Odyssee zum Himmel

Die Kirche feiert das “Jahr des Glaubens”

Ein Anlass, sich zu freuen und mit Selbstvertrauen in die Zukunft zu schauen. Doch wie, wenn man landauf landab nur über Probleme spricht? Viele Gläubige macht das müde. Sie brauchen jetzt Auffrischung, eine katholische Revitalisierung. Deshalb werden wir in den kommenden Monaten an grosse christliche Kunstwerke erinnern, die uns helfen, den Glauben neu zu entdecken – in seiner Tiefe und Schönheit. Glaubensschätze aus Literatur, Kunst und Musik. Wenn man so will: Die ewigen Top Ten der christlichen Kultur. Ein kleiner Ausschnitt einer schier endlosen Hitparade mit Spitzenqualität, inspirierendes Erbe für die Gegenwart.

Die Tagespost, 1. Februar 2013, von Stefan Meetschen

T.S. Eliot schrieb einmal, ob ein Werk Literatur sei, lasse sich nur mit literarischen Massstäben bestimmen. Wolle man aber die Grösse eines Werkes ermitteln, dann müsse man daneben auch theologische Massstäbe anwenden. Wie wahr diese Einschätzung ist, zeigt wahrscheinlich kein Beispiel der Literaturgeschichte so eindringlich wie Dante Alighieris “Commedia Divina”, “die Göttliche Komödie”.

Über einen Zeitraum von dreissig Jahren, von 1292 bis zum Sommer 1321, zog sich die Entstehungsgeschichte dieses Werkes hin, vom ersten Einfall bis zur Schlussformel unter dem letzten Vers: “Hier endet das Buch der ‘Commedia’ des Dante Alighieri aus Florenz.” Der Buchdruck war damals noch nicht erfunden, ein einheitliches Italienisch existierte ebenfalls nicht. Schon gar nicht als Schriftsprache. Dafür sorgte Dante mit seinem kolossalen Versepos, das nicht nur als eines der grössten Werke der Weltliteratur gilt, sondern das man auch als Meisterwerk der christlichen Kultur bezeichnen kann. Allerdings: Unmittelbar nach der Fertigstellung starb der Dichter. Am Abend des 13. Septembers. Als Mitglied des Dritten Ordens der Franziskaner, 56-jährig, in Ravenna. Nicht in seiner geliebten Geburtsstadt Florenz, die ihm im Zuge jahrelanger heftigster politischer Streitereien den Aufenthalt verweigerte. Die Florentiner trachteten Dante, der zuvor eine Reihe städtischer Ämter bekleidet hatte, darunter das von ihm besonders verabscheute Priorat, sogar nach dem Leben und bewirkten dadurch seine rastlose Exil-Existenz als Dichter, Lehrer und Diplomat an verschiedenen Höfen Italiens. Er war ein verlorener Pilger zwischen Verona, Bologna, Padua und eben Ravenna. Seiner Inspiration tat das gut.

Viel lag dem Mann mit der Adlernase auf der Seele. Tratsch und Klatsch, Verletzungen durch die führenden Familien von Florenz, Geschichten und Episoden, die ohne einen theologischen Rahmen schnell zur Ramschliteratur hätten werden können. Zu einem Blog der Vergänglichkeit. Schnell geschrieben, schnell vergessen. Mit den Flügeln des Glaubens und der Poesie verwirklichte Dante sein Projekt auf sublimere Weise. Er stellte einen detaillierten Plan auf. Ein literarisches Konzept, das ihm eine Abrechnung mit allen Lastern und menschlichen Sünden, die er kannte, ermöglichte, aber auch einen Hochgesang auf die Tugend. Ein Epos mit einem heilig-heiteren Ausgang also, wie es sich laut Theodor Haecker für einen katholischen Dichter gehört. Seit des Kreuzestodes Christi und der dadurch gewonnenen Erlösung hat das Tragische, wie es die antiken Dichter dramatisierten, keine Berechtigung mehr. Dante hat diese theologische Wahrheit gewusst, gespürt und schöpferisch umgesetzt. Schliesslich steht am Ende des literarischen Läuterungsweges Gott selbst. Die christliche Dreifaltigkeit. Ausgedrückt im Bild der Rose, deren Mittelpunkt das Licht Gottes ist.

Dabei beginnt das aus vielen geheimnisvollen Zahlen-Chiffren und symbolischen Querverweisen bestehende Werk mit einer nüchternen Bestandsaufnahme. “Grad in der Mitte unsrer Lebensreise, Befand ich mich in einem dunklen Walde/ Weil ich den rechten Weg verloren hatte.” Dann taucht, es ist der Karfreitag 1300, wie gerufen, des Dichters römischer Lieblingsautor Vergil (“Aeneis”) auf, um Dante zu zeigen, dass es noch viel schlimmer, aber auch besser kommen könnte. Die Reise durch die drei von der Kirche gelehrten Jenseitsreiche startet: Hölle, Fegefeuer und Himmel. Einen multidimensionaleren Handlungsrahmen zu entwerfen – literarisch undenkbar. Zunächst aber steht ein steiler Abstieg auf dem Programm. Es geht hinab in die unterirdisch gelegene Hölle, die bei Dante die Gestalt eines Trichters hat. Je näher er mit seinem Begleiter dem Erdmittelpunkt kommt, desto enger werden die insgesamt neun Kreise der Hölle, die es für Dante zu durchlaufen gilt. Dem Eingangsmotto folgend: “Lasst jede Hoffnung, wenn ihr eingetreten.” Keine ermutigende, aber dafür ziemlich realistische Einschätzung. Dante sieht Ketzer, die sich in glühenden Särgen wälzen, Diebe und Räuber in einer Schlangengrube. Irdische Schmeichler haben im stinkenden Kot einen angemessenen Platz gefunden. Doch wer sind diese Gestalten eigentlich? Dante in der Rolle des auktorialen Erzählers erkennt einige Florentiner Bürger wieder, die ihm das Leben schwer gemacht haben. Plastisch, anschaulich, von ewiger Düsternis und Qual durchdrungen treten sie dem Leser vor Augen. So etwa der Florentiner Bürger Filippo Argenti, der zu Lebzeiten einem bizarren Hochmut huldigte und seinem Pferd nur das reine Silber zum Auftreten gab. Offensichtlich eine falsche Investition in die Zukunft. “Gar zu gern möchte ich Ihn untertauchen sehn in dieser Brühe/ Bevor wir diesen See verlassen haben”, kommentiert Dante wenig mitfühlend. Denn: Ein bisschen Gossip und persönliches Enervement darf bei einem mittelalterlichen Klassiker natürlich nicht fehlen. Zumal der verbannte Dichter (“Die Verbannung hat die Eigenschaft, dass sie den Menschen entweder aufreibt oder auf das höchste ausbildet”, Jakob Burckhardt) sein eigenes Werk nur als “Komödie” bezeichnete. Das Beiwort “Göttlich” stammt von Boccaccio (“Decamerone”).

Aber auch Bischöfe und Päpste haben, wenn man dem Jenseits-Visionär Dante glauben darf, ihr ewiges Unheil in der Hölle gefunden. Papst Nikolaus III. steckt im achten Höllenkreis kopfüber in einem Loch, das von Flammen umzüngelt wird. An Papst Bonifaz VIII. und Papst Clemens V. wird ebenso ewige Vergeltung geübt. Absoluter Tiefpunkt der Reise: der Erdmittelpunkt, wo Luzifer in einem Eissee lauert. Mit drei Köpfen nagt er an den Mördern Cäsars, Brutus und Cassius, und an Judas, der Christus verriet. Keine gute Gesellschaft, aber psychologisch gut erfasst. Tritt das Böse heute nicht auch in eisiger Kälte auf? Fern des Höllenfeuer-Klischees?

Durch einen Tunnel führt Vergil den Dichter Dante dann in die entgegengesetzte Richtung – zum Berg des Fegefeuers, dem “Purgatorio”. In neun konzentrischen Zirkeln (“Terrassen”) geht es aufwärts. Wer sich hier befindet, kann die Hoffnung wieder aufleben lassen und sich an der stimmungsvoll beschriebenen Natur erfreuen, muss jedoch an seiner Seele noch läuternde Korrekturen vornehmen lassen. Die Reihenfolge der Sünden ist jetzt antithetisch zur Höllenordnung: Zuerst kommen die Sünder, die eine verhältnismässig schweres Vergehen zu büssen haben. Die Stolzen, die schwere Steine tragen müssen, ohne sich aufrichten zu können. Die Neider und Zornigen, deren Sichtfähigkeit auf dem Läuterungsberg gänzlich eingeschränkt ist. Wer weiter oben ist, hat die schwersten Sünden bereits hinter sich gelassen oder lediglich harmlose Sünden vorzuweisen, wie Wollust und sexuelle Ausschweifungen. Die Freude über die garantierte Errettung macht trotz des anhaltenden Vergeltungsprinzips leicht und beschwingt.

Dante ist von der Busse nicht ausgeschlossen. Vor der Pforte des Läuterungsberges zeichnet ein Engel mit dem Schwert sieben Mal den Buchstaben “P” auf Dantes Stirn. Ein Zeichen für die sieben Todsünden: Hochmut, Jähzorn, Neid, Habgier, Wollust, Völlerei und Trägheit. Dante gelingt die Umkehr. Nur mit dem Hochmut hat er, typisch Dichter, grosse Probleme. Überwindet diesen dann aber doch. Schliesslich wartet noch Grösseres auf ihn. Und Schöneres. Niemand Geringeres als Beatrice, die ewige, reine Geliebte, die Dante schon früh im Leben als weibliche Idealgestalt begegnete, die dann aber doch einen Bankier heiratete, was der Projektion aber keinen Abbruch tat, holt ihn am Eingang des Paradieses ab. Sie dient ihm nun, von “einer dichten Blumenwolke” umgeben, als philosophisch gebildete Führerin durch die himmlischen Gefilden, die nicht nur sphärischer Natur sind, sondern zugleich nach den vier Kardinaltugenden und den drei theologischen Tugenden geordnet sind. “Tu deine Augen auf und sieh mein Bildnis”, sagt sie und Dante gehorcht ihr. Praktischerweise ist er nun auch fähig, das Lächeln der angebeteten Frau “zu ertragen”. Damit nicht genug. Sphärenmusik, die astronomische Ordnung der Planeten – ein fantastisches Ambiente. Wer sich hier aufhalten darf, ist im wahrsten Sinne des Wortes selig. Dazu gibt es die nach neun Stufen eingeteilte Engelshierarchie. Merkwürdig nur, dass sich hier kein Papst aufhält. Dafür sieht Dante den Hofstaat Gottes in Gestalt einer weissen Rose erscheinen. Auf deren Blättern sitzen die theologisch und menschlich verlässlichen Kirchenväter und Propheten.

Beatrice nimmt am Ende der Reise zu Füssen der Gottesmutter Platz. Die letzte Strecke auf dem Weg zu Gott wird der heilige Bernhard von Clairvaux, der als Greis auftritt, den geläuterten Dichter führen. Mit einer Vision der Heiligen Dreifaltigkeit endet die “Göttliche Komödie”. “Den Grund des tiefen ungetrübten Seins/ Des hehren Lichts sah ich drei Kreise hegen/ An Farbe dreifach und an Umfang eins: Der eine spiegelte, gleich Irisbögen/ Den andern Kreis; es schien der dritte Ring/ Ein Feuer, das aus beiden schlägt entgegen.”

So kolossal das Werk ist, so schwierig ist es aus heutiger Sicht, es einer literarischen Gattung zuzuordnen. In gewisser Hinsicht nimmt es den später beliebten Bildungsroman vorweg. Dante zeigt am eigenen Exempel, wie er sich weiterentwickelt und aus Irrtümern hin zu immer tieferer Erkenntnis befreit. Ein Roman im eigentlichen Sinn, wie etwa Goethes “Wilhem Meister”, ist die Komödie aber nicht. Was also dann? Ein harmloses Lustspiel, wie der bescheidene Titel nahelegt, auch nicht. Dafür ist der Stoff zu gewaltig, zu ernst. Mag die Sprache in den Bereichen Hölle und Fegefeuer auch zuweilen recht derb sein. Volkssprache eben, so wie Dante es wollte. Der deutsche Philosoph Georg Wilhelm Friedrich Hegel kümmerte sich nicht um Gattungsbegriffe. Er war voll des Lobes für das Werk. “Das in sich gediegenste und reichhaltigste Werk aber, das eigentliche Kunstepos des christlichen Mittelalters, der grösste Stoff und das grösste Gedicht ist in diesem Gebiete Dante’s Göttliche Komödie.” Er war nicht der einzige grosse Geist, der vor der “Komödie” auf die Knie ging. Zahlreiche Künstler hat Dantes göttlicher Stoff inspiriert: Maler wie Eugene Delacroix und William Blake, Salvador Dali und Robert Rauschenberg. Auguste Rodins “Denker”-Skulptur entstand inspiriert von Dantes Höllentor. Auch Musiker haben sich immer wieder von der “Komödie” anstimmen lassen: Franz Liszt und Peter Tschaikowski genauso wie Max Reger und Giacomo Puccini. Auch zeitgenössische Künstler, darunter viele Filmemacher, sind berührt von Dantes christlichem Meisterwerk, in dem das vergängliche politische, militärische, wirtschaftliche, kulturelle und erotische Leben quasi durch eine metaphysische Linse betrachtet wird. “Alles wird eschatologisch gewertet; Gottes Gericht über diese Welt wird visionär vorweggenommen”, schrieb Gisbert Kranz einmal. Genau so ist es. Das macht seine Grösse aus.

Göttliche Komödie

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