Ein Kanadier in der Römischen Kurie
Exklusives Interview mit Kardinal Marc Ouellet (Teil 3)
Zum ersten und zweiten Teil des Interviews
Von Włodzimierz Rędzioch
Vatikanstadt, 13. September 2012 (ZENIT.org)
Zum zweiten Jahrestag seiner Ernennung als Präfekt der Bischofskongregation hatte ich ein Treffen mit Kardinal Ouellet und sprach mit ihm über seine Mission in der Kirche.
Zu den Aufgaben Ihrer Kongregation zählt unter anderem die Koordinierung der kirchenrechtlich vorgeschriebenen Besuche der Bischöfe im Vatikan, der so genannten Besuche “ad limina Apostolorum”. Nun liegt die Zahl der Bischöfe weltweit aber bereits bei 5.000. Mit welchen Schwierigkeiten ist diese Tatsache verbunden?
Kardinal Marc Ouellet: Laut den Vorschriften sollte jeder Bischof alle fünf Jahre einen “Ad limina”-Besuch absolvieren. Diese Rechtsnorm ist immer noch in Kraft, obwohl sich der Zeitabstand angesichts der grossen Zahl der Bischöfe de facto auf sieben Jahre vergrössert hat. Ferner unterliegen Privataudienzen beim Papst gewissen Beschränkungen. Die traditionelle 15-minütige Privataudienz für einen Bischof kann zwar noch eingerichtet werden, ist allerdings eher selten. Die Bischöfe treffen nun in Kleingruppen mit dem Heiligen Vater zusammen.
Ihre Funktion als Präfekt der Bischofskongregation versetzt Sie in die Lage, einen Einblick in die kirchliche Realität vieler Länder zu gewinnen und die Bischöfe in aller Welt kennen zu lernen. Wie sehen Sie die Situation der katholischen Kirche und den “Zustand des Glaubens” in der Welt aus Ihrer privilegierten Perspektive heraus?
Kardinal Marc Ouellet: Wir befinden uns in einer Krise des Glaubens, die vor allem die Gesellschaft des Okzidents erfasst hat. Es kommt daher nicht von ungefähr, dass seit Jahren Gespräche über die Neuevangelisierung stattfinden und Benedikt XVI. das Jahr des Glaubens ausgerufen hat. Der Ernst der Lage spiegelt sich im Rückgang der geistlichen Berufungen und in den Schwierigkeiten der Priester wider.
Meines Erachtens lässt sich die Neuevangelisierung auf der Basis der erneuerten und vertieften Gemeinschaft der Kirche verwirklichen. Neue Gedanken und Entwürfe sind grundsätzlich zu begrüssen, doch was letztendlich überzeugt ist die wahre Gemeinschaft innerhalb der Kirche. Wenn wir nicht eins untereinander sind, dann wird die Gegenwart Gottes nicht spürbar und die Frohbotschaft des Evangeliums kann nicht verbreitet werden.
Die von den verschiedenen kirchlichen Einrichtungen erlassenen Dokumente, die Veranstaltung von Tagungen, erhabene Worte – all dies genügt nicht, um den Glauben im Herzen des modernen Menschen entstehen zu lassen. Den Weg zum Glauben und zur Kirche finden die Menschen vielmehr durch die wahren Zeugen des Evangeliums.
Wie können die Gläubigen zu echten Zeugen der Botschaft des Evangeliums werden?
Kardinal Marc Ouellet: Unsere Hoffnung für die Zukunft der Evangelisierung ist die Familie. Wir durchleben heute eine anthropologische Krise: Durch die Abwesenheit Gottes geht auch der Sinn des Menschseins verloren. Es gilt daher, die menschliche Identität wiederzuerlangen. Diese Identität befindet sich in einer ständigen Beziehung mit den anderen Menschen. Von fundamentaler Bedeutung sind die Beziehungen innerhalb der Familie. Wir müssen uns auf die Gnade Gottes im Sakrament der Ehe rückbesinnen, denn darin liegt der Schlüssel für die Zukunft. Neue und grossherzige Familien sind der Nährboden für geistliche Berufungen.
Im Zusammenhang mit Familie und Ehe möchte ich, Eure Eminenz, an Ihre Lehrtätigkeit am Päpstlichen Institut “Johannes Paul II.” für Studien zu Ehe und Familie in Rom erinnern. Eine der grössten Bedrohungen der Familie als Frucht der Einheit zwischen einem Mann und einer Frau ist heute die Gender-Ideologie, die auf die Auferlegung eines neuen Menschenbildes, einer neuen Anthropologie, abzielt. Welche Gefahren birgt diese Ideologie?
Kardinal Marc Ouellet: Es handelt sich um eine neue Anthropologie, die nicht vom Fundament Gottes, vom biblischen Fundament, getragen ist. Wir sind nach dem Abbild Gottes geschaffen, und Gott tritt über die Komplementarität der göttlichen Personen Vater, Sohn und Heiliger Geist, in Beziehung. Daher ist nicht nur das Individuum, sondern auch die Familie in ihrer Gegenseitigkeit ein Abbild Gottes. Im Falle der Gender-Ideologie wird das naturgegebene, komplementäre Verhältnis zwischen den Geschlechtern aufgehoben und lediglich als kulturelles Konstrukt betrachtet. Der göttliche Ursprung der menschlichen Identität und folglich das göttliche Wirken wird nicht anerkannt. Unter diesen Voraussetzungen entwickelt sich eine Anthropologie ohne Gott. Im Lichte dieser Ideologie ist die Identität des Menschen frei wählbar. Er kann sich neu erfinden und sich aus puren Machtbestrebungen heraus selbst verwirklichen. Bereits im Buch Genesis ist hiervon die Rede: Wir wollen wie Gott sein, aber nicht mit ihm leben. Gott will uns aber “vergöttlichen” in seiner Gnade, im lebendigen Austausch der Liebe zwischen ihm und uns in Jesus Christus.
Die verschiedenen Lobbyisten wollen den Menschen diese Ideologie auch durch eine Einflussnahme in die staatlichen Gesetzgebungen auferlegen. Die Kirche muss die menschliche Wahrheit daher im Lichte der Offenbarung erkennbar machen.
Mit welchen Herausforderungen ist die Kirche der Gegenwart konfrontiert?
Kardinal Marc Ouellet: Der entscheidende Punkt ist die Globalisierung der Kommunikation. Diese hat gleichsam eine neue Welt, die digitale Welt, erschaffen. Die Frage ist, wie wir Teil dieser Welt werden und sie für den Dienst des Evangeliums nutzbar machen können. Um das Licht des Evangeliums für alle Menschen zum Leuchten zu bringen, ist unsere Gegenwart nötig. Ich habe auf diesem Gebiet keine Lösungsvorschläge technischer oder strategischer Natur, doch meiner Meinung nach stellt dieses Thema eine grosse Herausforderung dar.
Eure Eminenz, Sie unternehmen viele Reisen und verfügen über eine genaue Kenntnis der kirchlichen Realität in aller Welt. Wo orten Sie Zeichen der Hoffnung innerhalb der Kirche?
Kardinal Marc Ouellet: Hoffnung sehe ich vor allem in den grossen kirchlichen Bewegungen, in den vielen neuen Gemeinschaften (ich denke dabei an die Fokolar-Bewegung, die Gemeinschaft und Befreiung, die Gemeinschaft Sant’Egidio, den Neokatechumenalen Weg, die charismatische Erneuerung sowie die Bewegung Glauben und Licht in Polen). In ihnen vollzieht sich eine Neuevangelisierung, die insofern bereits Früchte trägt, als sie in mehreren Teilen der Welt beobachtet werden kann. In diesem Bereich ist ein starkes Hingezogensein zu einem Leben nach dem Evangelium und zum Familienleben spürbar. Es entstehen neue geistliche Berufungen.
Das Evangelium wird in der Begegnung mit Jesus dem Auferstandenen, der die Herzen erobert und die Gemeinschaft begründet, lebendig. Und die Kirche ist überall dort, wo Gemeinschaft ist. Die neuen Gemeinschaften sind die Bausteine einer neuen Kirche, die die Pfarren und das kirchliche Gefüge mit neuem Leben erfüllen kann.
Eure Eminenz, Sie sind ein Kenner Lateinamerikas, den “katholischsten” Kontinent. Wie verändert sich die Situation der Kirche angesichts der Triebkraft der Säkularisierung und des von Sekten betriebenen Proselytismus?
Kardinal Marc Ouellet: Ich beurteile die Lage trotz allem als positiv. Jahrzehntelang standen Fragen der Gerechtigkeit im Mittelpunkt des Einsatzes der Kirche Lateinamerikas.
Sie beziehen sich auf die Option für die Armen …
Kardinal Marc Ouellet: Das ist richtig. Wir müssen unseren Blick stets auf dieses Prinzip gerichtet halten, doch wir können nicht alle sozialen Probleme der Welt lösen. In jüngerer Zeit, insbesondere seit der Konferenz von Aparecida, hat sich die Verkündigung Jesu in der Welt, die vordergründige Mission der Kirche, als zentrales Thema herauskristallisiert. Auch von Lateinamerika gehen somit Impulse für die Mission aus. Dort wurde das insgesamt 10 Jahre (von 2007 bis 2017) dauernde Projekt der kontinentalen Mission ins Leben gerufen. Dabei handelt es sich um ein beispielhaftes Zeugnis für die ganze Welt. Dieser Kontinent bleibt der “Kontinent der Hoffnung” für die Kirche.
(Der vollständige Text des Interviews ist von der Zeitschrift “Inside the Vatican” in englischer Sprache veröffentlicht worden (August/September 2012))
Übersetzung des englischen Originals von Sarah Fleissner
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