“Diese Forschungsrichtung belastet uns nach wie vor”
Warum Geschichte nicht in Brüchen gedacht werden darf
Tagespost, 26.01.2011
Sakramente, Zölibat, Märtyrerverehrung
Ging das Christentum nach Jesu irdischem Wirken ein paar Jahrzehnte lang gut und dann geriet alles auf die falsche Schiene? Die Zölibatsdiskussion veranschaulicht den Graben, den viele zwischen Evangelium und katholischer Tradition vermuten. Über Fragen der Geschichtsforschung sprach Claudia Kock mit Stefan Heid (Jahrgang 1961). Er ist Kölner Diözesanpriester und lehrt seit 2001 am Päpstlichen Institut für Christliche Archäologie.
Johannes Paul II. sagte 1999 vor dem Internationalen Historikerkongress: „Es stimmt, dass eine absolut objektive Auswertung der Geschichte sehr schwierig zu erreichen ist, denn die persönlichen Überzeugungen, Werte und Erfahrungen beeinflussen unweigerlich die Untersuchungen und Ausführungen. Das bedeutet allerdings nicht, dass eine wahrhaft unparteiische, und als solche wahre und befreiende Darstellung der geschichtlichen Ereignisse unerreichbar wäre”.
“Können Sie das erläutern?”
Eine absolut objektive Auswertung der Geschichte gibt es nicht, weil jeder Forscher mit seinen persönlichen Fragestellungen an einen Text herangeht und die Texte selbst schon nicht objektiv sind, weil sie von Menschen hinterlassen wurden. Wir können nicht wahrhaft unparteiisch sein. Jeder, der interpretiert, ist Partei. Der entscheidende Unterschied ist, ob er es wahrnimmt und seine Darstellung von Geschichte entsprechend markiert – als eine Interpretation, die nicht die Totalität der Geschichte wiedergibt, sondern nur einen Blickwinkel. Die grosse Schwierigkeit der neuzeitlichen Geschichtsschreibung ist ihre Ideologielastigkeit. Wir haben eine Geschichtsschreibung, die ganz unter dem Dogma Hegels steht, wonach Geschichte sich in Fortschritten entwickelt. Das ist der neuzeitliche Sündenfall der Geschichtsschreibung: Wir sitzen einer philosophischen Strömung auf, die davon ausgeht, dass in der Geschichte ein Programm ablesbar sei, das zu immer besserem, höherem, edlerem Leben führe. Dagegen wendet sich die christliche Optik. Die Koordinaten der christlichen Kirchengeschichtsschreibung sind letztlich vorgegeben worden durch Augustinus’ “Gottesstaat”.
“Es gibt Veränderungen, aber Grundkonstante des menschlichen Lebens ist Sünde und Tod”
Augustinus hat schon klargemacht: Es gibt keinen gesellschaftlichen Fortschritt. Es gibt gesellschaftliche Veränderungen, aber die Grundkonstante menschlichen Lebens ist Sünde und Tod. Was das betrifft, wird sich die Gesellschaft nie auf ein höheres Niveau bewegen. Es gibt eine mehr technisierte Gesellschaft, eine Gesellschaft, die besser versorgt ist, gesünder lebt, aber es wird nie eine moralisch oder menschlich bessere Gesellschaft geben. Die Sünde ist im Menschen. Der Mensch kann sich aufrappeln, sich anstrengen – und er fällt wieder. Es ist eine schiere Illusion zu meinen, das Christentum oder irgendeine andere Macht dieser Welt könne die Menschen auf einen Fortschrittskurs bringen. Kirchengeschichte hat in allererster Linie zu sagen: Wir schreiben die Geschichte der Menschheit als eine Geschichte, in der die menschlichen Grundkoordinaten – Liebe, Tod, Versagen – die wesentlichen Triebkräfte des Lebens bilden. Sie führt zu objektiven Grundkonstanten der Gesellschaft zurück und ist in dem Sinne nicht grundsätzlich als Ideologie zu verdächtigen.
“Immer wieder begegnet man in der öffentlichen Meinung Geschichtsklischees. Kann die wissenschaftliche Forschung dazu beitragen, sie abzubauen, gerade auch im Hinblick auf die nähere Vergangenheit – Stichwort Pius XII.?”
Selbstverständlich hat die wissenschaftliche Forschung ihre Aufgabe im Abbau von Klischees. Die Frage ist nur, ob ihr das jemals gelingt, denn Forschung erreicht den Durchschnittsbürger heute nicht mehr. Meinungen werden nicht mehr von Eltern und Erziehern gemacht, sondern von Fernsehen und Internet. Was die Menschen heute denken, ist fast ausschliesslich internetbedingt. An dieses Medium kommen die Forscher so leicht nicht heran. Was sie schreiben, steht in dicken Büchern; das dringt nicht in die Breite. Aber damit lebt die Kirche schon seit Jahrhunderten. Im zweiten Jahrhundert hat man den Christen nachgesagt, sie würden bei ihren Gottesdiensten kleine Kinder auffressen – das kommt aktuellen Diskussionen relativ nahe. Man wollte durch direkte Konfrontation so einen Unsinn aus der Welt schaffen. Heute ist das schwieriger, weil unsere Informationen so komplex sind, dass alles vereinfacht werden muss, um es überhaupt zu verarbeiten. Da werden komplexeste Zusammenhänge in banalsten Formulierungen verkauft. Als Historiker hat man heute einen schweren Stand, auch weil die populärere Literatur immer mit dem Verdacht arbeitet. Romanschriftsteller arbeiten mit der Technik, dass die Kirche alles verberge – wie die Päpstin Johanna oder den Gral. Irgendwelche Geheimdokumente über Jesus werden im Vatikan versteckt und solche Sachen. Pius XII. ist genau so ein Fall, wobei hier noch eine Seligsprechung hinzukommt. Die Heiligsprechungskongregation zieht eigene Informationen ein und lässt historische Dossiers erstellen, um zu ermitteln, ob hier ein heroischer Tugendgrad vorliegt. In der Öffentlichkeit wird immer der Verdacht bestehen, es handle sich um einen plumpen Versuch der Apologetik, die Kirche von ihrer angeblichen kollektiven Schuld im Dritten Reich “reinzuwaschen”. Insofern wird man in der Öffentlichkeit kein Verständnis finden. Man hat sich aber auch daran nicht zu orientieren. Für die Kirche ist die öffentliche Meinung kein Kriterium, und auch nicht für den Historiker. Ein Historiker hat sich nicht darum zu kümmern, ob seine Erkenntnisse populär sind. Sicher beurteilen die Historiker Pius XII. wesentlich gerechter als die modernen Medien.
“Oft werden historische Angaben herangezogen, um die kirchliche Lehre in Frage zu stellen: Beispiel: der priesterliche Zölibat. In der Öffentlichkeit ist zu hören, er sei erst im Mittelalter eingeführt worden; die neuere historische Forschung führt ihn in die Antike zurück. In Ihren Studien kommen Sie zu dem Schluss, dass er sich bis in die apostolische Zeit zurückverfolgen liesse. Lassen sich alle drei Standpunkte an den Quellen festmachen oder hängen sie letztlich doch von einer subjektiven Interpretation ab?”
Auf jeden Fall ist die Interpretation subjektiv. Wie ich eingangs gesagt habe, gibt es keine objektive historische Feststellung. So gesehen geht es in der Geschichtswissenschaft immer nur um Wahrscheinlichkeit. Auf der Grundlage der begrenzten Menge von Information werden historische Aussagen getroffen. In der Geschichtswissenschaft wird es nie ein endgültiges Resultat geben, sondern immer eine Diskussion.
“Untersuchungen klammern Sachverhalte aus, um zu einer späten Ansetzung des Zölibats zu kommen”
Das betrifft auch den Zölibat. Eine Reihe von historischen Untersuchungen zu diesem Thema klammern entscheidende Sachverhalte aus, um zu einer späten Ansetzung des Zölibats zu kommen. Auch die Terminologie wird unklar gehalten. Der Zölibat hat sich in seiner konkreten Form über die Jahrhunderte gewandelt, aber im Kern war es immer die Enthaltsamkeit der höheren Kleriker, die meines Erachtens und auch nach Meinung anderer bis in die apostolische Zeit zurückgeht. In der Kirchengeschichtsschreibung herrscht insgesamt die Tendenz, alles spät anzusetzen. Eine alte These besagt, das Christentum habe knapp anderthalb Jahrhunderte unbeschadet überlebt und wurde danach für über ein Jahrtausend durch den Katholizismus “überdeckt”. Erst mit Martin Luther im 16. Jahrhundert sei dann das ursprüngliche evangelische Christentum wiederentdeckt und umgesetzt worden. Dies führt immer wieder zu demselben Fehlschluss: Dinge, die wir im Mittelalter oder auch in der frühen Kirche haben, können zur Zeit des Neuen Testaments noch nicht dagewesen sein – aber keiner versteht, warum. Vor allem die Exegeten haben Freude daran, diesen garstigen Graben immer wieder auszuheben: Nach Jesus ging es ein paar Jahrzehnte lang gut, und dann geriet alles auf die falsche Schiene in Richtung des sogenannten Frühkatholizismus. Diese Forschungsrichtung belastet uns nach wie vor. Sie wird in manchen Teilen der Wissenschaft widerlegt, die aber nicht die nötige Beachtung finden. Das gilt für die Sakramente, die Enthaltsamkeit des Klerus, die Verehrung der Märtyrer – für all die Dinge, von denen es gewöhnlich heisst: Das ist katholisch, das ist spät, hat mit dem Evangelium nichts zu tun. Dieser künstliche, unerklärliche garstige Graben zwischen Jesus und dem zweiten und dritten Jahrhundert: Da wird es ideologisch, denn er ist eine reine Behauptung. Hier wird ein lebendiger Traditionsfluss einfach mittendrin abgeschnitten. Man fragt sich: Warum gerade da und nicht später? Das gilt auch für das, was ich über den Zölibat geschrieben habe. Es ist sozusagen ein Paradigma dafür, dass man versuchen sollte, Geschichte nicht in Brüchen zu denken. Es gibt Brüche in der Geschichte, aber es gibt nicht immer nur diesen einen Bruch im zweiten Jahrhundert. Wenn wir diesen Bruch einfach stehenlassen, dann schneiden wir uns von unseren Wurzeln ab.
“In Mariazell sagte der Papst 2007: “Wahrheit weist sich aus in der Liebe. Sie ist nie unser Eigentum, nie unser Produkt, so wie man auch die Liebe nicht machen, sondern nur empfangen und weiterschenken kann.” Gilt das auch für die historische Wahrheit? Ist Demut auch für Historiker eine Tugend?”
Sicher, denn der Historiker muss als erster lernen, die Begrenztheit seiner Erkenntnisse zu sehen und zu formulieren. Er muss die Demut haben, die Quellen sprechen zu lassen und sie nicht dorthin zu verbiegen, wohin er sie gerne hätte. Der wahre Historiker lässt sich immer wieder überraschen von neuen Quellen, die er nicht kannte. Er kann ein ganzes Buch geschrieben haben und entdeckt dann eine Quelle, die seine These über den Haufen wirft. Nun kann er entweder diese Quelle umbiegen, damit sie zu seiner These passt, oder er ist demütig und sagt: Das Buch hast du umsonst geschrieben. Das war ganz anders.
Internationaler-Historikerkongress: Ansprache von Papst Johannes Paul II. an die Teilnehmer
Augustinus:Vom-Gottesstaat
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