Der letzte Untergang des Abendlands?
Leben wir am Ende der Spätzeit Europas?
Oder erleben wir nur das Ende seiner Nationalstaaten? Rafft sich das alte Europa noch einmal auf – wenn schon nicht aus Vernunft, so wenigstens aus der Not gegenwärtiger Krisen und drohender Kriege?
Die Tagespost, 05.12.2011, von Stephan Baier
Wie werden die Historiker in zwei oder drei Generationen auf unsere Epoche blicken? Vielleicht werden sie unsere Zeit als das Ende der Spätzeit Europas sehen. Die Staaten Europas hatten ihre dominante Weltstellung ja bereits im Ersten Weltkrieg – dem bis dahin grausamsten, sinnlosesten aller europäischen Bruderkriege – verspielt. Es war Amerika, das 1918 den Krieg entschied. Dass Briten und Franzosen ihre Kolonien behielten, beruhte auf einem Mangel an Konkurrenz: Amerika zog sich in den Isolationismus zurück, in Russland rangen Rot und Weiss um die Macht. Am Ende des Zweiten Weltkriegs – dessen Ausgang wiederum der Kriegseintritt Amerikas entschied – war es mit dem Zeitalter der Europäer wirklich vorbei. Der Osten und die Mitte Europas wurden zur Kolonie der Sowjetunion, der Westen genoss Freiheit von Washingtons Gnaden.
Die Einigung Europas war in diesem Kontext zwar keine neue, aber eine erneuernde und inspirierende Vision. Sie gab dem gealterten Europa einen unerwarteten, späten Frühling, wie Augustus dem Imperium Romanum einen neuen Frühling gab oder das österreichische Kaisertum der Reichsidee des Sacrum Imperium. Julius Caesar wurde wegen des blossen Verdachts noch ermordet, doch Augustus beendete die herbstlich-hinfällige römische Republik – und gab so dem Imperium für ein paar Jahrhunderte Kraft und Dynamik. 1806 zerbarst das herbstlich-hinfällige Heilige Römische Reich unter der revolutionären Kraft der napoleonischen Truppen – doch die Erhebung Österreichs zum Kaisertum gab der christlich-abendländischen Reichsidee für ein weiteres Jahrhundert Gestaltungskraft und Refugium. Nicht unähnlich war es mit der europäischen Idee: Sie gab einem nicht nur herbstlich-hinfälligen, sondern bereits winterlich-gefallenen Kontinent neue Aufbruchsdynamik und unerwartete Weltgeltung.
Robert Schuman hätte das Einigungswerk gerne mit der Kultur begonnen, andere hätten die Politik bevorzugt. Unter den realen Gegebenheiten in Nachkriegseuropa konnte es jedoch nur die Wirtschaft sein, die zum Hebel der Integration werden konnte, ohne zu früh auf Misstrauen und Widerstand zu stossen. So begann der unerwartete Wiederaufstieg des am Boden liegenden Europa – ein Aufstieg, dessen Ende wir derzeit vielleicht erleben. Westeuropa wurde zu einer global einzigartigen Zone des Friedens, des Wohlstands und der Rechtssicherheit. Was Sonntagsredner als das “europäische Lebensmodell” bezeichnen, kann sich zwar nicht im patriotischen Pathos, aber in der Qualität mit dem “american way of life” durchaus messen. Die Europäer westlich des Eisernen Vorhangs genossen relativ hohen und breiten Wohlstand, verbunden mit relativ grosser persönlicher Freiheit, Rechtssicherheit und Frieden. Diese Zone in der “Osterweiterung” von 2004 auch auf die vormals vom kommunistischen Totalitarismus unterdrückten Länder Mittel- und Osteuropas auszudehnen, war eine historische Grosstat.
Wenn Historiker späterer Generationen über die Stadien der europäischen Integration staunen werden, dann aus zwei Gründen: Weil sich Erweiterungen und Vertiefungen des vereinten Europa teils parallel, teils im Reissverschlussverfahren entwickelten. Und weil mit zunehmendem Erfolg der Idee deren Faszination und Selbstverständlichkeit verloren gingen. Europa wurde zum Projekt von Eliten ohne Volk. Und selbst die politischen Entscheidungsträger machten Europa immer mehr zum Sündenbock, um die Kosten der Entwicklung auf andere abzuwälzen und den greifbaren Mehrwert sich selbst zuzurechnen.
Den Europäern ist ihre im globalen Kontext erstaunliche Lage als Insel der Seligen so selbstverständlich geworden, dass die Nachkriegs-Begründungen – Frieden, Wohlstand, Recht und Freiheit – für die Weiterentwicklung Europas nicht mehr ausreichten. Nicht die antiquierten, im Trend der Globalisierung hoffnungslos überforderten Nationalstaaten bedurften der Rechtfertigung ihrer Existenz, sondern die rettende Idee der Einigung Europas.
Das ist paradox. Doch wie das antike Römische Reich vor dem Ansturm nordischer Völker, wie Österreich-Ungarn am Vorabend des Ersten Weltkriegs, so ist auch die Spätzeit der Europäer eine Epoche der Paradoxe. Die Europäer wollen immer mehr Wirtschaftswachstum, aber immer weniger arbeiten. Sie wollen trotz weiter steigender Lebenserwartung einen immer gesünderen und gesicherteren Lebensherbst, bekommen seit Jahrzehnten aber zu wenige Kinder, um die Sozialsysteme stabil zu halten. Sie wollen die Souveränität ihrer Nationalstaaten und gleichzeitig in der Globalisierung ihr “europäisches Lebens- und Sozialmodell” erhalten. Mit all diesen Paradoxen liesse sich vielleicht noch einige Zeit leben und auf eine Renaissance hoffen, wenn Europa kein Kontinent neben anderen wäre, sondern ein Planet, dessen Astronomen auf der Suche nach aussereuropäischem Leben bisher vergebens ihre Teleskope ins All richteten. So wie auch das Imperium Romanum ohne Völkerwanderung vielleicht weiter vermodern und auf einen dritten Frühling hätte warten können. Wie Österreich-Ungarn vielleicht ohne Anschwellen des Nationalismus ringsum weiter blühen oder welken und einer Reform hätte harren können.
Doch weder das Imperium Romanum des Romulus Augustulus noch das Österreich-Ungarn Franz Josephs noch die Europäische Union unserer Tage sind Planeten. Damals wie heute ist es eine selbstmörderische Illusion, die Entwicklungen ringsum zu ignorieren und die internen Anpassungen und Reformen bloss den inneren Befindlichkeiten anzupassen. Zumal dann, wenn diese Befindlichkeiten nicht auf Vernunft, sondern auf Ideologien gründen.
Genau dies ist in Europa der Fall: Die Idee, das Wachsen staatlicher Schuldenberge sei für den Wohlstand künftiger Generationen und für die Stabilität der Gesellschaft ohne Bedeutung, entspringt einer sozialistischen Ideologie, empirisch gestützt nur auf das Wissen, dass der Staat Geld drucken kann. Die Idee, dass die Bürger nicht gut und sicher regiert werden wollen, sondern vor allem von Politikern ihrer Sprache in der Hauptstadt ihres Landes, entspringt einer nationalistischen Ideologie, empirisch gestützt nur auf die Wahlerfolge der Populisten aller Länder.
Beide Annahmen spülte die Finanz- und Wirtschaftskrise ungefragt und uneingeladen hinweg: Die 27 nationalen Regierungen der EU-Mitgliedstaaten wollten ihre steuerliche und finanzpolitische Souveränität nicht freiwillig an “die in Brüssel” abgeben. Also gaben sie sie unfreiwillig an die “Finanzmärkte” ab, die schneller, stärker und globalisierter sind als unsere nationalen Regierungen. Von der Europäischen Union wollte man sich das Sparen nicht diktieren lassen, brach hemmungslos den unterschriebenen Euro-Stabilitätspakt. Nun lässt man sich nicht nur das Sparen und Schuldenbremsen von den “Finanzmärkten” diktieren, sondern wirft mit dem Unvernünftigen auch das Vernünftige über Bord, etwa die Unabhängigkeit der Europäischen Zentralbank.
Nicht aus Vernunft, sondern aus einer an Zwang grenzenden Not erinnern sich die Schuldenakrobaten in den nationalen Hauptstädten nun daran, dass auch Staaten auf lange Sicht nicht mehr ausgeben können als sie einnehmen. Nicht aus Vernunft, sondern aus Not plädiert die deutsche Kanzlerin nun für eine Schuldenbremse in den nationalen Haushalten, die auch kontrolliert und sanktioniert wird. Es wäre vernünftig gewesen, freiwillig und in wirtschaftlich stabilen Zeiten die Budget- und Steuerkontrolle an die EU zu geben, den Bruch des Euro-Stabilitätspaktes (aktuell durch 15 von 17 Euro-Staaten) mit Strafen zu belegen. Doch man wollte die nationalstaatliche Souveränität gegen Europa verteidigen – und verlor sie an die “Finanzmärkte”. Was bei ruhiger See friedlich und harmonisch hätte getan werden können, muss nun bei stürmischer See unter Schmerzen und Gefahren geschehen: die Wiedergewinnung der Souveränität der Europäer durch die Aufgabe der Illusion nationalstaatlicher Souveränität.
Leider betreiben die Handelnden dabei auf hoher See ein Manöver der Gefahrenmaximierung: Statt die vom Untergang bedrohten Beiboote auf dem grossen Dampfer in Sicherheit zu bringen, versuchen Merkel, Sarkozy und Co. bei stürmischem Seegang den Dampfer umzubauen. Im Klartext: Statt aus der EU-Kommission eine voll funktionsfähige, legitimierte und auch kontrollierte Regierung für die EU-Agenden zu machen, wird an einer mehrstufigen Euro- oder Wirtschaftsregierung gebastelt, die bereits im Planungsstadium nach einer Schönwetterkonstruktion aussieht.
Den gleichen Fehler machte man bei der Konstruktion der EU-Aussenpolitik: Statt dem vereinten Europa weltpolitisches Gewicht und Gesicht zu geben, indem man eine aussenpolitische Doktrin der EU entwickelt und einem EU-Aussenminister alle entsprechenden Vollmachten gibt, suchen 27 Aussenminister unterschiedlichsten Formats nach einem jeweils möglichen Konsens. Ein nettes Gesellschaftsspiel, wenn – siehe oben – Europa ein Planet für sich wäre. Jedoch liegt unser Kontinent inmitten einer Welt voller Umbrüche, Kriege und Katastrophen. Obwohl nicht nur Kleinstaaten, sondern auch traditionelle Schwergewichte wie Paris, London und Berlin alleine kaum noch nennenswertes Gewicht auf die weltpolitische Waage bringen, um Eskalationen zu verhindern und friedensstiftend zu wirken, obwohl sich längst neben den USA andere weltpolitische Mächte mit kräftigem Muskelspiel auf der Bühne zeigen, wurde die EU-Aussenbeauftragte (derzeit die britische Sozialistin Catherine Ashton) bewusst so geschwächt, dass die Nationalstaaten in Europa ungestört ihren Dissens zelebrieren können.
Dass Paris, London, Berlin und die Zwerge rundum sich bei allen wirklich komplexen aussenpolitischen Fragen nicht auf ein Ziel und eine Vorgehensweise einigen können – vom Irak- und Libyen-Krieg bis zur Aufnahme der Palästinenser in die Unesco – wäre vielleicht nur lächerlich und ein Gaudium für den Rest der Welt, wären Europas Gesellschaften stabiler. Das jedoch ist nicht der Fall: Europa ist reich, aber schwach. Seine Gesellschaften sind verwöhnt und zugleich leicht erpressbar. Viele EU-Mitgliedstaaten sind abhängig von der weltpolitischen Führungsrolle der USA, von den Energieimporten aus Russland und Saudi-Arabien, zunehmend auch von Krediten aus China. Wem gegenüber wollen sie also eine aktive, selbstbewusste und an europäischen Werten orientierte Aussenpolitik betreiben?
Schlimmer noch: Wie man sich wirtschafts- und finanzpolitisch der Illusion nationalstaatlicher Souveränität hingab, tut man es auch in der Aussenpolitik. Wie man meinte, Budget- und Steuerpolitik seien nationale Agenden und gegen Brüssel zu verteidigen, glaubt man es auch in der Aussenpolitik. Wie man die finanz- und wirtschaftspolitische Souveränität, die man gegen die EU verteidigte, an die “Finanzmärkte“ verlor, so verlieren die Nationalstaaten ihre aussenpolitische Souveränität, die sie gegen die EU verteidigen, an fremde Mächte. Dabei haben es die Briten, die sich “zum Pudel Amerikas” machten, noch relativ gut getroffen. Wer jemals ein “Pudel” Moskaus war oder Pekings gewesen sein wird, kann den Unterschied preisen. Aber warum sollten 500 Millionen Europäer, wenn sie ihre aussenpolitischen Interessen vernünftig definieren, irgendjemandes Pudel sein?
Nach dem Zweiten Weltkrieg habe es ausgereicht, Europa als Friedensidee zu zeigen, doch heute bedürfe es neuer, anderer Begründungen, heisst es. Tatsächlich ist der Friede den Europäern – 66 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs – so selbstverständlich geworden wie die Gesundheit dem Gesunden und die Freiheit dem Freien. Doch wie der Gesunde etwas für seine Gesundheit tun muss, wie der Freie seine Freiheit immer gegen Bedrohungen wappnen muss, sollten auch die Europäer die Kriege dies- und jenseits der europäischen Haustüre genau beobachten. “Si vis pacem, para bellum”, lautet ein Flavius Vegetius Renatus zugeschriebenes Zitat: “Wenn du Frieden willst, bereite dich zum Krieg.” Nein, Europa braucht nicht Kriegsvorbereitungen zu treffen, um ferne oder nahe Länder zu überfallen. Aber es muss die seit Kant populäre Illusion vom “ewigen Frieden” abschütteln und den bedrohlichen Charakter heraufdämmernder Kriege ernst nehmen.
Drei Beispiele: 1991 fiel die politische Klasse Europas aus allen Wolken, weil aus der Sehnsucht nach Freiheit ein blutiger Krieg in Jugoslawien wurde. Doch obwohl unsere Generation dies von der gezielten Eskalation durch Slobodan Milosevic 1989 im Kosovo über die Kriege in Slowenien, Kroatien und Bosnien-Herzegowina bis zum versuchten Völkermord im Kosovo 1999 unter der Lupe beobachten konnte, erkennt man das aktuelle Gefahrenpotenzial des serbisch-kosovarischen Konflikts nicht. Verwirrt es uns nicht, wenn der serbische Innenminister die kriegslüsterne Rhetorik seines einstigen Vorgesetzten Milosevic nachahmt, wenn serbische Hooligans im Nordkosovo positioniert werden, wenn Ideologen der Volksgruppe Mütterchen Russland zu Hilfe rufen? Ist Europa auf einen neuen Balkan-Krieg eingestellt oder hat es keine Mittel und Methoden, der Eskalation wirksam entgegenzutreten?
Vor der Haustüre Europas liegt der gefährlichste Krisenherd der Welt: der ungelöste Nahostkonflikt. Die Amerikaner haben angesichts der Sturheit ihres Verbündeten in Israel offenbar resigniert und eine Friedenslösung von ihrer aussenpolitischen Agenda gestrichen. Kann es sich das geografisch näher liegende Europa leisten, diesem Vorbild zu folgen? Als Benjamin Netanjahu die Regierung übernahm, hatte Israel drei Partner in der Region: die Türkei, Ägypten und Jordanien. Mittlerweile ist Israel regional völlig isoliert, hat seine Partner verärgert oder verloren, aber seine geschworenen Gegner – Hamas, Hisbollah, Syrien und den Iran – mit zusätzlichen Argumenten versorgt. Reicht es, auf die Spannungen zwischen den Regionalmächten Türkei, Saudi-Arabien und Iran zu bauen? Oder hat Europa keine Mittel und Methoden, in dem sich anbahnenden neuen Nahostkrieg deeskalierend zu wirken?
Wenn schon nicht aus weltpolitischem Interesse, so müsste die Europäische Union zumindest wegen ihrer extremen Abhängigkeit von Energie-Importen eine stimmige, einheitliche Strategie gegenüber der arabischen Halbinsel, der Kaukasus-Region mit ihren Krisenherden und dem Hindukusch entwickeln. Jeder regionale Konflikt in diesen Weltgegenden betrifft die vitalen Interessen der Europäer. Doch wer auf diesem Parkett tanzen und neben Washington, Moskau und Peking eine gute Figur machen will, der muss gut üben. Im Klartext: Wie die Europäer ihre wirtschafts- und finanzpolitische Souveränität, die sie der EU nicht geben wollten, an die “Finanzmärkte” verloren, so werden sie ihre aussenpolitische Souveränität an fremde Mächte verlieren – wenn sie sie nicht rechtzeitig gemeinschaftlich, also wirklich europäisch wahrnehmen.
Der.Christ und die Politik
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