Proteste in Tunesien
Gesellschaft am Scheideweg
Tausende von Menschen haben an diesem Freitag in Tunis an der Beerdigung des Oppositionsführers Chokri Belaïd teilgenommen. Der Mord an dem säkularen Anwalt und Menschenrechtler hat schwere Unruhen ausgelöst im Ursprungsland des Arabischen Frühlings. Für diesen Freitag hat der Gewerkschaftsverband UGTT zu einem Generalstreik aufgerufen, es wird mit neuen Auseinandersetzungen gerechnet. Opposition und Angehörige Belaïds machen die islamistische Regierungspartei Ennahda verantwortlich für den Mord. Der Ministerpräsident Hamadi Jebali stösst mit seinem Vorschlag, angesichts der Krise eine überparteiliche Technokratenregierung zu bilden, auf heftigen Widerstand in den eigenen islamistischen Reihen.
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“Chokri Belaïd war ein Kämpfer gegen die Diktatur, er glaubte an die Demokratie.” Das sagt der tunesische Theologe Adnane Mokrani, islamischer Gastdozent an der Päpstlichen Universität Gregoriana in Rom. “Seine Ermordung sollte das tunesische Volk jetzt im Kampf gegen die Feinde der Demokratie vereinen. Tunesien sollte sich jetzt nicht im Parteienstreit verzetteln – seine Priorität müsste lauten, die Verfassung fertigzuschreiben, Neuwahlen zu halten und auf der Basis der neuen Verfassung zu einer normalen Regierung zu kommen.” Die Tunesier sind ein kleines Volk mit guten Schulen, darum hatten viele geglaubt, dass sie den Übergang von der Diktatur zu einer neuen Staatsform gut hinbekommen würden. Doch die Schwäche der Wirtschaft und der Aufstieg eines radikalen Islams machen einen Strich durch diese Rechnung. “Ich habe immer geacht, dass die Demokratie ohne die Islamisten nicht möglich wäre, aber dass sie mit ihnen sehr schwierig sein würde. Das ist die wahre Herausforderung.”
Das Wort “Frühling” für die derzeitigen Umwälzungen im Maghreb und in Nahost gefällt dem islamischen Theologen nicht so richtig: “Wir sind auf einem Weg. Eine Revolution ist ein langer Prozess, das kann auch zehn Jahre dauern oder noch länger. Dafür braucht man ein kulturelles Reifen, einen Mentalitätswechsel, eine Anlaufzeit. Jetzt haben wir eine völlig neue, unerfahrene Regierung – wir bräuchten eine politische Bildung für die Exekutive, auch für die Opposition. Wir lernen eben noch.”
Solidarität der Kirche
Die katholische Kirche ist im tunesischen Ringen nur Zuschauerin: zu klein, zu unbedeutend, zu allem Überfluss weitgehend ausländisch. Doch sie fühlt sich 2solidarisch mit dem tunesischen Volk“, sagt der Generalvikar des Erzbistums Tunis, Nicolas Lhernould. Der Mord am Oppositionellen sei “ein Angriff auf die Gesellschaft im ganzen”, sagt er. Der Leiter der Päpstlichen Missionswerke in Tunesien, Pater Jawad Alamat, urteilt, dass Tunesien jetzt “an einem Scheideweg” stehe. “Vielleicht ist das ein noch wichtigerer Moment als der 14. Januar 2011”, der Tag, an dem Präsident Ben Ali stürzte. Die Proteste zeigten, “dass die Menschen in Tunesien genug haben von politischer Gewalt”. Die Regierung habe “Gewalttäter” zu lange gewähren lassen.
“Als Partei Ennahda versuchen wir, diese Lage mit der grösstmöglichen Ruhe und Gelassenheit durchzustehen”, sagt uns der islamistische Parlamentarier Osama al-Saghir. “Ich glaube, einige Leute legen es immer noch darauf an, die Muslime von der demokratischen Teilhabe auszuschliessen. Dabei treten wir für die Demokratie ein und haben 42 Frauen als Abgeordnete, das ist fast die Hälfte unserer Abgeordneten überhaupt. Welche europäische Partei hat denn eine vergleichbare Quote? Einige versuchen gerade um jeden Preis, Ennahda als unfähig und demokratiefeindlich hinzustellen. Und dann passiert sowas wie dieser Mord, und die Atmosphäre erhitzt sich.“ Für al-Saghir stehen Kräfte des “alten Systems” hinterm Mord an Belaïd: “Da gibt es diese ganzen Parteien, die zurück wollen zum Ben Ali-Regime, weil sie beim Wandel in Tunesien nur verlieren. Ennahda wäre doch der allerletzte, der ein Interesse an einem solchen Verbrechen haben könnte. Das hat das Land stabilisiert, dabei arbeiten wir Tag und Nacht daran, es zu stabilisieren!“ Dass die Islamisten-Regierung seit ihrem Antreten vor zwei Jahren viele Tunesier enttäuscht hat, erklärt sich der Parlamentarier mit den “grossen sozialen Forderungen, die man nicht in kurzer Zeit erfüllen kann“. “Zum Beispiel hat man sich so viele Jahre lang nur um die Entwicklung im Küstengebiet gekümmert und deswegen die grosse Armut im Landesinnern völlig vernachlässigt.”
rv 08.02.2013 sk
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