Die Gefahr der hohlen Phrasen
Demografieforscher Herwig Birg übt vernichtende Kritik am Demografie-Gipfel
Die Tagespost, 5. Oktober 2012, von Clemens Mann
Herr Professor Birg, in Berlin fand der erste “Demografie-Gipfel” statt. Was erwarten Sie von diesem Treffen?
Viel Informationen zu den unübersehbaren Auswirkungen, aber so gut wie nichts zu den Ursachen und deren dringend erforderliche politische Gestaltung.
Das ist eine vernichtende Aussage…
Die Politik hat die Existenz der demographischen Probleme jahrzehntelang in unverantwortlicher Weise wider besseres Wissen bestritten.
Jetzt ist das demographische Erdbeben für jeden spürbar. Die Politik spricht vom “demographischen Wandel” – niemand würde ein Erdbeben als “geologischen Wandel” bezeichnen. Zu einer Demographiestrategie gehören Aussagen zur Steuerung der Ursachen. Seit Jahrzehnten hören wir gebetsmühlenhaft: “Der Staat hat im Schlafzimmer nichts zu suchen”,- wohl war, aber das ist eine Phrase, die davon ablenkt, dass der Staat massiv Bevölkerungspolitik betreibt, und zwar ohne demokratische Legitimation und gegen das Grundgesetz, gegen Familien und gegen Kinder. Damit meine ich die von der Politik ignorierten negativen Nebenwirkungen vieler Politikbereiche auf die Geburtenrate, vor allem durch die Wirtschafts-, Sozial- und Bildungspolitik, die die Wirkungen der Familienpolitik weit übertreffen.
Was sollte denn Ihrer Meinung nach die Politik anpacken?
Wir müssen in demografischer Hinsicht wieder festen Boden unter den Füssen gewinnen. Das ist nur durch eine höhere Geburtenrate zu erreichen. Die Politik müsste endlich die Urteile des Bundesverfassungsgerichtes umsetzen, das festgestellt hat, dass die Familien in grundgesetzwidriger Weise benachteiligt werden durch die gesetzliche Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung. Zweitens müsste man gute Betreuungseinrichtungen für Kinder schaffen und exzellente Betreuer ausbilden. Drittens schlage ich seit langem vor, Eltern bei der Besetzung von Arbeitsplätzen unter gleich qualifizierten Bewerbern zu bevorzugen. Viertens müsste die Mütterquote eingeführt werden, zusätzlich zur Frauenquote.
Wie stellen Sie sich eine solche Quote vor?
Indem man bei der Berücksichtigung von Frauenquoten unter gleichqualifizierten Bewerberinnen die Mütter bevorzugt.
Da spielt aber die Wirtschaft nicht mit. Mütter könnten sich nicht voll und ganz auf ihren Job konzentrieren, heisst es oft…
Erstens ist fraglich, ob das stimmt. Mütter sind darin geübt, mit Arbeitsstress und vielfältigen Herausforderung gleichzeitig fertig zu werden. Wo man Müttern eine Chance gegeben hat, hört man in der Regel nur Gutes über ihre Leistungsfähigkeit und ihr Organisationstalent. Im Übrigen wird die Wirtschaft früher oder später wegen der steigenden Knappheit an qualifizierten Arbeitskräften gar nicht anders handeln können. Ich habe aber noch einen weiteren Vorschlag. Von Paul Kirchhof wird schon lange ein Familienwahlrecht gefordert, bei dem die Eltern die Stimmen ihrer noch nicht wahlberechtigten Kinder zusätzlich bekommen. Das würde der Verfassung nicht nur nicht widersprechen, sondern ihr viel besser genügen als die jetzige Sachlage.
Wichtig ist auch folgender Aspekt: In Deutschland profitieren die Landeshauptstädte und Metropolregionen von den Zuwanderungen gut ausgebildeter, junger Menschen zu Lasten der Entleerungsgebiete. Um diese demographische Ausbeutung zu kompensieren, muss der Finanzausgleich auf allen regionalen Ebenen durch Berücksichtigung von demographischen Indikatoren neu konzipiert werden. Fazit: Die Demografiestrategie der Regierung ist in Wahrheit eine Demografie-Ausstiegsstrategie.
Sie unterstellen also, dass man sich nicht ernsthaft mit dem Problem beschäftigen will?
Das ist eine Politik für die Wähler, die ihre Stimmen jetzt abgeben können. Und es ist eine Politik zu Lasten der künftigen Wähler, der heutigen Kinder.
Glauben Sie, dass der gesellschaftliche Zusammenhalt aufgrund der demografischen Entwicklung ernsthaft gefährdet ist?
Ich spreche von fünf demographischen Plagen in Form von wachsenden Verteilungskonflikten: Erstens zwischen alten und jungen Generationen bzw. zwischen den Beitrags- und Steuerzahlern einerseits und Menschen im Ruhestand andererseits.
Zweitens innerhalb jeder alten und jeder jungen Generation zwischen Menschen mit bzw. ohne Nachkommen: Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 2001 ist die Pflegeversicherung (darüber hinaus auch die Renten- und Krankenversicherung) verfassungswidrig, weil Kinderlose privilegiert werden, indem sie die vollen Versorgungsansprüche erwerben, ohne den “generativen” Beitrag in der Form der Kindererziehung zu leisten, ohne den die umlagefinanzierte Sozialversicherung nicht funktioniert.
Drittens zwischen den Entleerungsgebieten einerseits und den Landeshauptstädten und Metropolregionen andererseits, die ihre demographischen Defizite zu Lasten der Entleerungsgebiete verringern.
Viertens zwischen Menschen mit bzw. ohne Migrationshintergrund: Migranten leben auf Grund ihrer im Durchschnitt wesentlich schlechteren schulischen und beruflichen Qualifikationen zu einem viel höheren Anteil von Sozialtransfers.
Fünftens zwischen den Ländern im Norden und Süden Europas, denn die Finanzkrise entstand nicht zuletzt aus der Schuldenaufnahme zur Finanzierung der demographischen Lasten der sozialen Sicherungssysteme, deren Defizite in allen Ländern durch die niedrige Geburtenrate verursacht werden.
Den vor kurzem vorgebrachten, aber bereits wieder von der Opposition heftig kritisierten Vorschlag der jungen Bundestagsabgeordneten für eine Abgabe für Kinderlose, um eine Demografiereserve aufzubauen, würden Sie damit unterstützen…
Der Grundsatz stimmt. Es muss nur klar sein, dass es sich nicht um eine neue Schikane der Politik handelt, sondern einen Versuch, die Gerechtigkeit in Deutschland wieder herzustellen.
Zuwanderung wird als eine Lösung des demografischen Problems bezeichnet. Ist das zu hoch gegriffen?
Zuwanderung ist sinnvoll, um auf dem Arbeitsmarkt Engpässe zu überbrücken. Sie ist kein Mittel, um eigene Geburtendefizite auf Kosten anderer auszugleichen, das wäre Kolonialismus auf demografische Art.
Wege aus der Demografiefalle gesucht
Prof.Dr.HerwigBirg
Demografie
Nüchternes zur Demografie
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