Kultur und Vernunft zur Verteidigung des Menschen

Im Anschluss an das Treffen der europäischen Bioethik-Kommissionen in Rom

Die europäischen Ethik-Kommissionen halten die Unabhängigkeit von jeder Art von Institution sowie Diskussions- und Gedankenfreiheit für Grundvoraussetzungen, die erforderlich sind, um die Reflexions- und Vertiefungsarbeit über die bioethischen Themen zu Ende zu führen. Das ist der wohl augenscheinlichste gemeinsame Zug der europäischen Institutionen, die sich am 23. November in Rom im Zuge einer von der Nationalen Italienischen Bioethik-Kommission organisierten Tagung ausgetauscht haben.

Bei aller Verschiedenheit – die offenkundigerweise mit der Geschichte der verschiedenen Länder zu tun haben, so etwa mit der Tatsache, dass Frankreich das erste Land war, das in Jahr 1983 ein nationales Ethikkomitee gegründet hat, während es in Grossbritannien bis auf den heutigen Tag verschiedene, von privaten Stiftungen abhängige Körperschaften gibt – haben die deutschen, französischen und britannischen Repräsentanten ausgesprochen ähnliche Organisationstypologien vorgestellt, ebenso wie parallele Arbeitsmethoden, die die Bildung von Arbeitsgruppen zu den einzelnen Themen und Vollversammlungen zur Redaktion der Abschlusstexte sowie Freiheit bei der Auswahl der zu behandelnden Themen vorsehen. Themen, die manchmal aus von den Regierungen aufgeworfenen Fragen abgeleitet werden können oder auch, wie in Frankreich, von einzelnen Bürgern vorgeschlagen werden, die aber grundsätzlich mit dem Dachthema der Anwendung neuer Technologien und neuer Rechte zu tun haben, d. h. mit dem Menschenbild, der Auffassung des Menschen, die unsere Kultur angesichts der unglaublichen Fortschritte der Wissenschaft verteidigen oder akzeptieren will.

Alle Kommissionen halten es für ihre Hauptaufgabe, die bürgerliche Gesellschaft mit einzubeziehen, indem sie die Ergebnisse ihrer Arbeit veröffentlichen, aber auch – und das trifft auf Deutschland zu – indem bei einigen Sitzungen, die sich mit besonders heiklen Themen befassen wie etwa dem Hirntod oder dem Inzestverbot, das Publikum, das auch bis zu vierhundert Personen zählen kann, direkt hinzugezogen wird. Das Verhältnis zu den Bürgern ist entscheidend, denn die Kommissionen haben die Aufgabe, gerade für sie zunächst einmal leicht erscheinende Themen zu vertiefen, ihre Komplexität zu erläutern und Ergebnisse vorwegzunehmen, die noch in Arbeit sind, die aber in Zukunft schwerwiegende Folgen haben können. Die Kommissionen präsentieren sich folglich weniger als Sprachrohre von Meinungen und Ratgeber denn als Denkorgane, die alle Stimmen anhören, um angesichts der epochalen Umwälzungen in der Welt des Menschen zu einem kollektiven Gewissen zu werden.

Diese Institutionen setzen sich stets aus interdisziplinären Gruppen zusammen, aus Personen, die unterschiedlichen Religionen und philosophischen Richtungen angehören, die jenseits der traditionellen Institutionen wie etwa den Universitäten eine neue Kultur erarbeiten. Und auch die Europäische Union und die UNESCO  haben Kommissionen für Bioethik gegründet: Institutionen, deren Ziele in erster Linie didaktischer Art sind und die sich keineswegs nur mit der Bioethik der Reichen (derjenigen der allerneuesten technologischen Entdeckungen) auseinandersetzen, sondern auch mit derjenigen der Armen, also beispielsweise dem Verhältnis zur traditionellen Medizin und dem Organhandel für Transplantationen von Lebendspendern.

In Rom fand eine äusserst interessante Auseinandersetzung statt, die uns gezeigt hat, dass man sich in den europäischen Ländern mittels einer unablässigen, gut organisierten kulturellen Arbeit, die dazu imstande ist, die öffentliche Meinung weitgehend mit einzubeziehen, mit der technologischen Moderne auseinandersetzt. Heutzutage hält ein Grossteil der Öffentlichkeit die Kommissionen für Bioethik für einen unbestrittenen moralischen Bezugspunkt, der bei dem, was die Vertreter dieser Institutionen selbst richtig als die Frage nach dem Menschen schlechthin bezeichnet haben, eine Rolle von überragender Bedeutung spielt.

Wie verhält sich die Kirche angesichts all dieser kulturellen und pädagogischen Arbeit, die grossteils von ihrer Lehre absieht, auch wenn der eine oder andere Katholik diesen Kommissionen angehört? Was tut sie, um nicht ausgeschlossen zu werden, um ihre Reflexionen und ihre Standpunkte mitzuteilen? Prinzipien, die nicht verhandlungsfähig sind, müssen in jedem einzelnen Fall auseinandergesetzt, erklärt und aufrechterhalten werden. Also mit den Waffen der Kultur und der Vernunft verteidigt werden.

Um in der Lage zu sein, in diesem Kontext präsent und massgeblich zu sein, wäre es nützlich, wenn die Kirche selbst vor allem mit Hilfe katholischer Laien Gelegenheiten zu interdisziplinären Vertiefungen fördern würde, um die Problematiken zu diskutieren, zu vertiefen, vorwegzunehmen und vor allem ihre Ergebnisse nach aussen mitzuteilen. Kurz, es wäre hilfreich, wenn ein bioethischer Bezugspunkt geschaffen würde, der stets Schritt halten sollte mit den Problemen, die sich immer neu ergeben, der aber auch dazu in der Lage sein sollte, imminente Fragen zu erahnen, um die Folgen einiger Entscheidungen vorwegzunehmen und um in jedem einzelnen Fall klarzumachen, wie die katholische Moral im jeweiligen Fall in Anwendung kommt. Das, was auf dem Spiel steht, ist äusserst wichtig: es geht – genau wie es die Vertreter der Kommissionen in Rom formuliert haben – um den Menschen, um seine Identität und um seine Verteidigung. Das Spiel ist es wert, zu Ende gespielt zu werden, indem man an eben dieser Diskussion teilnimmt.

Lucetta Scaraffia

Quelle
Ethische Grundsätze für medizinische Forschung am Menschen

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