Psychiater Bonelli: ‘Religion ist dem Menschen gemäss und tut gut’

“Soll Religion in der Psychotherapie vermieden werden?”

Wiener Psychiater und Psychotherapeut Bonelli in “Kathpress”-Interview über Grenzen zwischen Seelsorge und Psychotherapie und die neue religiöse Sensibilität in der Psychotherapie

Wien, kath.net/KAP, 18. Oktober 2012

“Religion als kollektive Zwangsneurose”: Mit dieser von Sigmund Freud-Anhängern ebenso wie von Religionsverächtern mitunter liebevoll gepflegten Karikatur gelebter und vitaler Religiosität will der Wiener Psychiater und Psychotherapeut Raphael M. Bonelli aufräumen. In 70 Prozent aller aktuellen psychiatrischen Studien werde Religion als wesentlicher Faktor menschlichen Wohlbefindens und psychischer Gesundheit genannt, es sei daher Zeit, an einer Versöhnung, zumindest jedoch an einem echten Dialog zwischen Religionswissenschaften und Psychologie auf Augenhöhe zu arbeiten, betonte Bonelli im Gespräch mit “Kathpress”.

Anlass der Wortmeldung Bonellis war eine Podiumsdiskussion am Dienstag in der Wiener Sigmund Freud-Universität zur Frage “Soll Religion in der Psychotherapie vermieden werden?” Bonelli ist auch Direktor des “Institut für Religiosität in Psychiatrie & Psychotherapie” (RPP), das immer wieder Gespräche auf universitärem Niveau zwischen Religion und Psychologie initiiert. Gerade von Seiten der Psychotherapie und Psychologie werde Religion heute “tabuisiert wie Sexualität zur Zeit Freuds”. Erst in den letzten Jahren habe ein langsames Umdenken stattgefunden, dass man Religion verstärkt als wichtige “Ressource” des Menschen begreift.

Er habe “schon den Eindruck, dass Religion dem Menschen gemäss ist und gut tut”, berichtete Bonelli gegenüber “Kathpress” aus der eigenen therapeutischen Erfahrung. Wo Religion fehle, “fehlt eine wichtige Dimension menschlichen Lebens”. Es sei ein sich auch in der psychischen Gesundheit niederschlagender Unterschied, “ob ich mich als von einem Schöpfer geliebtes und gewolltes Geschöpf begreife, oder als ‘gottlos’ in die Existenz hineingeworfen”, so Bonelli.

“Weder gute Seelsorger noch gute Therapeuten”

Unzulässig sei jedoch der Umkehrschluss, dass Religion unbedingt in therapeutischen Zusammenhängen eine Rolle spielen müsse: “Die Frage, ob Religion in die Psychotherapie aktiv eingebracht werden sollte, beantworte ich mit ‘Nein’.” Dies sollte nur geschehen, wenn es der Patient ausdrücklich wünsche – und auch nur dann, wenn deutlich die “Grenze zwischen Religion und Religiosität” gezogen werde. Religiosität bezeichne für ihn eine prinzipielle, zunächst von Inhalten freie Form der Offenheit für Transzendenz. Dies zu artikulieren, sei in der Therapie wichtig und von zunehmender Bedeutung. “Religion” komme erst bei konkreten Inhalten wie etwa der Frage nach der Dreifaltigkeit oder ähnlichem ins Spiel. Da jedoch sei er “nicht zuständig”, so Bonelli.

Zugleich stelle diese Grenze auch die wichtige und einzuhaltende Grenze zwischen Seelsorge und Psychotherapie dar. Gerade unter Seelsorgern stelle er häufig eine Grenzüberschreitung fest, insofern sich diese ins therapeutische Feld wagen, “in der ‘Psychosuppe’ schwimmen und dann weder gute Seelsorger noch gute Therapeuten sind”. Wo jedoch die Rollen nicht mehr klar seien, bestehe auch stets die Gefahr des Missbrauchs von Vertrauensverhältnissen und der Grenzüberschreitung. An dieser Stelle ortet der Psychiater einen deutlichen Aufholbedarf in der Priesteraus- und fortbildung.

Im Dezember veranstaltet Bonelli mit dem von ihm geleiteten “Institut für Religiosität in Psychiatrie und Psychotherapie” (RPP) u.a. eine Fachtagung zum Thema “Selbstverwirklichung und Gehorsam” (7. Dezember, Stift Heiligenkreuz), zu der als Referent u.a. Kardinal Kurt Koch erwartet wird.

Am 20. April 2013 plant das Institut eine Fachtagung im Wiener Palais Liechtenstein zum Thema “Glück und Seligkeit”. Unter den Referenten wird laut Programm auch der Wiener Erzbischof, Kardinal Christoph Schönborn, sein.

Fachtagung Liturgie und Psyche: Tut Religion der Psyche gut?
Religiosität in Psychiatrie und Psychotherapie

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