14. Februar Valentinstag: Unter Landstreichern
“Dieser Mann ist mein Schutzengel! Ohne ihn wäre ich jetzt tot!”
Frost und Schnee halten Deutschland weiter fest im Griff. Zwei Abenteurer haben sich zwei Wochen lang in deutschen Grossstädten unter Obdachlose und Heimatlose begeben, weil sie wissen wollten, wie das ist – auf der Strasse zu leben. Und machten bei dem Selbstversuch überraschende Erfahrungen.
Die Tagespost, 13.02.2012, von Tobias Krüger
“Dieser Mann ist mein Schutzengel! Ohne ihn wäre ich jetzt tot!“ Thomas hat Tränen in den Augen, während er darüber spricht. Dann erzählt er uns seine Geschichte.
Über zwanzig Jahre arbeitete er treu für ein- und denselben Industriekonzern. Mit dem Konkurs der Firma wurde er entlassen. Eine Abfindung gab es nicht und das Arbeitsamt liess sich mit den Verträgen und Finanzprüfungen so lange Zeit, bis Thomas am Ende seiner finanziellen Kräfte war und keine Miete mehr zahlen konnte. Nach drei Monaten setze ihn sein Vermieter schliesslich vor die Tür und pfändete alles, was er noch an Besitztümern hatte. Mit nichts als einem kleinen gelben Rucksack und der Kleidung, die er am Leibe trug, stand er plötzlich inmitten einer Grossstadt auf der Strasse. Vollkommen verzweifelt und voller innerlicher Scham, konnte er keinen seiner Bekannten um Hilfe bitten. “Ich war drauf und dran, mich umzubringen”, erzählt er, “als plötzlich aus dem Nichts Diddi auftauchte.”
Diddi, der Mann, den er als seinen Schutzengel bezeichnet, ist ein Obdachloser, der seit mehr als fünfundzwanzig Jahren abwechselnd auf der Strasse und im Gefängnis lebt: Schlägereien, schwere Körperverletzung, bis hin zum Totschlag. Nie plante Diddi, jemanden zu töten, er handelte immer im Affekt, weil er sich gereizt fühlte und die Kontrolle verlor. Er ist ein Mann mit geringer Hemmschwelle, aber grossem Herzen. Als er Thomas sieht, kauft er ihm mit seinen letzten Cents im Wert von 2,35 Euro einen Kaffee, um ihm die kalten Hände zu wärmen und lädt ihn zu sich nach “Hause” ein. “Wir haben einen guten Platz unter der Brücke”, sagte er, “mit vielen Decken und Schlafsäcken und wir haben noch Matratzen für Gäste frei!”
Hier lebt Thomas jetzt seit einer Woche und er wird noch eine weitere bleiben, bis das Arbeitsamt schliesslich den Weg durch den Paragrafendschungel gefunden hat und ihm mit der lang ausstehenden Zahlung eine neue Wohnung finanziert. “Niemals habe ich in meinem Leben so einen guten Freund gehabt”, sagt er mit tiefster Dankbarkeit in der Stimme.
Ja, es gibt eine Leichtigkeit
Dies ist nur eine von vielen bewegenden Geschichten, die wir in unserer Zeit als Landstreicher auf Deutschlands Strassen erzählt bekamen. Durch diese Geschichten erfuhren wir, was es heisst, als Obdachloser auf der Strasse zu leben. Selbst erleben konnten wir es nicht, denn wir waren Landstreicher, Berber, die sich freiwillig in diese Situation gebracht hatten. Für einen Aussenstehenden mag das keinen Unterschied machen. Unsere Kleidung war abgeranzter als die vieler Obdachloser, wir wuschen uns nicht, hatten kein Geld und besassen nur die Kleidung, die wir trugen. Doch für uns war es ein Abenteuer, es war spannend, voller Erkenntnisse und von unerwarteter Leichtigkeit geprägt. Wir waren fast enttäuscht, als wir feststellten, wie leicht alles war. Die Fülle der Möglichkeiten, um an Nahrung zu kommen, schien unermesslich. Die prall gefüllten Supermarktcontainer boten uns Lebensmittel in bester Qualität, die nur knapp über das Mindesthaltbarkeitsdatum hinaus waren. Doch schon bald merkten wir, dass es noch einfachere Methoden gab.
“Wir reisen ohne Geld durch Deutschland und leben wie Obdachlose. Haben Sie vielleicht Lebensmittel, die Sie eh nicht mehr verkaufen würden und die Sie uns geben können?” Diese Frage, zusammen mit einem freundlichen Lächeln, beim Asia-Imbiss, Bäcker, Gemüsehändler oder in einer Dönerbude reichte aus, um mit einem erstklassigen Menü versorgt zu werden. Soziale und kirchliche Einrichtungen verteilen umsonst oder für wenige Cent ein tägliches Frühstück, Mittag- oder Abendessen, mit dem zum Teil kein Hotel mithalten kann: All-You-Can-Eat, acht verschiedene Brotsorten, warme Brötchen, Käse, Wurst, Nutella, Kaffee, Tee, Kakao und vieles mehr. Kaum ist man satt, kommt eine freundliche Dame und bietet einem eine Tüte an, damit man noch ordentlich einpacken kann. “Nehmt lieber etwas mehr, es ist so schade, wenn wir es wegschmeissen müssen!”
Warum hilft man?
Damit haben wir nicht gerechnet. Wo war unser Kampf ums Überleben, unser Street-Survival, auf das wir uns eingestellt haben? Die Enttäuschung wich bald der Begeisterung. Wir spürten das erste Mal in unserem Leben die Freiheit, die ein Landstreicher fest im Herzen verankert trägt. Schon lange haben wir uns nicht mehr so frei, leicht und zufrieden gefühlt.
Heisst das, dass Obdachlose die glücklichsten Menschen auf der Welt sein müssten?
Hier wird der Unterschied zwischen Landstreichern und Obdachlosen deutlich. Heimatlose, die vom Schicksal gebeutelt wurden, haben sich ihre Lage nicht ausgesucht. Schicksalsschläge, Depressionen, Abrutschen in Alkoholismus, Drogen-, Tabletten- oder Spielsucht – auch Straffälligkeiten, Gefängnisaufenthalte oder ein simples Systemversagen wie im Fall von Thomas führen dazu, dass Menschen allmählich oder schlagartig aus der Gesellschaft herausfallen.
Dabei müssen Obdachlose weder an Hunger, noch an Kälte leiden. Das Hilfsnetzwerk ist so gross, dass alle existenziellen körperlichen Bedürfnisse abgesichert sind. Gleichwohl, und das ist der Unterschied zu den Landstreichern: In der Seele leiden sie unter tiefer Trauer, Verzweiflung, Hoffnungslosigkeit, Sinnleere, angestauter Wut und Aggression. Zwar bietet das Sozialsystem in Deutschland genug, um selbst dann noch bequem leben zu können, wenn man pausenlos unter starkem Drogen- oder Alkoholeinfluss steht. Aber bei allem, was wir für das Überleben von Obdachlosen tun, übersehen wir, was sie am meisten benötigen: Verständnis. Wir sind stets bemüht, ihnen zu helfen, ihnen etwas zu geben oder sie aus ihrer misslichen Lage zu befreien. Anschliessend sind wir verärgert, wenn wir feststellen, dass sie uns keinerlei Dankbarkeit zeigen oder unsere Hilfe gar ablehnen. Was aber ist unsere Motivation, zu helfen? Helfen wir, weil wir das Leid der Obdachlosen wirklich nachvollziehen können? Weil wir ein echtes Interesse an ihrem Leben haben? Oder helfen wir ihnen, um unser eigenes Gewissen zu beruhigen? Fühlen wir uns selbst schlecht, wenn wir Menschen sehen, denen es offensichtlich schlechter geht als uns? Wollen wir uns durch die milde Gabe nicht ab und an freikaufen? Helfen wir im Endeffekt nicht eher unserem Gewissen als den Obdachlosen?
Um wahrhaft hilfreich zu sein, muss man zunächst die Wurzel des Übels erkannt und verstanden haben. Erst dann kann man den Kern behandeln, anstatt allein Symptome. Wenn die Seele verletzt ist, hilft keine milde Gabe für körperliche Bedürfnisse. Im Gegenteil nimmt sie vielen Obdachlosen sogar die Möglichkeit, aus ihrem Leiden je wieder herauszufinden. Warum sollte ich meine Sucht und mein Selbstmitleid aufgeben, wenn mir doch jeder dabei hilft, sie aufrechtzuerhalten?
Ohne Verständnis und Akzeptanz funktioniert auch psychologische Hilfe nicht. “Ich bin besser als du, deswegen helfe ich dir!” – diese Kernaussage schwingt immer dabei mit und sorgt bei den Obdachlosen für Wut und Ablehnung, auch das war unsere Erfahrung.
Auf unserer Tour waren wir plötzlich in einer gänzlich ungewohnten Position. Die Obdachlosen waren nun Weggefährten, Lehrmeister, die uns sagten und zeigten, wie wir uns in einer fremden Stadt am besten zurechtfinden. Dadurch waren wir plötzlich auf Augenhöhe. Wir tauschten uns über Schlafplätze und Nahrungsquellen aus, hörten ihre Lebensgeschichten und erzählten ihnen unsere. Immer mehr stellten wir fest, dass es zwischen den Menschen auf der Strasse und denen in Häusern keinen Unterschied gibt. Jeder hat seine Lebensthemen, die ihn begleiten. Jeder hat seine Traumata, Ängste und Blockaden. Der Unterschied liegt lediglich in der Strategie, mit ihnen umzugehen. Sich in Drogen und Alkohol zu flüchten und sein Leben auf der Strasse zu verbringen, kam uns nicht abwegiger vor, als in Arbeitswut und Konsumzwang zu verfallen und schliesslich Burn-Outs, Nervenzusammenbrüche und chronische Krankheiten zu erzeugen.
Was nehmen wir von der Tour für uns selbst mit? Wir haben unsere Existenzängste verloren. Nicht das, was wir besitzen, ist unsere Existenz, sondern unser Leben. Auch die Angst vor dem beruflichen Scheitern ist dem Mut gewichen, unserer wahren Berufung zu folgen. Denn wir wissen jetzt, dass das Leben auf der Strasse ein echtes Abenteuer sein kann. Wenn alle Stricke reissen und wir mittellos sind, warten auf uns in jeder Stadt freundliche, hilfsbereite Menschen, die einem jederzeit einen Schlafplatz und ein gutes Gespräch anbieten. Sei es nun unter der Brücke, in der Wärmestube oder in der Parkgarage.
Info
Heiko Gärtner und Tobias Krüger waren vom 23. Januar an für zwei Wochen als Landstreicher in Deutschland unterwegs. Dabei reisten sie ohne Geld und Schlafsack, lediglich mit der Kleidung, die sie am Leibe trugen, einem zweiten Paar Socken und zwei Kameras durch Nürnberg, Frankfurt, Köln, Stuttgart und zum Bodensee. Die beiden Wildnislehrer und Survivalexperten, die für gewöhnlich Expeditionen und Extremseminare in der Natur leiten, wollten die Überlebensfertigkeiten in der Stadt von den Menschen lernen, die sich am besten damit auskennen: den Obdachlosen. DT/sei
Internet: HeikoGaertner
Schreibe einen Kommentar