Von der Wiege bis zur Bahre …

… lautete einmal ein geflügeltes Wort im 19. Jahrhundert

Es beschreibt, wie der Mensch damals in allen Lebenslagen von einer selbstverständlichen alltäglichen lebensweltlichen christlichen Praxis und ihren Ritualen getragen war. Das schützte das Leben. Diese Selbstverständlichkeit ist dahin. Der Mensch vor allem an seinem Anfang nach der Zeugung und an seinem Ende ist in eine Rechtfertigungssituation geraten – die Fragen sind kein Tabu mehr, ob das neue Leben zumutbar und das alte Leben noch tragbar ist. Deshalb braucht es Hilfen, damit Mütter, Väter, Söhne, Töchter und Angehörige auch heute noch Ja zum Kind und Ja zum Leben bis zuletzt sagen können. Aus Anlass der “Woche für das Leben” der katholischen und evangelischen Kirche beschreiben zwei Autoren der “Tagespost” an Beispielen der Aufklärungsarbeit, der Schwangerenkonfliktberatung und der Hospizarbeit diese Hilfe.

Die Tagespost, 13.05.2011,von Stefan Rehder und Johannes Seibel

Und wenn der Mensch dann nicht mehr lange zu leben hat und ihn Krankheit schon zeichnet, dann helfen ihm auch wieder andere, dieses Leben bis zuletzt leben zu können – das macht die Humanität einer Gesellschaft aus.

Der Schutz des Lebens hat viele Gesichter. Nur ganz selten werden sie öffentlich derart bekannt, wie das der in München lebenden Hebamme Maria Grundberger, Heldin des 2007 erschienenen Dokumentarfilms “Maria und ihre Kinder”. Oft sind es auch nur die zugehörigen Stimmen, die ungeborenen Kindern das Leben retten und ihre Mütter vor einer Abtreibung bewahren. So etwa bei der telefonischen Schwangeren-Konfliktberatung, die der gemeinnützige Verein “vitaL” auf die Beine gestellt hat. Weil Verzweiflung keine Grenzen kennt und keinen Feierabend macht, ist die bundesweit geschaltete Hotline (01 80/3 69 99 63) an sieben Tagen in der Woche rund um die Uhr besetzt.

“Hier ist vitaL, wie kann ich Ihnen helfen?”, schalt es jedem Anrufer entgegen. Meist sind es zunächst nur wenige Worte, die dann am anderen Ende der Leitung in den Hörer gesprochen werden. Sätze wie “ich bin schwanger” oder “ich brauche Hilfe”.

Für die ehrenamtlichen vitaL-Beraterinnen ist das ein normaler Gesprächsbeginn. Ihre Ausbildung ermöglicht es ihnen, jedes Telefonat so zu führen, dass die Anruferinnen schnell Vertrauen fassen. Meist dauert es nur wenige Minuten, bis eine ratsuchende Frau einer vitaL-Beraterin ihr Herz öffnet. Denn die Beraterinnen verurteilen niemanden und drängen zu nichts. Sie hören einfach aufmerksam zu und signalisieren Verständnis.

Und das aus gutem Grund: Denn die Nöte und Anliegen der Anruferinnen sind vielfältig. Oft geht es um finanzielle Sorgen und Zukunftsängste, die eine Schwangerschaft bedrohlich erscheinen lassen. Junge Frauen, die unerwartet schwanger werden, fürchten nicht selten um die Fortsetzung ihrer Ausbildung. Bei sozial Schwächeren ist es oft die Wohnung, die zu klein ist. Viele sind ohnehin arbeitslos und leben von Sozialhilfe. Doch die grössten und am schwersten zu lösenden Probleme liegen im persönlichen Bereich. Vor allem dann, wenn die Schwangere von ihrem Partner allein gelassen oder zur Abtreibung gedrängt wird, brechen bis dahin verdeckte Partnerschaftskonflikte schnell offen aus. Diesen Frauen ist es bereits eine grosse Hilfe, dass sie am Telefon einmal offen und ausführlich über das sprechen können, was sie belastet. Im Schutz der Anonymität und ohne dass ihnen jemand Vorwürfe macht.

Aber auch die Angehörigen von schwangeren Frauen wenden sich mitunter an vitaL, wenn sie eine Abtreibung verhindern möchten: Väter, die verzweifelt nachfragen, wie sie ihr Kind retten können. Grossmütter, die ihr Enkelkind nicht schon verlieren wollen, bevor es überhaupt auf die Welt kommt. Bisweilen rufen auch Frauen nach einer Abtreibung an, weil sie Trost und Hilfe suchen.

Die Idee, ein solches Notruf-Telefon einzurichten, entstand laut Alexandra Maria Linder, Initiatorin von vitaL, Ende der 90er Jahre. Zum Start wurden damals in deutschen Kinos – seit 2009 auch in Österreich – kurze Werbefilme gezeigt. Im Mittelpunkt der Kinospots standen moderne, selbstbewusste Frauen, die sich mit einer überraschenden Schwangerschaft konfrontiert sahen. Diese wurde in den kurzen, niveauvollen Filmen nicht als Bedrohung weiblicher Selbstbestimmung dargestellt, sondern als Herausforderung, die bisherige Lebensplanung zu überdenken. Die Kinospots zielten darauf ab, Frauen und ihrem Umfeld Mut zu machen. Ganz nach dem vitaL-Motto “Es gibt Alternativen”. Am Ende wurde stets die Telefonnummer eingeblendet.

Da der Verein keinerlei staatliche oder öffentliche Unterstützung erhält, finanziert sich vitaL ausschliesslich durch Zuschüsse, die er von der “Aktion Lebensrecht für Alle” (ALfA) und der Stiftung “Ja zum Leben” sowie durch private Spenden erhält.

Noch entscheidender für die Arbeit von vitaL sind jedoch die Beraterinnen. Ihr immenses Engagement sorgt nicht nur dafür, dass die Nummer rund um die Uhr besetzt werden kann. Indem sie Fortbildungen absolvieren, Supervision und Intervision in Anspruch nehmen, sorgen sie dafür, dass die Beratung eine hohe Qualität garantieren kann.

Der Preis, den die ehrenamtlichen Beraterinnen zahlen, um die Anonymität der Anrufer zu gewährleisten, ist hoch. Ob sie zur Lösung von Problemen beitragen oder gar ein Menschenleben retten konnten, erfahren sie nur selten. Hier und da melden sich zwar dankbare Mütter und Väter noch einmal bei der Hotline. Doch die Regel ist das nicht.

Manchmal gibt es Rückmeldungen von anderer Seite. Denn im Hintergrund hat der Verein ein grosses Netzwerk aufgebaut, das den Anruferinnen die Inanspruchnahme weiterer Hilfen ermöglicht. Sie reichen von der einer Babystube, die eine Erstausstattung ermöglicht, über die Vermittlung von Babysittern bis hin zur Weitergabe von Adressen, die eine Anonyme Geburt ermöglichen oder Rat bei einer möglichen Behinderung des Kindes wissen.

Der Verein vitaL ist freilich nur ein Beispiel für das ehrenamtliche Engagement, das Menschen in Deutschland entfalten, um das durch Abtreibung bedrohte Leben von Kindern zu retten und ihren Müttern seelische und körperliche Leiden zu ersparen. Viele haben sich ganz der Aufklärung und Prävention verschrieben. So führt etwa die “Jugend für das Leben”, die Jugendorganisation der ALfA, regelmässig Einsätze in Schulen durch und informieren – wo dies gewünscht wird – binnen einer Unterrichtsstunde die Schülerinnen und Schüler über die Entwicklung des Embryos im Mutterleib und die möglichen Folgen der Abtreibung für die Frau. Wieder andere opfern regelmässig freie Wochenenden, um in den Fussgängerzonen der Städte oder auf Publikumsmessen Aufklärung zu betreiben. Der Verein “Durchblick e.V.” etwa organisiert seit Jahren gross angelegte Aufklärungsaktionen, bei denen ehrenamtliche Helfer die Briefkästen ganzer Städte mit Materialien bestücken, die über die Entwicklung eines Embryos binnen der ersten drei Monate aufklären. Auch ohne “Woche für das Leben”, die das Ehrenamt in den Blick nimmt.

Beitrag von Johannes Seibel über ehrenamtliche Hospizarbeit

“Das könnte ich nicht, sind Sie da nicht richtig fertig danach?” Das bekommt ein ehrenamtlicher Hospizhelfer öfter zu hören. Es schwingt einerseits öffentliche Anerkennung mit – die natürlich guttut –, andererseits aber auch das Unbehagen, sich mit dem Tod beschäftigen zu müssen. Auf jeden Fall umgibt die Hospizhilfe immer noch eine Art ins Exotische reichende Aura – die sie nicht hat, und die sie nicht braucht.

Sicher, die Motivation, sich als ehrenamtlicher Hospizhelfer ausbilden zu lassen, hat mit spirituellen Erfahrungen oder Sensibilität dafür zu tun. Der Tod eigener Angehöriger und alle Fragen, die dann aufbrechen; unbefriedigende Erfahrungen des Gesundheitspersonals mit einem Gesundheitssystem, das allein noch Fallpauschalen kennt; eigene ausgestandene Krankheiten von Krebs bis Depression, das anderen dieses Bewältigungswissen weitergeben will; die Leere einer Konsumgesellschaft, in der es doch noch etwas mehr geben muss als Schönsein und Freizeit, was Sinn macht; nicht zuletzt religiöse Überzeugungen – alles das können anfangs spirituell aufgeladene Beweggründe für den Weg zur ehrenamtlichen Hospizarbeit sein. Aber sehr schnell wird diese Arbeit handfest, verliert an Überhöhung und lehrt Realismus als Einsicht in die fundamentale Schwachheit des Menschen und seiner Unvollkommenheiten – sich selbst gegenüber, gegenüber den anderen. Der Christ nennt das Demut.

Ehrenamtliche Hospizarbeit ist kein Heroismus. Sie garantiert nicht einen Zustand dauernden Sinnüberschusses und Helferglücks. Sie kennt auch Erschöpfung, Gleichgültigkeit, Unlust. Das ist entscheidend: Die Sterbenden, ihre Angehörigen und Freunde erwarten nämlich von einem ehrenamtlichen Hospizhelfer keinen Sinneifer, der sie überrumpelt und vorschnell mit dem Sterben versöhnen will, sondern das Mitaushalten. Dieses schlichte Begleiten des Alltags eines Sterbenden darf auch nicht identifikatorisch geschehen, sondern wahrt die notwendige Balance von Distanz und Nähe – wieder eine Frage der Demut.

Da ist dann der Mann Mitte 40, dem der Krebs das Gesicht entstellt, und der zurück zur Mutter gezogen ist. Einfache Verhältnisse. Sein grösster Wunsch ist es, das Stadion seines Lieblingsfussballvereins zu sehen. Der Hospizhelfer organisiert einen Besuch. Als es soweit ist, will der Mann nicht mehr. Die Begleitung beschränkt sich auf drei Besuche und Zigaretteneinkauf. Aber allein die Erfahrung, dass er sein Stadion hätte sehen können – sie hat dem Sterbenden gutgetan. Zwei Wochen später ist er tot.

Da ist ein anderer Mann kurz vor der Rente. Erfolgreich im Beruf. Diagnose: Gehirntumor. Die Begleitung erstreckt sich über mehrere Monate und da zunächst auf Fahrdienste. Fahrten ins Universitätsklinikum, zur Tochter, zum Enkel. Und Spaziergänge. Nichts Spektakuläres. Der Hospizhelfer bekommt Einblick in die nicht immer konfliktfreie Familiengeschichte. Erst will er zu viel mitreden. Bis er merkt, dass ihm das nicht zusteht. So lernt der Helfer, erst gar nicht so etwas wie gute Ratschläge geben zu wollen. Er hört zu. Und doch – ganz gegen Ende – ein Gespräch über Gott, das der Kranke sucht. Ob es den Kranken tröstet, erfährt der Hospizhelfer nicht. Er insistiert nicht weiter. Der Hospizhelfer begleitet die Todesnacht in der Familie. Und fühlt sich danach dennoch nicht fertig. Der Sterbende hat das Leben bis zuletzt mit Würde und Disziplin gelebt. Das imponiert.

Da ist der Mann Ende siebzig. Sarkom, eine der aggressivsten Krebsarten. Er lässt sich zuletzt allein noch vom Hospizhelfer rasieren. Das geniesst der Mann. Und das Eis, das ihm der Helfer auf die Zunge löffelt. Nachts schläft der Helfer im Haus, um die Ehefrau zu entlasten. Dabei passiert nichts. Aber die Ehefrau ist froh, dass “jemand im Haus” ist. Der Mann stirbt an einem Freitagabend im Kreis der Familie zuhause, palliativ vom Hausarzt versorgt. So hat er sich das gewünscht, versehen mit den Sterbesakramenten der katholischen Kirche, was der Hospizhelfer mit dem Pfarrer organisiert. Eineinhalb Jahre von der Diagnose an lebt der Mann noch. Erst eine Operation. Dann verzichtet er in Absprache mit Ärzten auf Chemotherapie. Keine verlorenen Jahre – denn die Familie konnte noch lange einigermassen einen Alltag leben, der auch intensive Momente der Begegnung enthielt.

Hauptamtliche Mitarbeiter der Hospizhilfe begleiten ihrerseits diese Begleitungsarbeit ehrenamtlicher Helfer. Sie weisen sie in die Einsätze ein. Fortbildungen werden angeboten. Es gibt regelmässige Supervision. Hier in diesem Fall treffen sich einmal im Monat eine Gruppe von etwa einem halben Dutzend Helfer. Sie sprechen untereinander über die Begleitungen. Man gibt sich gegenseitig Rückmeldungen. Für diejenigen, die gestorben sind, wird eine Kerze aufgehoben – alle diese Kerzen werden beim jährlichen Hospizgottesdienst angezündet. Die Hospizhelfer kommen in diesen Stunden auch über Privates ins Gespräch. Manchmal auch über gesellschaftspolitische Entwicklungen mit Blick auf Sterbehilfe oder Pflegepolitik. Gott kommt auch ins Spiel. Unterschiedliche Temperamente treffen aufeinander. Diese monatlichen Gespräche sind das Rückgrat der ehrenamtlichen Arbeit.

Ja, – so könnte man nun angesichts der “Woche für das Leben” fragen: Was bringt denn dieses Ehrenamt in der kirchlich getragenen Hospizhilfe jetzt der Kirche und dem Glauben? Nichts, keine Erfolgsbilanz, keine Rechtfertigung für die staatliche Förderung kirchlicher Einrichtungen, ist die Antwort. Bis auf die Tatsache, dass zuerst und zuletzt Sterbende und ihre Angehörigen sich weniger alleingelassen fühlen. Und dass der Katholik, der zu Fragen des Lebens an seinem Anfang und Ende andere Meinungen hat als die liberale evangelische Ehrenamtlerin, die moderne Ärztin, oder die Helferin, die sich für Kirche weniger interessiert, und die doch mit ihm gemeinsam in dem oben angesprochenen Helferkreis sitzen, in diesem Kreis respektiert ist und mit diesem Respekt auch seine Meinungen gewägt und nicht von vorneherein abgelehnt werden.

Der Autor hat zwischen 2005 und 2008 beim ökumenischen Ambulanten Hospiz- und Palliativ-Beratungsdienst Landau/Südliche Weinstraße/Pfalz als Hospizhelfer ehrenamtlich gearbeitet.

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