Die Plage “Vaticanleaks” dürfte noch ein wenig weiterwüten

Zielscheibe ist Kardinal Bertone

Bei der Dokumentenflucht aus dem Vatikan geht es nicht um den Glauben oder die Moral, sondern um Ränkespiele

Rom, Die Tagespost, 02.03.2012, von Guido Horst

Es geht nicht um den Kurs der Kirche, es geht nicht um den Papst. Es geht auch nicht um besondere Initiativen, wie das anstehende “Jahr des Glaubens”, oder um kirchenpolitische Projekte wie die Aussöhnung mit der schismatischen Pius-Bruderschaft. Erst recht haben “katholische Knackfragen” wie die traditionsgerechte Auslegung des Zweiten Vatikanums, die zum nahenden fünfzigsten Jahrestag der Eröffnung des Konzils immer spürbarer auf die Agenda des kirchlichen Lehramts rückt, nichts mit dem zu tun, was derzeit die italienischen Medien beschäftigt, wenn es um die römische Kurie und die Machtspielchen hinter den Leoninischen Mauern geht.

Seit Wochen erleidet der Vatikan die Plage der “Dokumentenflucht” – kurz “Vaticanleaks” oder noch kürzer “Vatileaks” genannt: Vertrauliche Schriftstücke aus den Büros des vatikanischen Staatssekretariats tauchen in italienischen Zeitungen und Magazinsendungen des Fernsehens auf und vermitteln den Eindruck, als bestünde das Leben der römischen Kurie wie zu besten Borgia-Zeiten nur darin, zu tricksen und sich zu tarnen, zu meucheln und zu morden – bildlich gesprochen, nicht die physische, sondern die moralische Integrität ist gemeint. Und das Opfer dieser konzentrierten Giftpfeil-Attacke ist eindeutig Kardinalstaatssekretär Tarcisio Bertone.

Offene Flanken des Staatssekretariats

Bewiesen hat das wieder ein Mal die jüngste Veröffentlichung vertraulicher Briefe: In der Tageszeitung “Il Fatto Quotidiano” erschienen am vergangenen Dienstag zwei Schreiben. Eines von Kardinal Bertone vom März vergangenen Jahres an den ehemaligen Erzbischof von Mailand und heute 77-jährigen Kardinal Dionigi Tettamanzi, in dem der Kardinalstaatssekretär den emeritierten Erzbischof dazu aufforderte, innerhalb von zwei Wochen auch die Leitung des Instituts “Giuseppe Toniolo” abzugeben und den Stuhl frei zu machen für Professor Giovnni Maria Flick. Das “Istituto Toniolo” ist der rechtliche und finanzielle Träger der bedeutenden katholischen Universität “Sacre Cuore” in Mailand wie auch der bekannten Gemelli-Klinik und zählt zu den wichtigsten – und wirtschaftlich potenten – Einrichtungen der Kirche Italiens auf akademisch-wissenschaftlichem Gebiet. Im Sommer 2002 zum Erzbischof von Mailand ernannt, hatte Tettamanzi im Jahr darauf auf Bitte des verstorbenen Papstes Johannes Paul II. das Amt des Präsidenten des Instituts übernommen, nachdem der Vorgänger Emilio Colombo in einen Drogenskandal verwickelt worden war. Benedikt XVI., so schrieb jetzt Bertone an Tettamanzi, habe beschlossen, die Leitung des Instituts zu erneuern, womit das Mandat des bisherigen Präsidenten erlösche.

Der zweite Brief, nur wenige Tage später geschrieben, war ein Protestbrief Tettamanzis an Papst Benedikt, in dem der “gekündigte Präsident” unter anderen aber auch wissen wollte, ob Bertone wirklich im Auftrag des Heiligen Vaters geschrieben habe. Die Sache endete für Bertone peinlich. Einen Monat später empfing der Papst Kardinal Tettamanzi in Rom, mit der Folge, dass dieser auch heute noch an der Spitze des “Istituto Toniolo” steht. Wer auch immer aus dem vatikanischen Staatssekretariat diese beiden Briefe der Zeitung “Il Fatto Quotidiano” zugespielt hat, wollte damit dafür sorgen, gleich mehrere Schwächen des Staatssekretärs offen zu legen: Bertone mischt sich in Angelegenheiten der Kirche Italiens ein, beruft sich dabei auf den Papst, wird aber von diesem nicht gedeckt, wenn sich jemand energisch genug wehrt.

Ein weiteres “italienisches Abenteuer” ging vor Monaten durch die Zeitungen und ist deshalb allgemein bekannt: Kardinal Bertone wollte das von einem Priester gegründete und tief verschuldete Krankenhaus “San Raffaele” in Mailand übernehmen und in ein medizinisches Vorzeige-Projekt des Vatikans verwandeln, ein Ansinnen, das dann Ettore Gotti Tedeschi, der Präsident des vatikanischen Geldinstituts IOR, das die nötigen Millionen hätte hinblättern müssen, im letzten Augenblick verhindern konnte.

Noch immer weiss man nicht im Vatikan, wer es im Einzelnen ist, der vertrauliche Dokumente aus dem Staatssekretariat nach aussen schmuggelt und damit Kircheninterna öffentlich macht. Der Auftritt eines unkenntlich gemachten Mannes in einer Fernsehsendung vor zehn Tagen, in der dieser sich als Laien in den Diensten des Staatssekretariats ausgab und behauptete, mit ihm würden zwanzig weitere Bedienstete der Kurie aus “Angst und Wut” den Maulwurf spielen, wurde allgemein nicht ernst genommen. Stattdessen aber scheint es Prälaten und vielleicht auch Laien vor allem in der ersten Sektion des Staatssekretariats zu geben, die ihren Unmut über ihren obersten Chef nicht mehr im Zaun halten können. Bereits die Veröffentlichung von zwei vertraulichen Briefen des ehemaligen Sekretärs des Governatorats des Vatikanstaates, Erzbischof Carlo Maria Viganos, an den Papst und an Kardinalstaatssekretär Bertone, in dem dieser nach seiner “Wegbeförderung” zum Apostolischen Nuntius in den Vereinigten Staaten schwerwiegende Vorwürfe gegen namentlich genannte Personen wegen der Führung und des Finanzgebarens der Verwaltung des Vatikanstaats formulierte (DT vom 14. Februar), traf Kardinal Bertone. Es ist nicht Aufgabe des Papstes, Personalentscheidung wie die im Falle Vigano vorzubereiten. Dafür gibt es den Staatssekretär. Er ist der “Regierungschef” im Vatikan, der Papst hat die Weltkirche zu führen.

Und was die Personalentscheidungen in der Kurie betrifft, so hat sich unter Beobachtern längst schon der Spruch festgesetzt, dass der Vatikan fest in Ordenshand ist, und zwar in der Hand der Salesianer Don Boscos. Dass der Salesianer Bertone eine gewisse Vorliebe dafür hat, Posten in der Kurie mit Mitgliedern seines Ordens oder mit Klerikern aus seiner norditalienischen Heimat zu besetzen, wird aufmerksam verfolgt. Andere mögen sich da zurückgesetzt fühlen oder verrichten ihren Dienst mit dem Gefühl, nun schon allzu lange auf die ersehnte Beförderung oder die Weihe zum Bischof warten zu müssen. Verteidiger Bertones halten diesem zugute, mit der Bevorzugung von Männern des Vertrauens jene alten Seilschaften ausschalten zu wollen, die es überall in der Kurie, vor allem auch im Staatssekretariat, noch immer gibt und die eines verbindet: dass sie mit der Wahl des Glaubenspräfekten Joseph Ratzinger zum Papst ganz und gar nicht einverstanden waren. Ist also Bertone doch eher der treue Diener seines Herrn, der mit seinen Personalentscheidungen dafür sorgt, dass die römische Kurie etwas “ratzingerianischer” wird?

Auf jeden Fall hält Papst Benedikt an seinem Staatssekretär fest. Noch. Kardinal Bertone wird im Dezember 78 Jahre alt. Das ist ein Alter, in dem man den “Regierungschef” im Vatikan ehrenvoll in den Ruhestand entlassen kann. Auch der Vorgänger, Kardinal Angelo Sodano, hatte bei seinem Abgang genau dieses Alter erreicht. Dass aber Benedikt XVI. der Wühlarbeit von “Maulwürfen” und dem Druck der Medien nachgeben würde, das ist eine Hypothese, die man sich in Rom nun auch wieder nicht so richtig vorstellen kann. Die Plage “Vaticanleaks” dürfte noch ein wenig weiterwüten.

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