Der Libanon hält den Atem an
Der Libanon wird mit seinen dunkelsten Zeiten konfrontiert
Reisst der tödliche Anschlag auf Geheimdienstchef Wissam al Hassan das fragile Land endgültig mit in den syrischen Abgrund?
Die Tagespost, 22. Oktober 2012, von Oliver Maksan
Der Libanon wird mit seinen dunkelsten Zeiten konfrontiert. Mit der Explosion der Autobombe inmitten des christlichen Aschrafieh-Viertels am Freitag Nachmittag – acht Tote und hundert Verletzte sind die Folge – werden nicht nur Erinnerungen an den 2005 unter ähnlichen Umständen ermordeten Ministerpräsidenten Rafik Hariri wach, sondern auch an das Jahr 1975, als der Bürgerkrieg mit Attentaten begann, die in der Folge Beirut und das ganze Land zerrissen.
Tatsächlich war der tödliche Anschlag auf den Chef des Polizeigeheimdienstes, Wissam al Hassan, der am Sonntag zu gewaltsamen Protesten und zu Rücktrittsforderungen gegenüber der pro-syrischen Regierung Mikati führte, in diesem Jahr nicht der erste im Zusammenhang mit Syrien stehende Gewaltausbruch. Immer wieder kam es im nördlichen Tripoli, das mit seiner sunnitischen und alawitischen Bevölkerung die ethnisch-religiöse Konfliktkonstellation des Nachbarn abbildet, zu Auseinandersetzungen. Und noch kurz vor dem Papstbesuch im September entführte ein schiitischer Clan mehrere sunnitische Ausländer, um ein von syrischen sunnitischen Rebellen festgehaltenes Clan-Mitglied freizubekommen, das beschuldigt wurde, für Assad zu kämpfen.
Dennoch ist mit der Ermordung des Geheimdienstchefs eine neue Dimension erreicht. Die Spur nach Syrien ist deutlich. Hassan wurde zum syrischen Staatsfeind, weil er massgeblich an der Festnahme des ehemaligen Informationsministers Michel Samaha beteiligt war, einem von Syriens loyalsten Verbündeten im Libanon. Dieser soll eindeutigen Beweisen zufolge persönlich Sprengstoff aus Syrien in den Libanon transportiert haben, um auf Geheiss Damaskus’ mit Anschlägen im Norden des Landes den konfessionellen Konflikt zu schüren, nicht zuletzt durch ein Attentat auf den maronitischen Patriarchen. Die weitere Destabilisierung des Libanon lag und liegt offenbar im Interesse der Damaszener Regierung, die den kleinen Nachbarn bis 2005 direkt, nach der Zedernrevolution indirekt beeinflusste. Ist Hassans Ermordung also das Fanal, den fragilen Libanon mit in den syrischen Abgrund zu reissen?
“Unmöglich ist das nicht”, meint Bente Scheller von der Heinrich-Böll-Stiftung in Beirut. “Aber die letzten eineinhalb Jahre haben gezeigt, dass das im Libanon niemand wirklich will, und das wäre ja die Voraussetzung. Die massgeblichen Akteure sowohl des syrischen wie des gegnerischen Lagers bemühen sich vielmehr seit Monaten, ein Übergreifen des Syrien-Konflikts auf den Libanon auszuschliessen beziehungsweise unter Kontrolle zu halten”, sagte sie am Montag im Gespräch mit dieser Zeitung. “Es stimmt, dass die sunnitisch geführte Anti-Assad-Opposition nach dem Attentat den Ton gegen die Regierung verschärft hat, aber ob sie derzeit wirklich den Sturz der Regierung Mikati will, ist fraglich, zumal im nächsten Jahr regulär gewählt werden soll. Es wird auch schon diskutiert, ob die für Juni geplanten Wahlen überhaupt stattfinden sollen, um ein Machtvakuum zu vermeiden, das wirklich das letzte wäre, was der Libanon jetzt braucht.” Die politisch massgeblichen Kräfte und Führer der Konfessionsgruppen hätten auch ihre Lehren aus dem Bürgerkrieg gezogen, dessen Länge und Ausgang gezeigt hätten, dass im Libanon keine Seite stark genug ist, die andere wirklich zu besiegen. Zudem sei das Interesse an der zarten wirtschaftlichen Gesundung des Landes gross. Die Libanon-Expertin stellt auch in der Bevölkerung den Willen zur nationalen Einheit fest.
“Im Trauerzug für den ermordeten Geheimdienstchef sind Vertreter aller Konfessionen und Fraktionen des Landes mitgegangen, nicht nur Sunniten. Es herrschte eine sehr starke nationalistische, die Einheit des Landes betonende Stimmung”, so Frau Scheller. Zudem seien viel weniger Menschen als nach der Ermordung Hariris 2005 auf die Strasse gegangen. Unmittelbar nach dem Anschlag hatte der maronitische Erzbischof von Beirut, Paul Youssef Matar, gegenüber Radio Vatikan noch beklagt, dass die Bombe den Christen gegolten habe, die in Aschrafieh stark vertreten sind. Der in Beirut ansässige Jesuit Samir Khalil, der dort ein Zentrum für die Erforschung des orientalischen Christentums leitet, meinte indes gegenüber dieser Zeitung am Montag, dass eindeutig der Geheimdienstchef das Ziel gewesen sei. Der Tatort sei wohl rein zufällig das Christenviertel gewesen, weil die Attentäter wussten, dass sich Hassan dort aufhielt. “Dennoch verstärkt der Anschlag das Gefühl der Unsicherheit auf Seiten der libanesischen Christen, das diese angesichts der Lage in Syrien empfinden”, so Pater Samir. “Das wird sicher diejenigen zum Verlassen des Landes bewegen, die sich ohnehin schon mit diesem Gedanken tragen und die nötigen Mittel haben.”
Die Christen in Aschrafieh seien wirklich geschockt und panisch, zumal ihr Viertel seit vielen Jahren sehr friedlich sei. “Die Kraft der gewaltigen Explosion habe jetzt aber viele traumatisiert”, meinte der Jesuit.
Papst Benedikt XVI., der das Land zwischen dem 14. und 16. September besucht hatte, liess noch am Freitag durch ein von Kardinalstaatssekretär Bertone unterzeichnetes Telegramm dem libanesischen Volk seine Anteilnahme übermitteln. Das furchtbare Attentat sei ein Grund zur Trauer für alle Libanesen. Der Papst vertraute die Opfer der Barmherzigkeit Gottes an und verurteilte die Gewalt, weil sie zu soviel Leid führe. Der maronitische Patriarch Bechara Rai, der die grösste christliche Einzelkonfession des Landes anführt, sprach in einer Stellungnahme von einem kriminellen und brutalen Anschlag auf den Frieden und auf die Freude, die der Papstbesuch gebracht hätte. Der Libanon sei in seiner Würde verletzt, die er der Welt während des Papstbesuchs vor Augen geführt habe. Die Tat zeige weiter, dass die Attentäter weder Gott noch das Urteil der Geschichte fürchteten. Aber der Glaube und die Hoffnung aller Libanesen würden nicht in sich zusammenstürzen, so der Patriarch.
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