Bitte mehr Chesterton!

Alexander Kisslers Hausrezepte

Vatican Magazin, 8-9/2012

Die späte Moderne, deren letzte Etappe wir so staunenswert gelassen durchschreiten, hat einen grossen Magen und ein weites Herz. Sie verzeiht in sehr grosszügig gefassten Grenzen das Verbrechen, sie hat Verständnis für fast jedes Lüstchen, sie toleriert Ignoranz, sie lässt es geschehen, dass mit dem Ellenbogen gedacht und mit der Inflation der Nullen gerechnet wird. Nur in einem Punkt versteht sie keinen Spass, und deshalb könnte das letzte Stündlein der Moderne schlagen: Sie verbittet sich Kritik. Sie ist unfähig geworden zur Selbstkritik, zur Reflexion auf die Bedingungen ihrer Möglichkeit. Nichts aber wäre in einem produktiven Sinn moderner als Modernitätskritik, nichts erwiese einer schlingernden Epoche einen grösseren Dienst als die Rücksicht auf ihre Herkünfte.

Wer den Untergang der Moderne in Nihilismus und Barbarei verhindern will, der muss sie kritisieren. Der muss also dringend Gilbert Keith Chesterton lesen. Dem schönsten Roman des Vielschreibers, Genussmenschen und Glaubensstreiters, der “Rückkehr des Don Quijote” von 1927, ist auf leichthändige, tiefgründige Weise zu entnehmen: Die Moderne macht das Schöne hässlich, das Besondere gewöhnlich, das Einfache kompliziert. Sie verherrlicht die Tüchtigkeit, bestraft die Aussenseiter und macht den Staat zum Aufseher über alle seine Bürger. Dennoch ist die Moderne 2012 wie schon 1927 unser Schicksal.

Nur einem neuen Don Quijote, der hier ein schrulliger Bibliothekar einer ehemaligen Abtei ist, kann es gelingen, der Moderne das Urteil zu sprechen und sich ihr zu entziehen. Der Bibliothekar, Michael Herne mit Namen, weiss: “Durch das Berechnen sind die Dinge unberechenbar geworden.”

Herne findet über eine Liebhaberaufführung Gefallen an der Rolle des mittelalterlichen Königs und wird schliesslich in einer Art konservativer Revolution tatsächlich zum “Wappenkönig über das ganze Gebiet der Westmarkung eingesetzt”. Er darf regieren und Recht sprechen für eine kurze, glückliche Zwischenzeit. Er redet einer “würdigen sozialen Ordnung” das Wort und betreibt die “Rückkehr zu einfacheren Dingen”. Er glaube, sagt er einmal, “dass moderne Dinge zu kompliziert sind, um auf andere als simple Weise behandelt zu werden”. Im Kampf für eine “hellere Welt” unterstützt ihn ein “komisches Mädchen” namens Olive. Sie schrieb das Theaterstück, in dem Herne seine königliche Ader entdeckt, und hat ihr Herz an die Farben des Mittelalters verloren: “Gewisse spitze Formen, gewisse leuchtende Farben waren Realitäten, die von Anfang an da waren und einen Massstab setzten für diese ganze verlorene Welt.” Für Herne, den Mann der Bücher, sind Quellen das Leben – und wo diese nicht mehr sprudeln, wird er streng.

Darum missfallen ihm “Doktoren der Theologie, die alles Göttliche geringschätzen”. Schon 1927 gab es demnach säkulare Neuerungssucht in theologischem Kleid. Gewiss, Chesterton nennt Herne einen “Fanatiker” und bietet einen vielstimmigen Chor auf aus Realisten, Besitzstandswahrern und Progressisten. Herne aber hat das letzte Wort auf Seite 352 der deutschen Ausgabe von 1992. Und Hernes Einsichten und Einreden sind es, aufgrund derer Valeriu Marcu, der konservative Zeitdiagnostiker mit kommunistischer Vergangenheit, vor mittlerweile 82 Jahren Chestertons Werk so zwischenbilanzierte: “Die Stadtrepubliken des Mittelalters; (…) das Mitleid mit den verlorenen und sich selbst suchenden Menschen; (…) die Barmherzigkeit Franziskus von Assisis, die alle Gletscher des Egoismus zum Schmelzen bringen wollte; die Arbeit dieser kriegerischen Epoche, die trotz aller inneren und äusseren Kämpfe Philosophen, Parlamente, Universitäten, Kirchen, Gesetze schuf – der Hauch dieser entfernten Wirklichkeiten ist es, der Chesterton die Gegenwart vergoldet.” Wenn heute jeder Bürger, jeder Politiker, jeder kirchliche Hierarch, jeder Funktionär mehr Chesterton läse, verschwände die panische Angst vor aller Modernitätskritik. Es wüchse die Erkenntnis: Wer modern sein will in Kirche und Welt, muss die Moderne kritisieren. Wer die Gegenwart liebt, muss sich aufmachen zu den Quellen.

Father-Brown
Valeriu Marcu

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