“Beziehungen Juden und Katholiken waren nie besser”

Wir profitieren heute von der Revolution, die Nostra aetate darstellt

Die Tagespost, 27. Juli 2012

Rabbi David Rosen, Beauftragter des American Jewish Committee und des Israelischen Oberrabbinats für interreligiöse Beziehungen, über Benedikt XVI. und die Juden, den Seligsprechungsprozess für Pius XII. und die Nahostsynode. Von Oliver Maksan

Rabbi Rosen, in diesem Jahr begeht die katholische Kirche den 50. Jahrestag des Beginns des Zweiten Vatikanischen Konzils. Die von ihm verabschiedete Erklärung Nostra aetate wird als Wendepunkt der jüdisch-katholischen Beziehungen betrachtet. Wo stehen Juden und Katholiken heute?

Die Beziehungen zwischen Juden und Katholiken waren nie besser. Wir profitieren heute von der Revolution, die Nostra aetate darstellt. Ich weiss, Papst Benedikt mag das Wort Revolution nicht und betont eher die Kontinuität. Aber im Falle der Beziehungen zum Judentum kann man nicht anders als von einer Revolution sprechen. Vom Vorwurf, Gottesmörder und Brunnenvergifter zu sein, sind wir heute bei diplomatischen Beziehungen zwischen Israel und dem Heiligen Stuhl angekommen, hat Papst Johannes Paul II. seligen Angedenkens von einem ungekündigten und unkündbaren Bund zwischen Gott und dem jüdischen Volk gesprochen. Das ist mehr als ein Fortschritt, das ist eine Revolution.

Jüdische Kritiker sagen, dass Benedikt XVI. im Vergleich zu seinem Vorgänger weniger sensibel gegenüber jüdischen Befindlichkeiten sei. Die Aufhebung der Exkommunikation des Holocaustleugners Bischof Williamson und die Neuformulierung der Karfreitagsfürbitte der alten Liturgie werden hier genannt. Sehen Sie das auch so?

Nein, auf keinen Fall. Zwischen Papst Benedikt und seinen Vorgänger passt kein Blatt, was die Beziehungen zum Judentum anlangt. Als Papst Benedikt den Stuhl Petri bestieg, war die jüdische Delegation die erste, die er empfing, noch vor denen aller anderen Religionen. Und er versicherte uns damals, dass er die Linie seines Vorgängers fortsetzen werde. Die von Ihnen genannten Beispiele hätte man im übrigen auch schon Johannes Paul II. vorwerfen können. Er hat die Feier der alten Liturgie bestimmten Gruppen gestattet – einschliesslich der alten Karfreitagsfürbitte –, er hat sich ebenfalls um eine Aussöhnung mit der Piusbruderschaft bemüht. Papst Benedikt hat das nur fortgesetzt, wenn auch sicher mit neuem Elan und grösserem Umfang. Man hätte also schon damals, als Johannes Paul II. die alte Liturgie in bestimmtem Umfang wieder zuliess, protestieren sollen. Im Vergleich dazu hat Benedikt die Karfreitagsfürbitte sogar verbessert. In seinem Text ist nicht mehr von der Blindheit der Juden die Rede.

Dennoch wird dafür gebetet, dass die Juden Christus erkennen.

Ja. Ich gebe zu, das hat uns damals geschockt, als es erschien. Wir hätten uns die Übernahme des Gebets für die Juden aus dem neuen Messbuch gewünscht. Der Papst, aber auch Kardinal Kasper als unser Ansprechpartner haben uns dann klar gemacht, dass es sich um eine eschatologische, endzeitliche Perspektive handelt, die das Gebet einnimmt. Es orientiert sich an Paulus im Römerbrief. Der Apostel meditiert dort über das Paradox, dass der Bund unkündbar ist, die Juden aber gleichzeitig am Ende der Zeiten zur Erkenntnis Christi gelangen. Genau das will das Gebet nach der uns von Kardinal Kasper und vom Papst gegebenen Interpretation ausdrücken. Das hätte man aber auch vor oder mit der Veröffentlichung des Textes mitteilen können, dann wäre manche Irritation vermieden worden. Ganz ähnlich war das im Fall Williamson.

Inwiefern?

Nun, der Papst selbst hat ja in seinem Brief an die Bischöfe nach der Aufhebung der Exkommunikation mitgeteilt, dass man sich in Sachen Aufhebung der Exkommunikation nicht gut genug vorbereitet hatte. So hatte man nicht das Internet konsultiert. Das sind also eher methodologische als theologische Umstände, die für soviel Aufregung gesorgt haben.

War die jüdische Seite in der Causa Williamson nicht zu alarmistisch?

Die Piusbruderschaft ist eine sehr kleine Gruppe, in der Bischof Williamson wiederum eine Minderheit vertritt.

Ein sehr marginales Problem also.

Ja, marginal, aber es könnte symptomatisch werden für etwas viel Grösseres werden. Es ist ja nicht nur der Holocaust-Leugner Williamson. Anti-jüdische Vorbehalte sind in der Piusbruderschaft weit verbreitet. Und wenn die Piusbruderschaft, wie das das Ziel des Papstes ist, in die Kirche aufgenommen wird, ohne aber vorher den Antisemitismus und Antijudaismus in ihren Reihen glaubwürdig zu bekämpfen und sich zu Nostra aetate zu bekennen, würde das sehr viel über die Kirche aussagen und wäre für die jüdische Seite inakzeptabel.

Das heisst, die jüdische Seite beansprucht eine Art Veto in Fragen, die das jüdisch-katholische Verhältnis betreffen?

Nein. Wir haben der katholischen Kirche keine Vorschriften zu machen. Sie ist völlig frei zu handeln, wie sie dies wünscht und für richtig hält. Was wir uns aber vorbehalten, ist, unsere Partner im interreligiösen, von beiden Seiten gewünschten Dialog darauf aufmerksam zu machen, wie gewisse Handlungen von uns empfunden werden. Aber ich gebe zu, dass wir dies vielleicht manchmal in zu emotionaler Weise tun. Ich gebe auch zu, dass wir manchmal die Dinge vielleicht zu sehr auf uns beziehen in der Meinung, wir wären die Nummer eins auf der Agenda des Papstes. Wir sind gewiss nicht irrelevant, aber der Papst hat gewiss andere Prioritäten als die, wie die jüdische Gemeinschaft reagieren wird.

Etwa auf eine Seligsprechung Pius XII.?

Eine Seligsprechung Pius XII. würde sicher für grosse Aufregung unter Juden sorgen. Würde sie Papst Benedikt vornehmen, würde man sich im negativen Urteil über ihn bestätigt finden. Man würde das nämlich nicht als ein theologisches Urteil über die persönliche Tugendhaftigkeit eines Christen und damit eine rein kirchliche Angelegenheit begreifen, sondern als ein historisches Urteil über das Handeln eines Papstes in einer Epoche, die für Juden nicht einfach ein weiteres Unrecht zu den vielen in der Geschichte hinzugefügt hat. Ich glaube aber, dass unsere Beziehungen zu tief sind und zu viel auf dem Spiel steht, als dass eine mögliche Seligsprechung Pius XII. sie auf Dauer ernsthaft beschädigen könnte. Aber die katholische Kirche scheint sensibler bezüglich jüdischer Befindlichkeiten und der historischen Komplexität der Zeit des Holocaust zu sein, als wir Juden das vielleicht annehmen. Denn warum wartet sie solange mit der Seligsprechung, nachdem der heroische Tugendgrad längst festgestellt worden ist? Anstatt also die Kirche für die Eröffnung des Seligsprechungsprozesses zu kritisieren, sollten wir vielmehr schätzen, wie umsichtig sie diesen führt.

Sie haben die Revolution gelobt, die die katholische Kirche mit Nostra aetate vorgenommen hat. Aber sind die jüdisch-katholischen Beziehungen seither nicht von einer gewissen Einseitigkeit geprägt?

Im Talmud etwa gibt es Passagen über Jesus und Maria, die ein gläubiger Christ nur als blasphemisch auffassen kann. Maria wird als Hure bezeichnet und Jesus als promiskuitiv dargestellt. Wäre es nicht an der Zeit, sich davon zu distanzieren?

Sie vermischen Äpfel mit Birnen, wenn Sie die Bibel und ihre doktrinäre Aneignung und den Talmud auf eine Stufe stellen. Das eine ist eine kanonische Schrift, das andere die Diskussion darüber. Die Christenheit hat Juden in der Geschichte aufgrund theologischer Positionen ausgegrenzt und verfolgt. Das war Teil der Lehre. Deshalb war es notwendig, dass die Kirche sich davon distanziert hat. Mit Nostra aetate ist das geschehen. Das Judentum hingegen kennt keine theologische Lehre bezüglich des Christentums. Unsere Heilige Schrift ist bekanntlich davor entstanden. Tatsächlich gibt es religionsrechtliche Kontroversen. Aber auch hier ist der Grossteil eher positiv bezüglich des Christentums. Obwohl Juden so viel unter Christen zu leiden hatten, finden sich in der Geschichte positive Urteile über das Christentum. Im 18. Jahrhundert hat beispielsweise Rabbi Jacob Emden gesagt, dass das Christentum Teil des göttlichen Planes sei, wesentliche ethische und religiöse Wahrheiten zu den Völkern zu bringen. Und Rabbi Moses Rivkes hat gesagt, dass Juden für Christen beten müssten, weil sie dieselbe Heilige Schrift teilen und an die Offenbarung des einen Gottes glauben. All das sind positive theologische Aussagen über das Christentum, die aber aufgrund der schlimmen historischen Erfahrung mit Christen nicht tiefer im jüdischen Bewusstsein verankert sind.

Aber wäre es dann nicht Ihre Aufgabe, dafür zu sorgen?

Ja, dass wir das nicht stärker verbreiten, nehme ich als Kritik an. Es gibt aber Länder wie die USA, wo das geschieht. Dort besuchen Rabbiner katholische Schulen und umgekehrt, um von ihrem Glauben und ihrer Sicht auf den anderen zu berichten. Da wo Juden und Katholiken beide in der Minderheit sind, kommen sie seit Nostra aetate bestens miteinander aus. Es gibt aber Länder in Südamerika, wo man bis heute noch nichts von Nostra aetate gehört zu haben scheint.

Sie sprachen als einziger Vertreter des Judentums vor der Nahostsynode 2010 in Rom. Im September wird der Papst im Libanon das nachsynodale Apostolische Schreiben veröffentlichen. Erwarten Sie sich davon Impulse für den jüdisch-christlichen Dialog in Nahost?

Nun, Israel ist das einzige Land im Nahen Osten, wo die christliche Gemeinschaft nicht nur wächst, sondern auch volle Religionsfreiheit geniesst. Ich wäre begeistert, wenn der Papst dieses Faktum in seinem Schreiben zum Nahen Osten erwähnen würde. Aber das ist wohl aufgrund der politischen Situation und ihrer Zwänge nicht zu erwarten. Dennoch: Die Präsenz der Christen in Israel, die vor allem durch Immigration gewachsen ist, profitiert von der Demokratie in unserem Land. Am Umgang mit Minderheiten zeigt sich die Gesundheit einer Gesellschaft. In diesem Sinne sind die Christen in Israel eine Art Lackmustest für die israelische Gesellschaft geworden.

Andererseits leiden die arabischen Christen in den Palästinensergebieten unter der israelischen Besatzung.

Ich räume ein, dass die Christen in den palästinensischen Gebieten überproportional unter den Folgen der israelischen Besatzung leiden. Schwierigkeiten bei der Familienzusammenführung treffen eine kleine Gemeinschaft härter als eine grosse. Zudem sind die Christen überproportional im Tourismus engagiert, weshalb Einbussen in diesem Bereich aufgrund der Sicherheitslage sich besonders negativ auf sie auswirken. Aber man muss das Gesamtbild haben, um ihre Situation verstehen zu können. Während der Synodendebatten ist vielfach der Eindruck erweckt worden, allein der israelisch-arabische Konflikt sei schuld am Leiden der Christen im Nahen Osten. Dies verkennt die Folgen, die die Islamisierung etwa in den palästinensischen Gebieten für die Christen hat. Die christlichen Gemeinschaften des Nahen Ostens sind durch den Islam und sein Unvermögen, Religion und Staat zu trennen, unter Druck.

Rabbi David Rosen
NostraAetate: Erklärung über das Verhältnis der Kirche zu den nichtchristlichen Religionen
Papst Pius XII.

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