Warum es in Japan noch Helden gibt
Die Samurai waren das letzte Aufgebot
Die japanische Kultur hat eine aussergewöhnliche Bindekraft, in der die Menschen noch heute ihr Leben für die Gemeinschaft opfern. Von Alexander Riebel
Die Samurai waren das letzte Aufgebot. Ohne ihre Hilfe hätte es weiterhin nur Tod und Verwüstung gegeben. Sie retteten 1754 in der Präfektur Gifu, in der Mitte Japans, zahllosen Menschen das Leben, indem sie sich selbst opferten. Da, wo sich die Flüsse Kiso, Nagara und Ibi nahe der Ise-Bucht treffen, gab es alljährlich Überschwemmungen mit vielen Toten. General Ieshige Tokugawa gab dem Shogun von Satsuma, dem heutigen Kagoshima ganz im Süden des Landes, den Auftrag, die Flussufer zu befestigen. Der befehligte sofort 947 Samurai, die Reise anzutreten.
Der Kaiser in Edo (Tokio) war weit weg und die Shogune machten damals ungehindert, was sie wollten. Nach 19 Tagen erreichten die Krieger zu Fuss die 1 200 Kilometer entfernten Flüsse. Sie bildeten im Wasser eine Menschenkette und stemmten sich gegen die Fluten, um Pfähle in den schlammigen Boden zu treiben. Die Strudel und Strömung waren zu stark, 84 Samurai ertranken im reissenden Gewässer. Als der Shogun von Satsuma das erfuhr, beging er Harakiri. Heute gibt es an dieser Stelle, an dem die Flüsse damals gezähmt wurden, Gedenktafeln, bei Klassenfahrten wird das Ereignis besungen.
Die japanische Geschichte lebt noch heute von heldenhaften Taten, bei denen sich Menschen geopfert haben. Und im Augenblick wird, zumindest in deutschen Medien, viel über die “50 Helden von Fukushima” diskutiert, denen sich noch 20 Freiwillige angeschlossen haben, um die Kernkraftwerke zu retten. Dass sie nicht ausreichend geschützt sind, muss vermutet werden, sie werden radioaktiv verstrahlt und nehmen das für ihr Land hin. Die Selbsthingabe ist tief in der japanischen Kultur verwurzelt. So überhaupt denken zu können hat auch darin seinen Grund, dass Japan keine Happy-End-Kultur hat. Die Helden müssen nicht glänzen wie im Westen, die Schriftzeichen für Sterben heissen “ins Nichts übergehen”. Japan ist die permanente Katastrophe gewohnt, das Land muss ständig wiederaufgebaut werden nach Erdbeben und Taifunen. In dieser schlechthin als vergänglich verstandenen Welt werden das Schöne und der Augenblick zum Mysterium, die fallende Kirschblüte ist dessen Symbol. Buchtitel aus dem Westen wie “Die stählerne Blume” (Friedrich Sieburg) oder “Chrysantheme und Schwert” (Ruth Benedikt) bestätigen diese harte Schönheit. Man versteht dies weniger im süsslichen Kyoto mit seiner einstigen Hofkultur und den “Geschichten vom Prinzen Genji”, sondern eher im herben Nara, der älteren Kaiserstadt, die zu den zentralen Schauplätzen im japanischen Nationalepos “Geschichte der Heike” gehört.
Das im 14. Jahrhundert geschriebene Epos über die Zeit 600 Jahre zuvor, noch realgeschichtlicher als das Nibelungenlied und auf der Grundlage der Samuraiethik bushido, beginnt mit den Worten: “Im Klang der Gion Shoja Glocken tönt die Vergänglichkeit aller Dinge, die Farbe der Sala Blüte offenbart, dass die Erfolgreichen fallen müssen. Die Übermütigen sind nicht von Dauer, sie gleichen dem Traum in einer Frühlingsnacht. Die Mächtigen fallen zuletzt, sie sind wie Staub vor dem Wind.” Tragik und Untergang deutet sich schon am Anfang der Erzählung an über die stolzen Taira, einem Samurai-Clan, der im Kampf um die Vorherrschaft in Japan durch die vom Kaiserhof unterstützten Minamoto besiegt wird. Der Held der Geschichte, den noch heute nicht nur Schulkinder verehren, ist Minamoto no Yoshitsune, Widerpart seines Halbbruders Yoritomo, der der Erfolgreichere ist. Aber der Liebling der Japaner ist der nur 30 Jahre alt gewordene Yoshitsune, der erst ein erfolgreicher Krieger war, dann in den Kriegswirren von Yoritomo verbannt wurde, gegen diesen zu Feld zog und schliesslich Harakiri beging. In die Ecke gedrängt sagte er zu einem seiner Krieger: “Ich sollte ein grosse Wunde machen.” Über seine letzten Minuten heisst es: “Yo-shitsune zog sein Schwert und senkte es unter seiner linken Brust in seinen Körper. Er stiess es so tief hinein, dass die Schneide fast aus dem Rücken wieder heraustrat. Er machte einen tiefen Schnitt gegen seinen Bauch, riss die Wunde in drei Richtungen weit auf und zog seine Eingeweide heraus. Er wischte das Schwert am Ärmel seines Gewandes ab und drapierte dieses um seine Schultern. Dann lehnte er sich mit dem oberen Teil seines Körpers auf eine Armstütze… “Yoshitsune wird heute in fünf shintoistischen Schreinen als Gott verehrt, und der Japanreisende kann plötzlich vor einem seiner Denkmäler stehen. So verkörpert er die japanische Gefühlswelt als wagemutiger, impulsiver und aufrichtiger Held, der zum Opfer skrupelloser Männer wurde.
Selbst die Kamikaze-Flieger am Ende des Zweiten Weltkriegs wurden noch als Kirschblüten im Wind bezeichnet, und ein Pilot schrieb kurz vor seinem letzten Einsatz an seinen Vater: “Es hinterlässt einen bitteren Geschmack in meinem Mund, wenn ich daran denke, wie manche unserer verschlagenen Politiker die einfachen Bürger betrügen. Dennoch bin ich bereit, Befehle vom Oberkommando und sogar von den Politikern entgegenzunehmen, weil ich an die japanische Gemeinschaft glaube.” Wahrscheinlich denken auch die Freiwilligen in Fukushima so, dass die Kraftwerkbetreiber und die Regierung dauernd irreführende und falsche Informationen herausgeben, dass sie selbst sich aber für Japan gemeldet haben.
Diese japanische Gemeinschaft ist noch immer lebendig, diesem Gefühl kann man sich in Japan keinen Augenblick entziehen. Es sind damit keine abstrakten Prinzipien gemeint, auch nicht allein der Kaiser oder das Vaterland, sondern es ist die, ganz im Unterschied zu Deutschland, empfundene Geschichtsmächtigkeit, die die Japaner leitet. Dazu gehören die Eltern, die Ahnen und ihre Taten, durch die sie Geschichte geschaffen haben. Japan hat keinen geschichtlichen Bruch nach dem Zweiten Weltkrieg erlebt, der Tenno blieb der Tenno, wenn auch nicht mehr offiziell als Gott verehrt. Jedes Jahr erarbeiten Wissenschaftler zusammen mit Fernsehproduzenten neue Samurai-Serien oder andere Historienfilme, die auch wissenschaftlich kommentiert werden. Die Einheit der Kultur ist hier tragend und daher wird es verständlich, dass die japanische Nationalreligion, der Shintoismus, ausserhalb Japans keine Bedeutung hat, wie andererseits der Buddhismus unabhängig von einem Land praktiziert wird. Japanisches gibt es nur in Japan, sagen die Japaner, und man wird es schnell merken, wenn man Dinge mit nach Europa bringt. Die Aura ändert sich.
In Japan hält die Gesellschaft ein unsichtbarer Kitt zusammen, der nicht im Entfernten etwas mit Verfassungspatriotismus oder dem Zugehörigkeitsgefühl zur liberalen Demokratie zu tun hat. Es gibt die festen Regeln, die jeder kennt, und die dem Ausländer, wörtlich der Aussenmensch, zunächst unbekannt sind. Schon Friedrich Sieburg, Korrespondent der damaligen “Frankfurter Zeitung”, schrieb hierzu in “Die stählerne Blume” (1939): “Die japanische Regel ist so streng, dass weder zum Guten noch zum Schlechten die geringste Freiheit bleibt. Jede Bewegung, jede Grussform ist vorgeschrieben. Für Frauen, die mit ihren Männern, für Kinder, die mit ihren Eltern sprechen, gibt es eine bestimmte Ausdrucksweise. Eine Teeschale muss mit einem genau festgelegten Griff angefasst, eine Schwelle in einer streng überlieferten Art überschritten werden. Diese Regeln sind nicht nur Teil der guten Sitten, sie bilden den japanischen Stil.” Ein Stil, an dem sich nichts geändert hat.
Es ist aber nicht nur die Handlung, die geregelt ist und der gegenüber die Dinge frei wären. Alles ist Teil der japanischen Ästhetik. Es werden noch immer überall Holzhäuser ohne Nagel und Schraube gebaut, wie sie in ihrer Grundidee der berühmte Teemeister Sen no Rikyu (1522–1591) entworfen hat mit Tatami und papierbespannten Schiebewänden sowie der Nische für das Blumengesteck und Rollbild im Wohnzimmer, dem Herzen des Hauses. Und wer mit einem alten Baumeister spricht, wird erfahren, was es mit den hölzernen Deckenleisten im Wohnzimmer auf sich hat, ob sie auf die Wohnzimmernische zeigen, auf den Tokonoma, oder ob sie parallel dazu angeordnet sind. Zeigen sie nämlich auf die Nische, darf in dem Zimmer Harakiri gemacht werden, sonst nicht. Auch bei dem etwa dreissig Zentimeter hohen Regal neben dem Tokonoma wird sich der westliche Besucher nichts denken. Hier konnte früher der Kopf eines Verbrechers aufbewahrt werden, um etwa als Beweis des Todes eines Flüchtigen zu gelten. Auch Yoshi-tsune teilte dieses Schicksal.
Aber auch die erfreulichen Dinge wiederholen sich und prägen damit die Liebe der Japaner zu ihrem Land. Selbst wer in einem modernen Steinhaus wohnt, lässt sich sein Wohnzimmer traditionell einrichten. So sind modernste Küchen nur durch eine dünne Wand vom alten Japan getrennt. Auch die Nahrung ist eine Wiederholung und Variation des immer Gleichen. Sei es Sushi, seien es die Nudelsuppen oder die Süssigkeiten, die in ihrer immer Marshmallow-ähnlichen Substanz einige wenige Geschmacksrichtungen variieren wie Marone oder grüner Tee. Man wird auch immer wieder die künstlich angelegten Gärten und Vorgärten wiedererkennen, Schulgebäude und Schulhöfe, Strassenbefestigungen, Strassenzüge, steinerne glatte Hauswände, das Kopfnicken der Japaner beim Sprechen, die gleichen Betonungen bei der Aussprache – alles und jeder ist fester Bestandteil im “Reich der Zeichen”, wie ein Buch des französischen Philosophen Roland Barthes heisst, und die immer wiederkehren, Tag und Nacht. “Es ist eine Norm und keine Standardisierung”, meint Sieburg über so viel “Stereotypes” – eine klassische Gesetzlichkeit, über die die Japaner erst staunen, wenn sie einmal länger ihr Land verlassen haben. Aber es gibt ihnen Heimat, wie man im Westen vielleicht selten Heimat gedacht hat, wo jede Epoche alles vorherige umwirft. Es ist ein asiatischer Zug, der sich besonders in Japan erhalten hat, dass das Leben, die Kunst und die Sitte als ein immer wieder neues Variieren der Geschichte empfunden wird und nicht die Geschichte als Variieren des Lebens, wie es eher im Westen der Fall ist.
Wer derart ursprünglich in seiner Kultur verwurzelt ist, die sich gleichsam mütterlich in immer bekannten und geliebten Gesichtern den Menschen zuwendet – dieser Kultur gegenüber sind die Menschen auch zu aussergewöhnlichen Opfern ohne lange nachzudenken bereit. Dass diese Kulturform etwas Mütterliches hat, und die Sonnengöttin Amaterasu o kami scheint nicht zufällig am Anfang der japanischen Geschichte zu stehen, darauf hat der japanische Psychoanalytiker Takeo Doi mit seiner legendär gewordenen Deutung des Wortes “Amae” (Suhrkamp Verlag 2002) hingewiesen über Macht und Einfluss des japanischen Gruppenbewusstseins.
Die Japaner sind von der Einzigartigkeit ihrer Kultur überzeugt, in der es neben der Hochtechnik noch den ganzen lebendigen Reichtum des alten Japan gibt. Immer wieder haben sie in Büchern versucht, dem Westen diese Besonderheit zu erklären, wie Tanizaki Jun’ichiro, Inazo Nitobe und viele andere. Auch wenn es ein Alptraum ist, in die Atomkraftwerke in Fukushima zu gehen – für die Gemeinschaft etwas zu tun oder sich gar für sie zu opfern, gehört zum Wesen dieser Gesellschaft. Die Japaner erhalten so ihre Kultur, wofür ihnen höchster Respekt gebührt.
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