„Die Erde ist eine Art Kreisel, der torkelt“
Der Geophysiker Joachim Ritter über das Erdbeben in Japan
Der Geophysiker Joachim Ritter über das Erdbeben in Japan, Folgen für die Erdachse und deutsche Erdbebengebiete. Von Johannes Seibel
Die Landmasse Japans hat sich nach den jüngsten Erdbeben verschoben, die Rotation der Erde ist betroffen, und Deutschland debattiert, ob hierzulande solche Erdstösse mit allen ihren schrecklichen Folgen möglich sind. “Die Tagespost” hat dazu den Geophysiker Privatdozent Dr. Joachim Ritter (Universität Karlsruhe) befragt. Er war unter anderem Geschäftsführer der Sonderforschungsbereiche “Spannung- und Spannungsumwandlung in der Lithosphäre” und “Starkbeben: Von geowissenschaftlichen Grundlagen zu Ingenieurmassnahmen”.
Herr Dr. Ritter, die Landmasse Japans soll sich um 2,5 Meter verschoben haben. Ist das gefährlich?
Das war in dem Moment gefährlich, als es passiert ist während des Erdbebenbruchs. Man muss sich das so vorstellen: Im Wasser rund um Japan liegen riesige Gesteinsplatten, die eine Mächtigkeit von immerhin 60 oder 80 Kilometern haben. Diese sogenannten Lithosphärenplatten bewegen sich zueinander, stauen Spannungen auf und irgendwann rutschen sie untereinander durch. Im Fachausdruck heisst das Subduktion. Im Fall von Japan hat die pazifische Platte gegen einen Sporn der nordamerikanischen Platte gedrückt. Auf diesem Sporn sitzt ein Teil der japanischen Landmasse. Die pazifische Platte wollte dort nun unter die nordamerikanische abtauchen und diese Bewegung wurde jahrelang gebremst. Jetzt ist die Festigkeit des Gesteins durch die Spannung, die hier jahrelang aufgebaut wurde, überschritten worden und im Moment des Erdbebenbruchs hat sich dann das japanische Festland mit der nordamerikanischen Platte während des Erdbebens ruckartig um bis zu 2,4 Meter nach Osten verschoben.
Das hat aber keine gefährlichen Folgen für die Zukunft?
Für die Zukunft nicht. Das war nur während dieser Minute, in der dieser Prozess stattgefunden hat, gefährlich. Das hatte auch teilweise die Veränderung des Meeresbodens zur Folge, die dann letztlich auch den Tsunami ausgelöst hat.
Hat so eine Verschiebung weitere ökologische Folgen: dass zum Beispiel die Meeresströmung verändert wird?
Nein. Das ist einfach die normale Plattenbewegung, wie wir sie auf der Erdoberfläche haben.
Verschiedene Institute haben gemeldet, dass sich die Achse der Erdrotation um zehn Zentimeter verschoben habe. Können Sie einem Laien erklären, welche Folgen das hat?
Die Erde muss man sich als eine Art Kreisel vorstellen, der sich bewegt – jetzt hat die Erde im Inneren einen grossen Schlag abbekommen, wodurch sich die sogenannte Figurenachse ganz leicht verschoben hat. Das ist die Achse, um die sich der Kreisel mit seinen Torkelbewegungen dreht. Und diese ist jetzt in der Grössenordnung von zehn bis 20 Zentimetern verschoben. Das lässt sich nicht auf den Zentimeter genau ausrechnen, da gibt es gewisse Schwankungsbreiten. Die NASA-Wissenschaftler haben 17 Zentimeter berechnet. Die Figurenachse muss man aber von der Erdrotationsachse unterscheiden. Die beiden liegen zwar fast parallel zueinander, aber die Erdrotationsachse können wir eigentlich nicht richtig ändern, wenn wir etwas auf der Erde selber verursachen. Dazu müssen äussere Kräfte einwirken.
Können wir die Veränderung der Figurenachse irgendwie sinnlich wahrnehmen?
Nein, das merkt ein Laie überhaupt nicht. Es wird jetzt auch einige Jahre brauchen, um verschiedene Messungen zu machen, um diese Verschiebung überhaupt nachweisen zu können. Das ist jetzt eine theoretische Vorausberechnung. Ob man das messtechnisch mal nachweisen kann, ist gerade so am Rande dessen, was man wissenschaftlich noch erfassen kann.
Hat es in der Vergangenheit schon solche Achsen-Verschiebungen gegeben?
Das gibt es bei jedem grösseren Erdbeben; wo sicherlich die grössten Effekte überhaupt festzustellen sind, ist bei sehr grossen Meteoriteneinschlägen – nicht solche kleinen, wie wir sie tagtäglich haben. Man muss sich mal unsere grossen Meteoritenkrater auf der Erde anschauen: Als diese Körper auf der Erde eingeschlagen sind, hatten sie sicherlich auch die Rotationsachse beeinflusst.
Wenn Sie sagen, die Erde torkelt, kann man fragen, wie stark müsste sie torkeln, damit wir Menschen das auch tatsächlich wahrnehmen könnten? Und könnte das möglicherweise das Leben verändern?
Ich glaube, dass da keine Effekte zustande kommen, die wir wirklich merken könnten oder die gar Auswirkungen auf unser Leben hätten, was die Änderung der Figurenachse betrifft.
Die japanischen Inseln liegen auf dem sogenannten “ring of fire”, der seismografisch aktivsten Zone der Erde. Bedeutet das, dass sich so ein Jahrhundertbeben wie vom vergangenen Freitag ein zweites Mal innerhalb absehbarer Zeit ereignen könnte?
Ja, natürlich. Das letzte grosse Ereignis, das mit der Magnitude 8,8 genauso gross war wie jetzt, registrierten wir vor einem Jahr, nämlich auf der anderen Seite des Pazifik vor der chilenischen Küste. Und potenziell kann es rings um den Pazifik, wo diese sogenannten grossen Subduktionszonen sind, wo also eine Platte unter die andere hinabtaucht, zu solchen grossen Erdbeben kommen. Es kann durchaus auch mal passieren, dass ein Beben die nächsten auslöst. Das heisst: Durch lokale Spannungsumlagerungen kann jetzt das nächste Segment der abtauchenden Platten unter Japan unter Umständen schneller brechen als wenn das Beben vergangene Woche nicht stattgefunden hätte. Es kann ganz konkret bedeuten, dass jetzt der Bruch von der Stelle des jüngsten Bebens unter Japan Richtung Süden oder Norden weiterläuft.
Wäre das dann so eine Art Dominoeffekt?
Es wäre eine Art Dominoeffekt. Wir hatten das gleiche bei dem grossen Sumatra-Erdbeben 2004. Da war ja an Weihnachten erst das grosse Beben mit der Magnitude 9,2, das Tsunami-Beben und direkt an Ostern danach wieder ein grosses Beben 8,7 – das war dann sozusagen der Domino Richtung Süden, der da umgefallen ist. Inzwischen hatten wir nochmal zwei solcher grossen Beben, eins war auch wieder von einem Tsunami begleitet. Man kann unter Umständen eine Art von Kaskade auslösen, sodass ein relativ langer Bereich von mehreren tausend Kilometern einer solchen Subduktionszone entspannt wird. So wird die Spannung, die hier über Jahrhunderte aufgebaut wurde, jetzt innerhalb von wenigen Jahren abgebaut. Das kann drohen, muss aber nicht.
Das aktuelle Erdbeben in Japan wurde auch im Oberen Rheingraben in Deutschland registriert. Wir glauben zwar hierzulande, dass das alles weit weg ist – gibt es aber nicht auch in Deutschland Gebiete, die erdbebengefährdet sind und wurden für diese Gebiete Szenarien durchgespielt, was im schlimmsten Falle eines Erdbebens dort passieren kann, die sogenannten worst-case-Szenarien? Schliesslich können dort Atomkraftwerke stehen.
Es gibt in Deutschland ausgewiesene Erdbebengebiete, das eine ist natürlich der Oberrheingraben, wo wir hier in Karlsruhe sitzen, die anderen sind die Bereiche der schwäbischen Alb, der niederrheinischen Bucht und des Vogtlands. Das sind die vier Gebiete, in denen wir regelmässig kleine Erdbeben messen. Was die sogenannten worst-case-Szenarien betrifft, so gibt es die in der Tat. Die haben vor allen Dingen die grossen Versicherungsgesellschaften erstellt. Die gehen dann beispielsweise für Köln (niederrheinische Bucht) oder Frankfurt (Oberrheingraben) von Magnitude 6 Erdbeben aus. Da kann man relativ präzise abschätzen, wie gross die Schäden sind, die verursacht werden. Diese Szenarien gehen auch gleich von mehreren Milliarden Schäden aus, die auftreten. Die Versicherungen nehmen das in ihre Tarifberechnungen mit auf.
Können Sie mal plastisch schildern, um welches Szenario es sich da handelt: Fallen da Hochhäuser ineinander? Wie kann man sich das vorstellen?
Man hat zunächst einmal massive Schädigungen der Infrastruktur, sprich zum Beispiel Brücken, Versorgungsleitungen, Verkehrswege. Man hat dann Gebäudeschäden. Das sind nicht unbedingt die Wolkenkratzer, die da einfallen – die sind am sichersten gebaut –, aber zum Beispiel können ältere Wohnhäuser geschädigt werden. Da kann natürlich auch mal eins wirklich kollabieren – wobei hier die Gefahr insgesamt in Deutschland nicht sehr gross ist. Zumindest haben das die vergangenen Jahrhunderte gezeigt. Dennoch muss man ein historisches worst-case-Szenario bei uns erwähnen: Das war 1356 ein Beben in Basel mit der Magnitude etwa 6,5 – da wurden für die damalige Zeit massiv gebaute Burgen und ähnliches stark beschädigt.
Was kann Ihre Wissenschaft über die Sicherheit von Atomkraftwerken in Deutschland sagen?
Wir als Geophysiker schauen uns beispielsweise an, welche Erdbeben mit welcher Stärke in Deutschland möglich sind. Wir können beispielsweise 9-er Erdbeben, wie wir sie jetzt in Japan erlebt haben, in Deutschland einfach deshalb nicht bekommen, weil wir andere geologische Begebenheiten haben. Wir schauen uns unsere aktiven Störungszonen an und überlegen, welche Erdbeben mit welchen Verschiebungsbeiträgen hier möglich sind, um so Szenarien zu entwickeln. Also zum Beispiel: Wie gross werden die Bodenverschiebungen in fünf Kilometer Entfernung von einem Erdbebenzentrum sein, dann in 20 Kilometer Entfernung, wenn diese Erdbebenwelle durchläuft; wie gross werden die maximalen Beschleunigungen sein, die auf Gebäude oder Infrastruktur wirken. Das sind typische Beiträge, die aus der Seismologie kommen können. Das nächste ist: Wir können uns die historischen Ereignisse anschauen und dann versuchen, Wiederholraten für bestimmte Regionen zu bestimmen, also beispielsweise: Mit welcher Wahrscheinlichkeit passiert innerhalb von 500 Jahren ein Erdbeben? Das sind dann Werte, die zum Beispiel in Baunormen eingehen.
Welche Gefahr geht also in Deutschland von einem Erdbeben-Szenario für die Infrastruktur aus. Kann man dazu aus Ihrer Sicht Aussagen treffen?
Hundertprozentige Sicherheit gibt es natürlich nicht. Aber wir wissen aus der Historie, dass wir jetzt nicht ständig mit einer grossen Gefahr rechnen müssen. Wir können sie nicht ausschliessen. Wir wissen, dass die meisten Erdbeben, die wir haben – so alle zehn Jahre ein spürbares Erdbeben –, keine grösseren Schädigungen verursachen. Aber für alle 100, 200 Jahre kann auch mal was Stärkeres kommen.
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