Erst der Kaiser, dann der Papst

Ein Christ betet nie gegen jemanden, sondern zu Gott

Die Tagespost,18.05.2011

Der Antichrist und die missbräuchliche Auslegung der Geheimen Offenbarung. Von Klaus Berger 

Ist es ein Symptom für den Zustand der Ökumene, dass nun auch der jahrhundertealte Streit um den Papst als Antichrist wieder entbrannt ist? Bischof Gerhard Ludwig Müller hatte kürzlich gefordert, die Evangelischen möchten sich bitte von der reformatorischen Vorstellung, der Papst sei der Antichrist, distanzieren. Nein, war die Antwort, solches sei längst eingestellt. Niemand hege mehr diese Auffassung. Für die evangelische Kirche in Deutschland trifft das zu. Doch weltweit gesehen nehmen bei den sich als reformatorisch verstehenden Christen diejenigen eher zu, die der von Martin Luther ab 1520 vertretenen These anhängen, der Papst sei in der Tat der Antichrist. Man lese dazu den gründlich recherchierten Artikel “Antichrist” des Lutheraners Gottfried Seebass in TRE III, 24–43. Daraus ist für die Beurteilung der gegenwärtigen Lage wichtig:

1. Die Gleichsetzung Papst = Antichrist ist katholischen Ursprungs. Sie findet sich spätesten seit dem 14. Jahrhundert bei John Wycliff und Franziskanerspiritualen. Sie hat ihren Ursprung in der bis heute lebendigen Vorstellung, die Kirche sei unermesslich reich (vgl. Apk 18) und von Verfolgungssucht gegenüber den extrem kirchenkritischen Gruppierungen ergriffen (vgl. Apk 12).

2. Auch die unverhohlenen Sympathien der Medien gegen Kirchenrebellen zeugen bis heute von dieser dualistischen Mentalität: Die “Kirche” ist reich, mächtig und verfolgt die Falschen.

3. Die deutsche protestantische Einschätzung findet man bei Wilhelm Lütgert: Der Antichrist (in: ders. Reich Gottes und Weltgeschichte, Gütersloh 1928, 95–110). Unter den konservativen Lutheranern in den Vereinigten Staaten vertritt noch heute die Missouri-Synode (seit 1873), die lutherischen Bekenntnisschriften hätten eindeutig und verpflichtend den Papstantichrist gelehrt (G. Seebass, a.a.O., 39). Das in der EKD vertretene Neuluthertum ist hier von Luther abgewichen. Insofern fordert Bischof Müller eine entschiedene offene und nicht nur stillschweigende Distanzierung der Neulutheraner von Luther, für dessen Geschichtsverständnis die Gleichsetzung von Papst und Antichrist von “grundlegender Bedeutung” ist (G. Seebass, a.a.O., 30).

Die Bitte von Bischof Müller fand allerdings in einem Artikel von Rudolf Neumaier in der “Süddeutschen Zeitung” “Jetzt machen wir euch katholisch” ein wütendes Echo, in dem alle gängigen Vorurteile gegen die andere Konfession aufgewärmt werden. Anti-aufklärerischer Fundamentalismus ist der zentrale Vorwurf. Es ist nur zu fürchten, dass solche Wutausbrüche Signale für die Ökumene der Zukunft sind, weshalb man sie tunlichst gebührend missachten sollte.

Neumaier zufolge ist der Papst deshalb auch heute der Inbegriff des Antichrist, weil diese Kirche nicht für das Evangelium, sondern nur für sich selbst missioniere und den Katholiken das Denken verbiete. Je stärker sich die Medien dualistisch ausrichten und mit jeder Art von Schwarz-Weiß-Malerei Seelen fangen, wie einst franziskanische Busspredigten, umso mehr werden sie einen Erzbösewicht suchen. Im Papsttum hatte man über Jahrhunderte diesen Erzbösewicht gefunden.

Ein Christ betet nie gegen jemanden, sondern zu Gott

Für Neumaier steht sodann aus sehr, sehr schlichten Gründen fest, dass Luther mit seiner Einschätzung des Papstes als Antichrist Recht hatte, “dass Prälaten wieder offen mit Ablässen werben, ja dass manche Pfarrer wieder gegen den Satan beten”. Vom Ablass hat dieser Autor nachweislich nichts verstanden, denn der Ablass hat mit dem Antichrist so viel und so wenig zu tun wie der linke Schächer mit der Muttergottes, und um Befreiung vom Teufel betet schon Jesus in der Schlussbitte des Vaterunsers. Im übrigen betet ein Christ nie “gegen jemanden”, sondern immer zu Gott.

Das Spiel, das hier inszeniert worden ist, ist schon ziemlich alt. Denn der Antichrist wird schon in einem der ältesten Dokumente des Neuen Testaments genannt, im Ersten Johannesbrief 2,18, 4,3; 2,22. Der Antichrist ist der Falschprophet der Endzeit. Denn so wie nach christlicher Auffassung Jesus der wahre von Moses vorausgesagte Prophet ist, der Prophet, wie Mose sagt, “wie ich, den der Herr senden wird” (Deuteronomium 18, 15), wird der Antichrist der Prophet sein, von dem Moses im gleichen Zusammenhang spricht, der Falsches und im Namen fremder Götter weissagt. Er ist der Inbegriff des Anti-Propheten und damit auch der Anti-Messias (ebd 18, 20–23). Nach der “Lehre der Zwölf Apostel” (um 60 n. Chr.) ist er der Weltverwirrer, nach der Offenbarung des Johannes (Kapitel 13 und folgende) kann man ihn als Handlanger des Teufels bezeichnen. Nach dem zweiten Brief an die Thessalonicher setzt er sich in den Tempel und lässt sich anbeten. Er wirkt auch Wunder und bringt die Menschen zum Abfall von Gott.

Für die Offenbarung des Johannes steht fest, dass er mit dem römischen Kaisertum identisch ist. Denn einmal ist sein Sitz die siebenhügelige Stadt (17,9), zum anderen ist das römische Reich in der Folge der Grossreiche das vierte und damit letzte, bevor das messianische Reich anbricht, das dann das fünfte Reich wäre. Aber das vierte, diesem vorausgehende Reich hat alle Gewalt und Grausamkeit der vorangehenden Imperien in sich aufgenommen. Das vierte Reich wird als “Hure Babylon” bezeichnet, weil es um des Reichtums willen die Summe des Götzendienstes verkörpert. Denn der letztere wird wegen des Kontaktes mit vielen Göttern immer Hurerei genannt. Und alle Welt läuft dem Antichristen nach, so wie sie dem Papst nachläuft.

Doch warum geht diese Deutung auf das römische Kaisertum nun auf das Papsttum über? Diese antikatholische und dann konfessionalistische Deutung der Offenbarung des Johannes war extrem langlebig und stützt sich auf äusserlich ansprechende Argumente. Diese Sichtweise hat mit ganz wenigen Ausnahmen die gesamte protestantische Auslegung der Offenbarung des Johannes für Jahrhunderte bestimmt.

Das Papsttum erscheint für diese Sichtweise schon rein historisch als Erbe des römischen Kaisertums. Denn die sieben Hügel Roms werden durch katholische Kirchen geziert. Und ferner gilt das Papsttum bis heute als materiell reich und daher besonders im Sinne der Ankündigung von Babylons Sturz in der Geheimen Offenbarung als angreifbar; die Pracht der römischen Kirchbauten und später des Vatikans liessen diesen Schluss zu. Aus diesem Grund finden sich Deutungen des Antichrist auf den Papst schon in den mittelalterlichen italischen Armutsbewegungen. Er steht als Antichrist dem pastor angelicus (“engelgleicher Hirte“) gegenüber. Er ist der “Anti-Heilige”. Und je mehr sich die Dogmatik auf die Christologie konzentrierte, umso mehr tat das die Eschatologie mit der Figur des Antichrist; man entwarf sogar genaue Beschreibungen seines Aussehens. In der neueren und neuesten konfessionalistischen Polemik kommen als Gründe hinzu: Der Papst lasse sich “Heiliger Vater” nennen und damit als Gott anreden. Er betrachte sich als unfehlbar. Und überhaupt beteten Katholiken den Papst an. Diese Positionen sind, wie gesagt, nordamerikanisch und ultra-lutherisch.

Das Wesen des Bösen ist Nachäffung

Für die Reformatoren ist entscheidend der Vorwurf, der Papst lasse sich selbst als Götzen anbeten. Man könne das an der Inszenierung des Papstkultes sehen, das Papsttum schaffe Märtyrer wie das römische Reich. Es verkünde Pseudo-Wunder wie in Kapitel 13 der Apokalypse. Vor allem wird dem Papsttum immer wieder Scheinheiligkeit vorgeworfen. Das heisst: Hier wird das Heilige und der heilige Gott nur imitiert und nachgeäfft. Das Wesen des Bösen ist aber Nachäffung, so wie es das Wesen des Papsttums nach diesen Auslegern ist, Christus nicht nachzufolgen, sondern ihn nur nachzuäffen. Man kann diese Auslegung der Offenbarung des Johannes mit vielen Einzelheiten fortsetzen. Immer wieder scheint das römische Papsttum der wahre Träger der inkriminierten Vorwürfe zu sein. Man hat diese Auslegung jahrhundertelang mit Eifer betrieben. Heute scheinen diese Jahrhunderte für eine ernstzunehmende Auslegung der Apokalypse als ein verlorenes Zeitalter, das viel zu lange gedauert hat. Jeder, der sich an eine Deutung dieses Buches begibt, muss erst einmal diesen Schutt aus dem konfessionellen Zeitalter wegräumen. Nicht weniger abwegig war die Deutung des Antichrist auf Mohammed seit dem Aufkommen des Islam.

Für jede nüchterne historische Exegese sind diese Deutungen abwegig. Sie haben die gesamte Rezeption dieses Buches für Jahrhunderte verdorben. Der deutsche protestantische Exeget Klaus Wengst tat ein Übriges, als er die Apokalypse anti-amerikanisch deutete und den Verfasser dieses Buches für einen Befreiungstheologen des ersten Jahrhunderts hielt. Es ist immer wieder derselbe Vorgang: Die jeweils ungeliebte Grossmacht wird mit dem Rom beziehungsweise dem römischen Kaisertum der Apokalypse gleichgesetzt.

Kann man dieser merkwürdigen und missbräuchlichen Exegese dieses Buches nicht einen Riegel vorschieben? Da insbesondere auch die Identifikation mit dem Papsttum bis heute nicht aufgehört hat, besteht die dringende Frage, wie man den Text denn sonst auslegen soll. Denn es steht zu vermuten, dass antipäpstliche Stimmungen und ihre Verfechter heute dieses Buch noch immer nach dem Grundschema auslegen könnten, dass sie fragen: Wer ist mit der negativen Grösse x in Kapitel y gemeint? Wenn die Apokalypse nämlich Gottes Wort sein soll, müsste sie in dieser Hinsicht, so sagt man, auch für unsere Zeit gelten und eine Identifikation mit dem aktuellen Bösen zulassen. Doch weder Stalin noch Hitler, weder Busch noch die Vereinigten Staaten von Amerika sind der Antichrist (gewesen). Diese Diktaturen waren gottlos und grausam. Wer sie aber mit dem Antichristen identifiziert, entlastet von vornherein kommende, potenziell noch schrecklichere Machtgebilde.

Gangbar scheint mir vor allem dieser Weg zu sein: Alle Identifikationen aufzugeben und auf Ähnlichkeiten mit wiederkehrenden Übeln hinzuweisen. Weil die Apokalypse zeigt, wie alles endet, hätte sie darin eine mahnende und tröstliche Funktion. Eines dieser Anzeichen ist die vollständige Vernebelung der Wahrheit, die dann die Menschen nicht mehr erkennen können. Die Botschaft des Antichrist ist stets die völlige Unklarheit über Werte und Massstäbe. Der angeblich edle Schein suggeriert immer wieder, es ginge um Freiheit, um Menschenfreundlichkeit, um wirkliche Demokratie. Immer wieder fallen die Menschen auf diese Versprechungen herein.

Daher besteht das Anliegen der Theologie nicht darin, den Antichrist möglichst zu enttarnen, sondern den Dualismus zu untersuchen, den sich dieser Mythos verdankt, und dazu ihn zu widerlegen durch reflektierte und anspruchsvolle Formulierungen der Wahrheit.

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