Wie katholisch sind Schweizer Pfarrblätter? Teil II

Forum der Kath. Kirche im Kanton Zürich

Der grosse Schlendrian ist nicht ausgebrochen, seit die Kirchen nicht mehr anzeigen, wo’s lang geht. Ihr Moraldiktat wurde bloss durch Moralismus als Breitensport ersetzt. Basis-Moralismus nennt man das. Ast hat Jordi betrogen – selbstredend pfui! Jordi hat Ast nicht vertraut – irgendwie auch pfui! Und wie früher Tante Melanie wetzt heute der Leserreporter durchs Revier. Er zückt sein Handy schneller als ein Gedanke durchs Hirn schiessen kann. Sekunden später flüstern die Medien besorgt “Hast du schon gehört?” und ­fragen scheinheilig “Was meinst du dazu?”.

Bei einem schläfrigen Beichtvater in der dunklen Anonymität des Beichtstuhls sein Bürdeli ausbreiten – schön wär’s!

Heute wird mit grösster Inbrunst öffentlich angeklagt, gebeichtet und demütig Busse getan. Das scheint sogar den Sündern selbst ein vertieftes Anliegen zu sein, wenn sie im Social-Media-Rausch ihr Repertoire von Schwachsinn bis Bosheit höchstpersönlich vor uns ausbreiten. Weil der Moralismus allenthalben so schampar (zu Deutsch: schandbar) viel Freude bereitet, wird er minutiös im Tag- und Nachtbau gewonnen. Der Mundwinkel von Charlène zeigt ein halbes Grad nach unten: Was stellt der Fürst wohl Furchtbares mit ihr an? – Merkel wird in einem ungünstigen Augenblick von der Kamera erwischt (Einsteigerübung für Paparazzi): Untrügliches Zeichen dafür, dass sie Hollande verabscheut. – Berlusconi klopft in einem Telefonat grosse Sprüche und droht, dem undankbaren Italien seinen Rücken zu kehren: Ein Entrüstungssturm erhebt sich, wahrscheinlich am heftigsten unter jenen, die dem Land bereits den Rücken gekehrt haben.

Aber nichts ist so erhebend, wie von anderen Moral zu verlangen und sich selbst zu schonen. Man ruft “Schande über Wulff”, während man auf Geschäftskosten telefoniert. Man senkt den Daumen für Hildebrand, während man sich diebisch freut, dass der Herr an der Kasse zu viel rausgegeben hat. Man verlangt von Blocher endlich mehr Diskretion, während man gerade in die Mailbox des Arbeitskollegen spienzelt. Und man klagt über grassierende Sexualisierung, während man sich bereitwillig an Melanies Bikinifotos satt sieht. Fremdbüssen, das war zu allen Zeiten die schönste Bussübung überhaupt. Also büs­sen Promis aller Klassen heute öffentlich ihre Vergehen. Für hundert Gramm extra auf der Rippe – ei-ei-ei – für ein unbedachtes Wort im Suff – na,na,na – und für den Schlabberlook am Wochenende – igitt, igitt.

Der Kampf gegen die Strenge der Kirche war offensichtlich kein Kampf für mehr Freiheit, sondern ein Kampf um das moralische Tafelsilber: Prüderie, Rigorismus, Puritanismus und all die anderen schönen Ismen. Wenn heute in Argentinien ein katholischer Bischof mit einer unbekannten Schönen beim Badespass fotografisch festgehalten wird, dann beugt sich auch der Vatikan dem Druck der öffentlichen Moral und innerhalb von 72 Stunden wird sein Rücktritt angenommen. Fast wünscht man sich den alten katholischen Schlendrian, auch Doppelmoral genannt, zurück: Promis aller Klassen, sündigt ruhig weiter, aber sündigt bitte im Geheimen.

THOMAS BINOTTO

Thomas Binotto
Ausgabe vom 05.07.2012 Rubrik: Schlusstakt

Wie katholisch sind Schweizer Pfarrblätter Teil I

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