet ein Inhaber der Regensburger Joseph-Ratzinger-Gastprofessur vertrat in der Jesuiten-Zeitschrift “Stimmen der Zeit” (5/2012) das Gegenteil. Unter dem Titel: “Führt Säkularisierung zu Moralverfall? Einige empirisch gestützte Überlegungen”, einem Vorabdruck aus seinem Buch: “Glaube als Option”, wandte sich Hans Joas gegen die “Parole” des Berliner “Pro Reli”-Volksentscheids: “Werte brauchen Gott”. Der Freiburger Soziologe, Mitglied des Zentralkomitees der deutschen Katholiken, formulierte die Gegenthese: “Dass Säkularisierung zum Moralverfall führe”, sei “bisher mit einem klaren Nein zu beantworten”.

Damit stellt er sich gegen eine breite Koalition von Denkern und lebensklugen Gestaltern von Gesellschaft, darunter etliche, die als Agnostiker apologetischer Tendenzen unverdächtig sind. Joschka Fischer schrieb 1992: “Eine Ethik, die sich nicht auf die tiefer reichende, normative Kraft einer verbindlichen Religion (…) stützen kann, wird es schwer haben, sich in der Gesellschaft durchzusetzen und von Dauer zu sein. (…) Eine Verantwortungsethik ohne religiöse Fundierung scheint (…) in der Moderne einfach nicht zu funktionieren.” Gregor Gysi beteuerte: “Auch als Nichtgläubiger fürchte ich eine gottlose Gesellschaft.” Oskar Lafontaine würdigte die Kirchen bei Günther Jauch als unverzichtbar im Kampf gegen den “rasanten Werteverfall”. Für Joas sind all dies “apriorische” Argumentationsweisen mit “empirischen Defiziten“. Doch spricht aus seiner eigenen Argumentation auch eher der sozialphilosophische Theoretiker als der empirische Forscher. Sein Untertitel zeigt: Das Eigentliche sind die “Überlegungen”, die Empirie soll nur “stützen“. Das müsste ein Sozialwissenschaftler vermeiden. Wenn nicht die empirischen Befunde Ausgangspunkt der Theoreme sind, sondern umgekehrt, schnappt die Falle purer Selbstaffirmation schnell zu.

Joas behauptet, bisher sei ein Moralverfall in den stark säkularisierten Gesellschaften Europas “nicht eingetreten”. Wer befindet eigentlich darüber? Neben der schweren, auch moralisch verursachten Finanzkrise beunruhigt eine Vielfalt weiterer Krisensymptome: die immer brutalere Gewalt- und Jugendkriminalität bis hin zu spektakulären Amokläufen, Mord- und Totschlagsdelikten an Wehrlosen “just for fun” und planmässigem Vandalismus; Korruption, Wettbetrug und Doping im Sport; Drogen-“Normalisierung” und “Komasaufen”, Bildungsmisere bis zur Ausbildungsunfähigkeit, verbreitetes Mobbing und Mitarbeiterbespitzelung, immer aggressivere Werbemethoden und dreistere Konsumententäuschung, die Heroisierung ethischer Minimalisten wie “Titan” Dieter Bohlen, Verkehrsrowdytum und wachsender gewaltsamer Widerstand gegen Polizisten, der Vormarsch der aktiven Sterbehilfe, die längst akzeptierte Massenabtreibung, gestörte Beziehungsfähigkeit, Promiskuität und steigende Scheidungsraten, Kindermangel und Pflegemissstände, die Zunahme psychischer Krankheiten, Entsolidarisierung und bekennende Egozentrik (“Unterm Strich zähl ich”), die Umwertung von Untugenden (“Geiz ist geil”) in der Werbung, virulenter Rechts- und Linksextremismus, Partizipationsmüdigkeit und Verantwortungsscheu.

Joas bleibt den Beleg für seine Behauptung schuldig, dass im Zuge der Säkularisierung noch kein Moralverfall eingetreten sei, schiebt die Beweislast stillschweigend der Gegenseite zu und nennt ihre Hinweise auf solche beunruhigenden Krisenphänomene “sozialwissenschaftlich dilettantisch”. Er “kenne keine ernsthafte Untersuchung“, die hier einen “Anspruch auf Kausalität erheben“ könne. Einen glasklaren Beweis wird man in dieser Hinsicht aber nie führen können, weil man nicht hinter jeden Menschen einen Sozialforscher stellen und seine religiöse Motivation messen kann. Ein Kausalitätsnachweis müsste die zur Verfügung stehenden Ressourcen und Methoden überfordern. Joas widerspricht seiner unerfüllbaren Forderung denn auch selbst mit der Feststellung, es sei “praktisch unmöglich, eine empirisch gesicherte Aussage über die langfristigen, mehrere Generationen umfassenden Wirkungen von Säkularisierungsprozessen auf moralische Orientierungen zu machen“. Daraus kann allerdings nicht folgen, dass wir diese Frage von existenziellem Rang einfach offen lassen. Wer keine Beweise hat, sollte sich zumindest auf die Suche nach empirischen Anhaltspunkten und logischen Plausibilitäten machen. Hinzu kommt die Gefahr eines Zirkelschlusses: “Moralverfall“ würde ja stets nicht nur konkrete Probleme, objektive Missstände zeitigen, die jedermann zu spüren bekommt und erkennt, sondern auch die subjektiven Massstäbe dafür verändern, was als moralisch defizitär oder dekadent einzustufen ist. Wenn jemand keinen Moralverfall zu erkennen vermag, kann dies also selbst ein Symptom für Moralverfall sein.

Wer alles vermischt, endet im ethischen Relativismus

Joas erinnert an den an US-Psychologen William James, der 1902 die Beobachtung formulierte, “dass die grössten Beispiele für Askese und die heroischsten Akte moralischer Dezentrierung bisher ausschliesslich bei religiös motivierten Personen zu finden gewesen seien“. Damit sei aber nicht ausgeschlossen, dass “ähnliche Leistungen von Askese und moralischem Heroismus in Zukunft auch von nichtreligiösen Menschen zustande gebracht würden“. Joas verweist auf das 20. Jahrhundert “mit seinen heroischen Taten im Dienste säkularer Ideale: der Nation, des Sieges der arischen Rasse, des Kommunismus“ und folgert, “dass die Sakralität von Idealen und die daraus entspringenden Energien eben auch an säkulare Inhalte gebunden sein können“. So endet man im ethischen Relativismus: Der aufopfernde Dienst auf dem Schlachtfeld oder im Lager für den Rassen- und Klassenwahn steht plötzlich neben der Aufopferung Mutter Teresas im Dienst an den Sterbenden. Die Gemeinsamkeit lautet: “moralische Dezentrierung“. Der ethische Unterscheidungswert: nahe Null. Was nach 1945 als Moralverfall monströsen Ausmasses für die Mehrheit der Deutschen offenkundig wurde, hatte ihnen noch wenige Jahre zuvor als moralischer Aufbruch im Pathos des Heroismus gegolten. Ein christlicher Wissenschaftler kann die Frage nach “Moralverfall“ nicht bloss formal ohne moralische Axiome zu beantworten. Er muss Sakralität von Pseudosakralität unterscheiden und auch das als “Moralverfall“ erkennen und benennen können, was dem “zeitgenössischen Konsens“, auf den sich Joas beruft, nicht mehr als Moralverfall erkennbar ist.

An die Stelle solcher Axiome treten bei Joas “wertkonstitutive“ Leiderfahrungen “durch das Erlebnis von Ungerechtigkeit oder Herabwürdigung und Gewalt“, die zum Ursprung von Moral werden. Allerdings können solche Erfahrungen unterschiedlich reflektiert und zu widerstreitenden Massstäben verarbeitet werden. Auch bleibt das Problem der Zuordnung konkreter Symptome unter diese Massstäbe, um Amoralität identifizieren zu können.

Hans Joas beruft sich auf eine Studie von Gregory Paul von 2005, wonach “Nationen mit hohen Raten des Glaubens an Gott höhere Mordraten, höhere Sterblichkeit von Jugendlichen und jungen Erwachsenen, mehr Geschlechtskrankheiten, mehr Schwangerschaften von Teenagern und mehr Abtreibungen haben als Nationen, in denen der Glaube an Gott relativ niedrig ist“. Siehe das hohe Gewaltniveau der überdurchschnittlich religiösen USA und den “amoralischen Familismus“ des katholischen Süditaliens. Doch ist der Glaube nur ein Faktor in einer Gleichung mit mehreren Variablen. Wer den Einfluss religiöser Überzeugungen auf die Moral erkennen will, tut gut daran, konkurrierende Faktoren zu neutralisieren. Dazu gehört, dass man moralische Einstellungen von Menschen aus derselben Gesellschaft mit ihrer spezifischen Geschichte, ihrem “kollektiven Gedächtnis“, ihrem allgemeinen Wohlstandsniveau, ihrer Rechtstradition und ihrem Bildungssystem vergleicht. Es hat also Sinn, die Moralauffassungen kirchlich praktizierender Süditaliener mit denen nichtpraktizierender Süditaliener zu vergleichen, aber nicht die von Süditalienern jeglicher Glaubensintensität und Kirchenbindung etwa mit denen dänischer Protestanten.

Zahlreiche nach Konfession, Kirchennähe und religiöser Selbstdefinition ausdifferenzierte Repräsentativbefragungen zeigen starke Korrelationen von Glauben und religiöser Praxis einerseits, Rechtsbewusstsein, Moral- und Wertüberzeugungen andererseits. Kirchenferne Bürger tendieren überdurchschnittlich zu hedonistischen, relativistischen, materialistischen und weniger altruistischen Positionen als “praktizierende“ Christen. Eine neuere Studie der Bertelsmann-Stiftung (Entorf/Sieger 2010) konstatiert gar einen “kriminogenen Einfluss der Konfessionslosigkeit“. Dass Joas diese Befunde unterschiedlichster Institute und Wissenschaftler nicht erwähnt und stattdessen nur eine Studie aus den USA mit einem fragwürdigen Ländervergleich anführt, ist angesichts seiner Ankündigung empirischer Argumente im Untertitel erstaunlich. Soweit es sich bei den deutschen Befunden um Scheinkorrelationen handeln soll, müsste er einen Vorschlag machen, welcher andere Faktor als jener des Glaubens oder der Kirchenbindung sich dahinter verbergen könnte. Wo Joas von den “Wurzeln“ und “Ursprüngen der Moral“ spricht, hat er vor allem Moralbegründungen aus Leidvermeidung und “Reflexion auf die Bedingungen von Kooperation“ im Blick. Als “Waffe zur Erzwingung ihrer Rechte“ spricht er den aufeinander angewiesenen Akteuren am Beispiel gemeinsamen Fischfangs bei melanesischen Stämmen “Reziprozität“ zu, die sich “als Grundlage der gesamten sozialen Struktur erweist“. Einfach gesagt: Er glaubt, die Moral auf Erfahrung und Gegenseitigkeit stützen zu können.

Lässt man die Tauglichkeit des melanesischen Beispiels für hochdifferenzierte, arbeitsteilige Massengesellschaften einmal beiseite, so erscheint der Rekurs auf die “Gegenseitigkeit“ auch darum zu kurz gegriffen, weil es in jeder Gesellschaft Individuen – und im Miteinander sozialer Gruppen Gemeinschaften – gibt, deren Fähigkeit zur Gegenleistung unterentwickelt ist. Vor allem aber gibt es “schon beim Hinzutreten eines Dritten in einer Interaktionskette a-b-c ein Zirkulations- und Garantieproblem“, gesteht Joas dann auch ein. Wenn der A dem B etwas Gutes tut, dann muss der B sich dem C gegenüber noch lange nicht ebenso verhalten, um seine gute Behandlung durch A nicht aufs Spiel zu setzen.

Die somit drohende Instabilität will Joas auffangen durch ein “Vertrauen auf die Einhaltung von Normen“, durch “zusätzliche situationsenthoben-dauerhafte Wertbindungen, etwa an den Wert der Gerechtigkeit“ und konkret durch die “Bindung an die goldene Regel“ oder den “kategorischen Imperativ“. Damit wird das Problem aber nur verschoben, denn wie sollen Vertrauen und Wertbindungen generiert und garantiert werden? Sein Hinweis darauf, “dass Kinder grundlegende moralische Regeln – etwa der Fairness im Spiel – selbstständig und ohne Einwirkung erzieherischer Autoritäten, nämlich in der Reflexion auf die Bedingungen gelingenden gemeinsamen Spiels entdecken können“, erscheint nur auf den ersten Blick überzeugend. Denn Kinder klagten solche Regeln meist zu ihren eigenen Gunsten ein, betont Josef Isensee: “Was der Erzieher dem Zögling zu vermitteln hat, ist vor allem, dass er den Gerechtigkeitsanspruch, den er gegen die anderen erhebt, seinerseits einzulösen hat. Die Goldene Regel: ‘Alles, was ihr wollt, das euch die Leute tun sollen, das tut ihnen auch‘, bedarf allerdings einer pädagogischen Nachhilfe, die das Gewissen schärft, weil normalerweise der moralische Eigennutz kräftiger entwickelt ist als der Sinn für das Recht des anderen”. Dies gilt leider auch noch für Erwachsene, die der beständigen moralischen Kontrolle und Unterweisung durch Erzieher längst entwachsen sind.

Christliche Moral ist “bündnisfähig“ jenseits von Kirchenmauern, weil ihre Erkenntnistheorie sich nicht allein auf christliche Offenbarungswahrheiten stützt, sondern auch auf ein sozialphilosophisches Naturrechtsdenken, durch das man sich grundsätzlich mit jedem Menschen, unabhängig von seinem Glauben, vernünftig verständigen kann. Auch die “Heiden“ haben nach biblischer Auffassung Anteil an der göttlichen Ordnungsvernunft.

Wer am ‘Schräubchen‘ der Religion dreht, ruiniert alles

Die Abgrenzung von Pauschalabwertungen nichtgläubiger Mitbürger sollte aber nicht verdecken, dass die empirischen Durchschnittswerte auf eine höhere Permissivität und einen ausgeprägten moralischen Relativismus bei ihnen hinweisen. Eine Aussage über alle ist keine Aussage über jeden, aber die notwendige Differenzierung der Einzelfälle hebt die allgemeine Aussage nicht auf. Insofern führt Joas’ Hinweis auf die unterschiedliche “moralische Tiefe verschiedener Atheismen“ in der Frage nach den Folgen der Säkularisierung nicht viel weiter. Die Frage lautet: Was passiert, wenn eine ganze Gesellschaft oder der grössere Teil von ihr den Anker lichtet, den das Grundgesetz in seiner Präambel mit der “Verantwortung vor Gott“ geworfen hat?

Internalisierte Glaubensüberzeugungen und Glaubenspraxis durchwirken, bewusst oder unbewusst, die persönliche Existenz in all ihren Dimensionen: als Familienmensch, als Freund und Partnerin, Vater oder Mutter, als Berufstätiger, Vereinsmitglied und Nachbar, als Wirtschaftssubjekt und Staatsbürger. Religiöse Überzeugungen beeinflussen Denken, Fühlen und Handeln, Sitte und Moral, Wert- und Unwertbewusstsein, Konsum- und Wahlentscheidungen. Es ist daher naiv anzunehmen, man könne im Räderwerk einer modernen Gesellschaft gleichsam am “Schräubchen” Religion drehen, ohne dass sich damit auch andere Schrauben mitdrehten.

Wenn die Tore unserer Kirchen sich in Europa massenhaft schliessen, kann dies auf längere Sicht nicht ohne gravierende Konsequenzen für unsere Kultur insgesamt bleiben. Dass ausgerechnet ein katholischer Soziologe diese Sorge polemisch als “Schlachtruf” und plumpe Apologie abtut, ist ein verstörender Vorgang. Vereinfacht wahrgenommen, sendet er die Botschaft in Kirche und Gesellschaft: “Es ginge auch ohne uns ganz gut”, “Salz der Erde” hin, “Licht der Welt” her. Zum Siechtum des europäischen Christentums gehört sein Mangel an Selbstbewusstsein, den Menschen nicht nur eine “Option“, sondern etwas “Unverzichtbares“ (Benedikt XVI.) mitzuteilen zu haben, und zwar nicht nur für ein jenseitiges Heil, sondern auch für das irdische Wohl. Eine Kirche, die sich von diesem Anspruch und Antrieb verabschiedet, ist “kraftlos geworden” wie schales Salz. “Es taugt zu nichts mehr, als hinausgeworfen und von den Menschen zertreten zu werden” (Mt 5,13).

Brief Papst Benedikt XVI.: 10. März 2009

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