Ein unstillbares Verlangen nach Wahrheit
Der Philosoph Robert Spaemann wird heute 85 Jahre alt
Im Gespräch mit Stephan Sattler erzählt er “Über Gott und die Welt” Von Martin Mosebach
Dieser Artikel erschien in der Zeitung DIE WELT, 5. MAi 2012
Nach Robert Spaemanns Überzeugungen tritt der Philosophierende in ein grosses, die Jahrhunderte überspannendes Gespräch ein; jede seiner Einsichten ist eine Antwort auf eine von anderen gestellte Frage oder Widerlegung einer von anderen aufgestellten These, die wiederum Glied in der langen Kette der einst von Platon begonnenen Dialoge ist. So lag der Einfall des Journalisten Stephan Sattler nicht fern, Spaemann aus Anlass von dessen 85. Geburtstag am 5. Mai 2012 um ein Privatissimum zu bitten. In Frage und Antwort “Über Gott und die Welt” – dieser Titel ist ganz buchstäblich, nicht redensartlich zu nehmen – entstand so das Bild eines philosophischen Lebenswerks, das in seiner Eigentümlichkeit ganz und gar mit der Person und dem Charakter Spaemanns verbunden scheint, wie aus seinem Schicksal, seiner Art zu sein organisch hervorgewachsen.
Wollte man den sehr unphilosophischen Versuch unternehmen, von der Lebensfülle und der sprachlichen Entfaltung seiner Gedanken abzusehen und die Bedeutung Spaemanns für die zeitgenössische Philosophie auf einen einzigen Satz reduziert darstellen, müsste man seine Ausnahmestellung so benennen: Er ist die bedeutendste Stimme unter den Philosophen der Gegenwart, die der menschlichen Vernunft die Fähigkeit zusprechen, die Wahrheit zu erkennen, mehr noch: die Vernunft mit der Fähigkeit, die Wahrheit zu erkennen, ineinssetzen, und folgerichtig schliessen, dass der Begriff Vernunft sinnlos und leer sei, wenn dem Menschen die Fähigkeit zur Erkenntnis der Wahrheit grundsätzlich abgesprochen werde.
Wahrheit ist ein absoluter Begriff und der geschichtlichen Entwicklung enthoben, aber das hindert Robert Spaemann nicht daran, in seinem Denken die gesamte Geschichte der Philosophie im Blick zu behalten – er weigert sich, dem Rat Wittgensteins zu folgen, “die Leiter, über die man zur Erkenntnis gelangt sei, wegzunehmen” -, jede ihrer Stufen ist genauer Betrachtung wert, denn keine Stufe ist in die ihr folgenden restlos integriert. “Eine Bewegung, die sowohl ein Vorwärtsgehen als auch zugleich ein Rückkehren bedeutet, charakterisiert das Philosophieren. Philosophischer Fortschritt ereignet sich ja nicht wie der Fortschritt in den empirischen Wissenschaften in linearen Schüben.” Der Blick eines Mannes auf sein Werk und sein Leben, der die Vergangenheit nicht einfach für erledigt hält, sondern sie mit noch unentdeckten Herausforderungen in die Gegenwart und die Zukunft hineinragen sieht, lässt die Beschäftigung mit der Philosophie als die intensivste Form zu leben erscheinen. Mit jedem Menschen und jedem Gedanken, der ihm begegnet, stärkt sich, was in der Jugend Lebensgefühl, Sympathie und Widerwille war, und wird zu vernunftgetragener Schau der Objektivität der Welt.
Der asketische und disziplinierte Robert Spaemann stammt, das mag überraschen, aus Boheme-Milieu: Käthe Kollwitz hat seine Eltern, den jungen Kunsthistoriker und Dichter Heinrich Spaemann und die Tänzerin Ruth Krämer, zusammengebracht. Auch überraschend: Es war Rousseau-Lektüre, die bei den Eltern den Anstoss gab, sich mit der Religion zu befassen, ein Nachdenken, das sie schliesslich gemeinsam in die katholische Kirche führte. Die Mutter starb jung an Tuberkulose, der Vater liess sich daraufhin zum Priester weihen. Robert Spaemann wuchs in einer Umgebung auf, die jede Art von Faszination durch den Nationalsozialismus unmöglich machte; dies war von vornherein eine Gegenwelt – es weckt gerade heute wieder in bestimmten Kreisen Zorn, dass es eine solche unkorrumpierbare Gegenwelt in Deutschland wirklich gegeben haben soll und dass sie dazu noch mit der katholischen Kirche verbunden war, aber Robert Spaemann ist ihr Zeuge, sein bruchloses Leben in einem Jahrhundert voller Brüche ist ein staunen- und neiderregendes Faktum. Dass er in den zwölf Nazi-Jahren Aussenseiter war, verführt ihn selbstverständlich nicht dazu, auf die herab zu blicken, die es nicht waren. Aber in seiner Erzählung dieser Zeit wird doch ein Zug deutlich, der ihn bis heute auszeichnet: die Weigerung, sich durch ein Kollektiv moralisch entlasten zu lassen. Der Siebzehnjährige wollte wissen, was mit den verschwundenen Juden geschah; er glaubte die Rede vom Arbeitseinsatz nicht und fragte systematisch ein halbes Jahr lang Soldaten aus, die aus dem Osten auf Urlaub kamen, bis er die grausame Wahrheit wusste.
Spaemann berichtet von einem Gespräch, das er später einmal mit Carl Friedrich von Weizsäcker führte: Der wollte wissen, wieso Spaemann als Schüler gewusst hätte, was er als Sohn des Staatssekretärs von Weizsäcker – der, wie wir heute wissen, in den Judenmord von Amts wegen eingeweiht war – und als Atomforscher nicht gewusst hätte. Weizsäcker habe eben keine Recherchen angestellt, antwortete ihm Spaemann. “Und zu seiner Entschuldigung fügte ich hinzu: Für mich hatte dieses Wissen keine unmittelbaren Folgen. Er aber wäre in seinem Gewissen schwer belastet worden, wenn er im Wissen von diesen Ereignissen mit seiner Forschung im Dienst des Krieges weitergemacht hätte.” Eine “Entschuldigung” von derart unerbittlichem Wohlwollen, dass Weizsäcker sie sich wohl nur mit beträchtlicher Verlegenheit zueigen gemacht haben dürfte.
In der Autobiografie eines Philosophen werden stets die frühen, womöglich schon in der Kinderzeit liegenden geistigen Einsichten und Entdeckungen interessieren, die “philosophischen Augenblicke”, die ein Nachdenken ausgelöst haben, die Konstanten eines denkenden Charakters. Sie waren die Keime des sich aus ihnen entwickelnden Lebenswerks, sie können auch dem Leser, der nicht an die Lektüre philosophischer Bücher gewohnt ist, einen Zugang zu dem in Jahrzehnten aufgetürmten Gedankengebäude eröffnen. Zum knabenhaften Indianerspielen gehörte das Schleichen durchs Unterholz des Waldes; die breiten Waldwege galt es zu ignorieren. Unversehens kam dem Jung-Indianer Spaemann der Gedanke: Was würde ein echter Indianer tun, wenn er auf den gebahnten Weg stiesse? Er würde natürlich darauf gehen und sich nicht mehr durchs Gebüsch quälen. “Um weiter Indianer zu spielen, musste ich aufhören zu denken, wie ein echter Indianer in dieser Situation denken würde. Das Bemühen um Authentizität zerstörte sich selbst. Und das blieb mein Lebensthema: Unmittelbarkeit und das vergebliche Bemühen um Unmittelbarkeit und Authentizität.” Ein zweites schmerzlich empfundenes Erlebnis, das in dieselbe Kerbe schlug, war der Besuch bei einem Onkel in Nürnberg, der ihm die noch unzerstörte Stadt zeigte. “Was mich aber abstiess und mir den Besuch fast verleidete, waren die Schildchen, die an den alten Häusern angebracht worden waren und über die Geschichte des jeweiligen Gebäudes informierten. Diese Schildchen erschienen mir wie lauter Anführungszeichen, mit denen die Stadt sich selbst einklammerte. Mir schienen diese Häuser in gewisser Weise schon zerstört, ehe sie einige Jahre später von den Bomben real vernichtet wurden.” Das Verlangen nach Wahrheit schliesst aber nicht nur den Abschied von verführerisch schönen Lügen ein, es schliesst auch ein “ironisches Weltverhältnis” aus, wie es etwa von Richard Rorty definiert wurde – “die Setzung der ‘Welt’ in Anführungszeichen”. Im “inflationären Gebrauch des Wörtchens ‘sozusagen’ durch den grössten Teil aller sogenannten gebildeten Menschen” sieht Spaemann die Wirklichkeitsverweigerung der modernen Philosophen vulgarisiert, so wie Baudelaire einst Voltaire als den “prédicateur des concierges” – Prediger der Hausmeister – bezeichnete. “Virtualisierung”, “Simulation”, Schlüsselbegriff des zeitgenössischen Denkens, sieht Spaemann in einem einfachen Wort des Dichters Charles Péguy auf den Punkt gebracht: der Modernismus “glaubt nicht, was er glaubt.” Die Welt des Scheins als Endstation zu akzeptieren, das war dem jungen Spaemann eine unerträgliche Zumutung. Sein Antrieb war, durch die Schleier des Scheins zur objektiven, vielleicht unübersteigbaren Mauer der Wirklichkeit vorzudringen.
Es ist unmöglich, auch nur den wichtigsten Stationen des Spaemannschen Lebenswegs, wie Stephan Sattler ihn erfragt und wie Spaemann ihn erzählt, in diesem knappen Abriss annähernd gerecht zu werden. Hier können nur wenige Motive anklingen, die in den vielgelesenen Hauptwerken dieses Philosophen in bestechend klarer Sprache ausgeführt worden sind. Spaemann hat sich niemals das Recht auf Dunkelheit konzediert, das viele Meisterdenker beansprucht haben, und ebenso wenig fand er es erforderlich, für seine Gedanken einen eigenen philosophischen Dialekt, einen Spezial-Jargon, zu entwickeln; stilistisch folgt er dem von ihm sonst äusserst kritisch gesehenen Descartes, bei dem zum ersten Mal das Sein vom Leben abgespalten und auf das Bewusstsein reduziert erscheine. Der Sündenfall des modernen europäischen Denkens ist für Spaemann der Bruch mit einer Haltung, die die europäische Philosophie die zweitausend Jahre davor ausgezeichnet habe: die Fülle des Seienden mit staunender Sympathie als grosses Konzert zu verstehen und durch eine anthropomorphistische Betrachtungsweise gleichsam familiär in ihrer jeweiligen Eigentümlichkeit zu akzeptieren, anstatt sie nur auf ihre Nützlichkeit und Verwertbarkeit hin zu erforschen. Sein Versuch, hier zu einer wirklichen Revision zu gelangen und das Steuer des Denkens nach dreihundert Jahren herumzuwerfen, in denen aus dem Primat der Naturbeherrschung die Gefahr der Naturzerstörung geworden ist, besteht aber keineswegs nur in einem Rückzug auf Thomas von Aquin, in dem die antike Philosophie zu einem glanzvollen Abschluss gelangt; es sind vielmehr Kant, Hegel, Karl Marx und Nietzsche, mit deren Kategorien er es unternimmt, das Gefängnis des modernen Nihilismus und Relativismus aufzubrechen.
Zu Spaemanns Naturell gehört es zugleich, die philosophische Erkenntnis “nicht wie einen Raub” zu bewahren, sondern sie sich im praktischen Leben bewähren zu lassen. Aus seiner Wahrheitserkenntnis zieht er moralische und politische Konsequenzen – notwendigerweise, wie er sagen würde, denn Philosophie ohne Folgen für das Leben wäre für ihn ein sinnloses Unterfangen, das die Mühe nicht wert wäre.
Spaemanns “Autobiografie im Gespräch” hat Lücken, die bezeichnend sind und die vermutlich aus seiner Liebe zur Diskretion herrühren. Wenig ist von Cordelia Spaemann die Rede. Die Tochter des Malers Heinrich Steiner, der in der Nachfolge von Hans von Marées stand, und einer jüdischen Mutter war in der Nazi-Zeit von Verfolgung bedroht; die Geschichte ihrer Konversion zur katholischen Kirche wäre eine eigene Betrachtung wert. Sie war eine femme de lettre; Übersetzerin und Nachdichterin des hermetischen Grossgedichtes “Anathemata” von David Jones, Spaemann sagte einmal, in den langen Jahren ihrer Ehe habe er die Welt mit vier Augen gesehen. Es sähe ihm ähnlich, wenn er diesen Verlust nicht zum Gegenstand eines für die Öffentlichkeit geführten Gespräches machen wollte.
Ebenso verschwiegen behandelt er aber auch seinen jahrzehntelangen und keineswegs im Verborgenen geführten Kampf um die nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil unterdrückte überlieferte katholische Liturgie. In diesem Kampf ging es eben nicht um ein Argumentieren in dem niemals an ein Ende gelangenden Gespräch der Philosophen, in dem jedes Wort eine Gegenäusserung hervorruft. Es ging um ein Erleben, das dem Denken vorangeht und zugleich seine Krönung bildet. Von dem besonderen Charakter christlicher Liturgie einmal abgesehen, darf man vielleicht vermuten, dass dieser Ritus in seiner aus der Frühzeit des Christentums und historisch sogar weit darüber hinausreichenden Form für ihn so etwas wie ein “Fest der Objektivität” ist, die Konkretisierung der Welt, “wie sie immer ist”. Erst in dem die Zeiten überspannenden Ritus wird die Einheit der Menschheitsfamilie erfahrbar, die sonst eine Theorie bleibt und stets unter dem Verdacht des Wunschdenkens steht.
Als Dreijähriger auf dem Schoss der Mutter hatte er mit Bewusstsein zum ersten Mal dem gregorianischen Choral von Benediktiner-Mönchen zugehört und protestiert, als die Eltern ihn aus der Kirche tragen wollten. Im hohen Alter nickte er mit zustimmendem Lächeln, als man ihm den Satz des Konfuzius vorlegte: “Der Edle, der die Bücher der Weisen gründlich studiert und der sein Wissen sodann den überlieferten Riten unterwirft, kann nicht fehlgehen.” Dass die denkend erschlossene Wahrheit sich sinnlich offenbart und in ihrer Verbindlichkeit bestätigt, gehört zur Mentalreservation dieses leidenschaftlichen Philosophen.
Robert Spaemann: Über Gott und die Welt. Eine Autobiografie in Gesprächen. Klett-Cotta, Stuttgart. 350 S., 24,95 Euro.
Robert Spaemann ist einer der bedeutendsten Philosophen Deutschlands. In einem Gespräch mit Stephan Sattler blickt er zurück auf sein Werk und sein Leben.
Martin Mosebach, 1951 geboren, ist Schriftsteller. 2007 verlieh ihm die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung den Georg-Büchner-Preis. Im vergangenen Jahr erschien sein Essay-Band “Als das Reisen noch geholfen hat” (Hanser).
Quelle
Unzeitgemäss
Weil es eine Wahrheit gibt, gibt es Gott
Plädoyer für die Achtung des Lebens: Robert Spaemann
Massstäbe für ein gelingendes Leben
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