Das Wesen der Kirche:
Tradition – Apostolische Sukzession – Primat
Rom (kath.net/as), 25. Juni 2011
Benedikt XVI. und die Katechesen über die Anfänge der Kirche. Eine Erinnerung. Von Armin Schwibach
Zwischen zwanzig und vierzigtausend Pilger versammeln sich allwöchentlich zu den Mittwochsaudienzen, um Papst Benedikt XVI. leibhaftig zu erleben. Bereits gegen halb acht Uhr morgens kommen die ersten an, um vor den mit Metalldetektoren gesicherten Zugängen des noch gesperrten Petersplatzes zu warten: sie wollen die ersten sein, die Sitzplätze ganz vorne ergattern. Wer später kommt, riskiert es, alles nur auf den Grossbildschirmen verfolgen zu können. Die Audienz beginnt gegen 10:30 Uhr. Insgesamt muss man sich für das Ereignis rund vier Stunden Zeit nehmen. Der Papst fährt auf dem Papamobil ein. Sicherheitsbeamte des Vatikans eskortieren ihn, während er segnend und grüssend durch die Menge fährt; sein getreuer Sekretär Prälat Georg Gänswein, Schutzschirm und fürsorglicher Begleiter, sitzt unbequem hinter dem Heiligen Vater im offenen Auto.
Das Papamobil fährt schliesslich die flachen Stufen zum Sagrato der Petersbasilika hinauf. Der Papst steigt aus und schreitet zum Baldachin, unter dem sein Thron steht. Die Audienz beginnt mit einem Gebet und der Lesung vom Tag.
Der Papst hält seine Katechese, gibt eine Kurzzusammenfassung auf Deutsch, Spanisch, Englisch, Französisch, Portugiesisch und Polnisch, um dann die anwesenden Gruppen in ihren Landessprachen zu grüssen. Gegen Mittag verlassen die Pilger den Petersplatz, glücklich den Papst gesehen, ja fast berührt zu haben – oder ein wenig enttäuscht, weil er so weit weg war. Das Fernsehen berichtet später über die Audienz, vielleicht gibt es wieder ein Bild, wo dem Papst ein Gebirgsjägerhut, ein Feuerwehrhelm oder ähnliches aufgesetzt oder ihm ein Glas mit 60 Goldfischen geschenkt wird. Was bleibt, sind Eindrücke, mehr oder minder schnell verrinnende Erinnerungen. Die Pilger kommen ja nur einmal zur Audienz, vielleicht sogar nur ein einziges Mal in ihrem Leben. Dieses einmalige Erlebnis – es steht im Vordergrund. Aber da war doch noch was……. Ach ja: die Katechese.
Benedikt XVI. gestaltet jeden Mittwoch den Petersplatz in den grössten Hörsaal oder in das grösste Auditorium der Welt um. Der “Pfarrer der Welt” lehrt. Er lehrt begreifen und macht das Christentum begreifbar. Zu Beginn seines Pontifikats erzählte Benedikt VI. die Kirche, das Wesen der Kirche. Der universale Hirt, der Stellvertreter Christi, der Nachfolger Petri, der neue Menschenfischer betrachtete in seinen Katechesen zunächst die Anfänge der Kirche. Aus der gelebten Erfahrung der Apostel und der ihnen anvertrauten Aufgabe heraus legt der Papst das Geheimnis der Beziehung zwischen Christus und der Kirche dar. Er stellte der Christenheit die Kirche als Gemeinschaft des Glaubens, der Hoffnung und der Liebe vor, die auf dem Fundament der Apostel gründet. Der ursprüngliche Plan Jesu sollte sichtbar werden, um das Wesentliche der Kirche erfassen zu können, das in der Zeit bestehen bleibt. Der “Lehrplan” des Papstes war klar: Er wollte erneut verstehen lassen, “warum wir in der Kirche sind und auf welche Weise wir uns bemühen sollen, unsere Präsenz in der Kirche am Anfang eines neuen christlichen Jahrtausends zu leben” (5. April 2006).
In den ersten Monaten seines Pontifikats hatte Benedikt XVI. die von Johannes Paul II. begonnene Katechesenreihe über die Psalmen und Hymnen des Stundengebets abgeschlossen. Am 22. Februar 2006, dem Fest der Kathedra Petri, nützte er das Thema des Tages, um die “Einleitung” zu seiner neuen Katechesenreihe über die Kirche zu geben. Der Papst fragte: Was war die Kathedra Petri, der Sitz und Lehrstuhl des Apostels und somit der erste “Sitz” der Kirche? Der erste Sitz der Kirche ist der Abendmahlssaal, in dem für den Petrus, den Felsen, auf dem die Kirche Christi errichtet werden wird, ein besonderer Platz vorgesehen war. Von Jerusalem führte die Vorsehung Petrus über Antiochien, dem Ort der zweiten Kathedra Petri, nach Rom, der Stadt, die der symbolische Mittelpunkt des Erdkreises war. Rom wurde der definitive Sitz des Petrus, der von Christus beauftragt worden war, dessen ganze Herde zu weiden, Rom wurde der Sitz seiner Nachfolger. Die Kathedra Petri ist der “sichere Ankerplatz der Wahrheit und des Friedens”. So konnte der heilige Irenäus von Lyon schon im zweiten Jahrhundert die Kirche von Rom als die “grösste und älteste, bei allen bekannte” bezeichnen. Und er fuhr fort: “Mit dieser Kirche muss wegen ihres besonderen Vorranges notwendig jede Kirche übereinstimmen”.
Petrus ist der Fels, auf dem Christus die Kirche gegründet hat. Der Primat des Petrus hat seinen letzten Sinn darin, dass Petrus für alle Zeiten der Hüter der Gemeinschaft mit Christus ist. Er ist der Menschenfischer, der sich darum kümmern muss, so der Papst am 7. Juni 2006, “dass das Netz nicht reisst und so die universale Gemeinschaft fortdauern kann”. Petrus ist der Garant der Gemeinschaft mit Christus. Der Primat des Petrus, des einzigen unter den Aposteln, dem Christus den Namen geändert hat, ist entscheidend für die Geschichte der Kirche. Durch Petrus spiegelt sich das Antlitz Christi auf dem Antlitz der Kirche wider, “trotz der Grenzen und Schatten unseres schwachen und von der Sünde gezeichneten Menschseins” (15. März 2006). Der Primat des Petrus findet seinen Kontext in der Einsetzung der Eucharistie im Abendmahlssaal, die der Gründungsakt der Kirche ist. Kirche und Christus sind voneinander nicht trennbar, es “besteht zwischen dem Sohn Gottes und der Kirche eine tiefe, untrennbare und geheimnisvolle Kontinuität, kraft der Christus heute in seinem Volk gegenwärtig ist” (15. März 2006). Die Apostel und Petrus als Erster unter ihnen sind die Zeugen Christi, “des eschatologischen Hirten” und seiner universalen Sendung (22. März 2006). Diese Kirche und ihr Glaube sind kein Abstraktum. Die Kirche “lebt in den Menschen” (17. Mai 2006), in der erlittenen, für die Liebe offenen Nachfolge. Die Quelle der wahren Freude des Christen ist der geglaubte und geliebte Christus.
Die Kirche ist das Netz, das zur Freude und zum Wesen des Glaubens sammelt. Durch die Kirche und in ihr verwirklicht sich der Wille Gottes, der für den Menschen, wie Benedikt XVI. in seiner Predigt am Hochfest der Unbefleckten Empfängnis 2005 sagte, “nicht ein ihm von aussen auferlegtes Gesetz ist, das ihn einengt, sondern das seiner Natur wesenseigene Mass, ein Mass, das in ihn eingeschrieben ist und ihn zum Abbild Gottes und somit zum freien Geschöpf macht” (8. Dezember 2005).
Das Gleichnis vom Netz des Fischers ist Benedikt XVI. besonders teuer, ja es übertrifft für ihn vielleicht sogar das des Hirten. Für den Papst ist, wie der heilige Thomas von Aquin in seinem Kommentar zum Johannesevangelium schreibt, “das Netz, mit dem die Fische gezogen werden, die Lehre des Glaubens, mit der Gott zieht, indem er mehr im Innern inspiriert, und mit der die Apostel ziehen, indem sie ermahnen” (Super Evangelium S. Ioannis lectura: “Rete autem quo pisces trahuntur est doctrina fidei, qua quidem Deus trahit inspirando interius, et apostoli exhortando”; Caput 20 Lectio 2). Und es ist Petrus, der das Netz mit den Fischen ans sichere Land zieht, weil ihm die heilige Kirche anvertraut ist (ipsi sancta Ecclesia est commissa): er “zeigt den Gläubigen die Festigkeit der ewigen Heimat” (stabilitatem aeternae patriae fidelibus ostendit).
So ist es für Benedikt XVI. auch heute “der Kirche und den Nachfolgern der Apostel aufgetragen, ins hohe Meer der Geschichte hinauszufahren und die Netze auszuwerfen, um Menschen für das Evangelium – für Gott, für Christus, für das wahre Leben – zu gewinnen”. Und das ist ein besonderer Auftrag. Die entfremdeten Menschen leben “in den salzigen Wassern des Leidens und des Todes; in einem Meer des Dunkels ohne Licht”. Der Papst führt vor das Geheimnis der Liebe Christi: “Das Netz des Evangeliums zieht uns aus den Wassern des Todes heraus und bringt uns ans helle Licht Gottes, zum wirklichen Leben. In der Tat – darum geht es beim Auftrag des Menschenfischers in der Nachfolge Christi, die Menschen aus dem Salzmeer all unserer Entfremdungen ans Land des Lebens, zum Licht Gottes zu bringen” (24. April 2005, Messe zur Amtseinführung mit Übergabe des Palliums und des Fischerrings).
Mit dem Bild des Netzes veranschaulicht Benedikt XVI. nicht nur die innere Wesenstruktur der Kirche und ihr Dasein für und durch die Gläubigen. Die Kirche ist das Netz der Wahrheit. Es erlangt die Einheit durch den Dienst der Apostel und ihrer Nachfolger an der Wahrheit und an der Liebe. Die Kirche ist, wie Benedikt XVI. am 5. April 2006 mit einem Wort des heiligen Irenäus von Lyon erläutert, die Wohnstatt des Geistes Gottes in der Welt: “Und wo der Geist Gottes, dort ist die Kirche und alle Gnade; der Geist aber ist Wahrheit.” Der Geist Gottes errichtet die Kirche und lässt sie in Wahrheit sein.
Dieser Geist der Wahrheit trifft allerdings auf die Unzulänglichkeit und Schwäche des endlichen menschlichen Seins. Bereits in seiner Predigt zur Amteinführung hatte Benedikt XVI. die Verheissung des Herrn und die endliche Fehlbarkeit einander gegenübergestellt. 153 Fische zogen die Apostel ans Land, das Netz drohte zu zerreissen: “Und obwohl es so viele waren, zerriss das Netz nicht” (Joh 21, 11). Heute hingegen schaut es so aus, als sei das Netz gerissen. Der Papst aber ruft dazu auf, nicht zu klagen, sondern zu hoffen: “Erinnern wir bittend und bettelnd den Herrn daran: Ja, Herr, gedenke deiner Zusage. Lass einen Hirten und eine Herde sein. Lass dein Netz nicht zerreißen, und hilf uns, Diener der Einheit zu sein!”
So ist der Mensch von Anfang an damit konfrontiert, sich vor dem Geist der Wahrheit prüfen zu müssen, entstehende Spaltungen und Zweifel in der Glaubenslehre zu überwinden und sie nicht zur Herrschaft gelangen zu lassen. Liebe und Wahrheit sind untrennbar aufeinander verwiesen. Dabei ist es die Aufgabe der Hirten, die die Knotenpunkte des Netzes sind, die Kirche als Familie Gottes “in der Wahrheit zu bewahren und mit weisem und massgebendem Unterscheidungsvermögen zu führen” (5. April 2006). Die Kirche des Heiligen Geistes hat, so der Papst, eine notwendige Struktur, “die Apostolische Sukzession, der die Verantwortung obliegt, zu gewährleisten, dass die Kirche in der von Christus geschenkten Wahrheit bleibt, aus der auch die Fähigkeit zur Liebe kommt”.
Diese Tradition ist für Benedikt XVI. die “ganze, stets aktuelle Wirklichkeit der Gabe Jesu” (26. April 2006), die apostolische Sukzession ist die Grundlage und Richtschnur der Kirche, das heisst “der Gemeinschaft der um die rechtmässigen Bischöfe herum versammelten Gläubigen im Lauf der Geschichte”. Die Tradition ist vom Heiligen Geist genährt. Insofern vermittelt sie die ursprüngliche Christuserfahrung der Apostel mit der Christuserfahrung der Kirche unserer Zeit. Die Tradition ist kein Depot, in dem Altes verwahrt ist. Sie ist der “lebendige Fluss, der uns mit den Ursprüngen verbindet, in dem die Ursprünge stets gegenwärtig sind, der grosse Fluss, der uns zum Hafen der Ewigkeit führt”.
Die Apostel setzen ihr Wirken in einer “Kette des Dienstes” (3. Mai 2006) fort, die das Netzwerk der Kirche geschichtlich errichtet und fortbestehen lässt. Die apostolische Nachfolge bringt Christus zu uns in Kontinuität. Der Bischof von Rom, der Nachfolger des Ersten der Apostel, der Bischof der universalen Kirche, der “höchsten und ältesten aller bekannten Kirche”, ist das erste Zeichen, das erste Kriterium und die erste Garantie für die Weitergabe der ganzen Wahrheit.
Um den besonderen Petrus-Dienst zu beleuchten, erzählt Benedikt XVI. die Geschichte des Apostels, seine Berufung, seinen Charakter, seine herausragende Stellung im Apostelkollegium, so wie es uns durch die heiligen Schriften übermittelt ist. Am 7. Juni 2006 stellte der Papst die drei Metaphern in den Vorgrund, mit den Jesus die Aufgabe und das Wirken des Petrus beschreibt: Petrus “wird der ‚Felsengrund’ sein, auf dem das Gebäude der Kirche stehen wird; er wird die ‚Schlüssel’ des Himmelreichs besitzen, um demjenigen zu öffnen oder zu schliessen, der ihm gerecht erscheint; schliesslich wird er ‚binden und lösen’ können – in dem Sinn, dass er das, was er für das Leben der Kirche, die Christus gehört und gehören wird, als notwendig erachtet, festlegen oder verbieten kann.” Mit dieser Plastizität spricht Christus selbst das aus, was die spätere theologische und juridische Reflexion in dem Begriff des “Jurisdiktionsprimats” zusammenfasst. Petrus ist der Felsen, “weil er immer für das Wirken des Geistes Jesu offen war” (17. Mai 2006). Sich dem Petrus zuwenden heisst dem Anspruch der Wahrheit des Geistes Gottes folgen und die Kleinheit des endlichen Geistes und Strebens zu überwinden suchen.
So hatte Benedikt XVI. bereits bei der Inbesitznahme seiner Bischofskirche am 7. Mai 2005 den Gläubigen seiner Diözese erklärt: “Die von Christus dem Petrus und seinen Nachfolgern übertragene Macht ist, absolut verstanden, ein Auftrag zum Dienen. Die Lehrvollmacht in der Kirche schliesst eine Verpflichtung zum Dienst am Glaubensgehorsam ein. Der Papst ist kein absoluter Herrscher… So steht seine Macht nicht über dem Wort Gottes, sondern in dessen Dienst; und ihm obliegt die Verantwortung dafür, dass dieses Wort in seiner Grösse erhalten bleibt und in seiner Reinheit erklingt, auf dass es nicht von den ständig wechselnden Moden zerrissen werde”.
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