Syrien: In einem Jahr ein “totes Land”?
Aleppo gilt heute schon als eine tote Stadt
Wenn die Kämpfe in Syrien mit unverminderter Härte weitergehen, dann ist Syrien in spätestens einem Jahr ein “totes Land”: Vor diesem Szenario hat der syrisch-orthodoxe Metropolit von Aleppo, Mar Gregorios Youhanna Ibrahim, gewarnt.
Er wandte sich bei einem Pressegespräch am Dienstagnachmittag in Wien zugleich gegen jede Intervention von aussen: “Überlasst Syrien den Syrern“, so Gregorios wörtlich im Kathpress-Interview. Vor allem die brüchige Moral im Land bereite dem Bischof Sorgen:
“Aleppo gilt heute schon als eine tote Stadt. Man könnte glauben, dass Syrien ein totes Land ist. Alles ist zerstört: Die Moral, die Materialien und Energie. Natürlich wird auch viel Geld ausgegeben für den Krieg: Es gibt alle möglichen Waffen, die töten und zerstören. So kommt eines zum anderen, und der Mensch wird schliesslich nicht mehr als menschliches Wesen angesehen.” Bis zu ein Drittel der Christen habe die Stadt verlassen; eine Prozentzahl, die auch für andere Regionen in Syrien gelte, sagte Mar Gregorios. Eine traurige Ausnahme stelle die Stadt Homs dar, in der es keinen einzigen Christen mehr gebe. Von einer expliziten Christenverfolgung wollte der Bischof trotzdem nicht sprechen. Es seien auch schon unzählige Christen getötet worden, “aber nicht wegen ihrer Religionszugehörigkeit”. Er wolle auch nicht von einem Bürgerkrieg in Syrien sprechen, so der Metropolit.
“Wenn das wirklich ein Bürgerkrieg wäre, dann müssten doch alle daran beteiligt sein. So ist es aber nicht – nicht alle Syrer sind dabei. Es sind auch nicht alle Aleviten dran beteiligt oder alle Sunniten. Manchmal sieht man zwar auch Christen und Muslime kämpfen – aber sie kämpfen nicht aufgrund ihres Glaubens gegeneinander.” Freilich sei die Gefahr eines Bürgerkrieges hoch. Wie der Bischof weiter sagte, seien seit März 2011 zwischen 15.000 und 17.000 Syrer bei den Kämpfen ums Leben gekommen, zwischen 200.000 und 400.000 Personen seien verletzt worden. Zwei Millionen Menschen seien Flüchtlinge im eigenen Land, 400.000 hätten im Ausland Schutz gesucht. Die Situation sei wirklich belastend, so Gregorios:
“Seit etwa 120 Tagen können wir nicht mehr schlafen, wir fühlen uns nicht mehr frei in unserer Stadt. Nach fünf Uhr nachmittags ist keiner mehr auf der Strasse. Das öffentliche Leben ist erloschen: Schulen und Universitäten sind von Flüchtlingen besetzt und die meisten Geschäfte, Kirchen und Moscheen sind geschlossen. Die Situation ist schwierig, erst recht, wenn man daran denkt, dass bald der Winter beginnt. Wir haben kein Öl, keine Elektrizität, kein Wasser, nichts zu Essen. Doch vor allem fehlen uns Unterkünfte für die Menschen. Wir haben auch keine Wolldecken und so weiter.”
Dem Bischof bereite auch die Zunahme des Extremismus in den Reihen der Opposition besondere Sorge. Das betreffe allerdings nur die vielen ausländischen Kämpfer in Syrien, nicht die einheimischen. Er sei davon überzeugt, dass die innersyrische Opposition die ausländischen Kämpfer nicht aktiv ins Land geholt habe. Die Christen in Syrien seien keine geschlossene Gruppe, so der Bischof weiter. Es gebe aktive Anhänger des Assad-Regimes wie auch der Opposition, aber die grosse Mehrheit stehe zwischen den Fronten, ohne Partei zu ergreifen. Einer Militärintervention von aussen erteilte der Bischof jedoch eine deutliche Absage: “Das wäre eine Katastrophe.” Auch halte er nichts von der Idee, das Land nach Religionen bzw. Volksgruppen aufzuteilen. Die einzelnen Teile wären nicht überlebensfähig. Auch wenn die Kampfmoral beider Seiten nach wie vor sehr hoch sei, brauche es dringend einen Waffenstillstand, humanitäre Hilfe für die Bevölkerung und Verhandlungen.
(kap 14.11.2012 cs)
Interview mit Mar Gregorios Yohanna Ibrahim, Metropolit der Syrisch-Orthodoxen von Aleppo
Schreibe einen Kommentar