Die Wiege Europas

„Christlich wird den Kontinent kaum noch jemand nennen können.“
Von Paul Badde / Die Welt, 6.11.2010

Kein Weg hat die europäische Integration intensiver vorangetrieben als der Jakobsweg. Und Santiago de Compostela erzählt so deutlich wie kaum ein anderer Ort von Europas Identität.

Europa, so hieß es lange Zeit, reiche so weit, so weit die gotischen Kathedralen reichen. Das war zu eng gesehen. Europa ist größer. Doch um seine Identität  hat es  immer wieder gekämpft und gerungen. Er sei ein “Leuchtturm der Zivilisation! Ein Anreiz zum Fortschritt für die Welt!”, rief Johannes Paul II. am 9. November 1982 in Santiago di Compostela dem Kontinent zu. Er rief es da draußen im Westen in bleierner Zeit – mitten im Kalten Krieg, als Stacheldraht und Todesstreifen das alte Abendland noch von Nord nach Süd in zwei Teile trennte, die sich fremder geworden schienen als zwei fremde Planeten. Das hat sich inzwischen dramatisch verändert. Doch so eindeutig wie damals der polnische Patriot Karol Wojtyla mag heute kaum noch jemand die Frage beantworten, was Europa ist. Den überaus glücklichen europäischen Einigungsprozess, den wir seit 1989 beobachten, begleitet auch eine rätselhafte Geschichtsvergessenheit, in der immer weniger eine Antwort auf die Frage wagen, woher wir kommen, wer wir sind und wohin wir gehen.

Nicht zweifelhaft ist aber, dass das abgelegene Santiago de Compostela so deutlich wie kaum ein anderer Ort von Europas Identität erzählt. Es ist ein alter Fluchtpunkt der Sehnsucht jenes kleinen Erdteils am Rand der endlosen eurasischen Festlandplatte, den wir Europa nennen. An diesem Samstag reist Papst Benedikt XVI. als jüngster Pilger zu einem Blitzbesuch dorthin, um am Grab des Apostels Jakobus zu beten – und gewiss auch zu jenem Bündel offener Fragen Stellung zu beziehen, die das oft ratlose Europa im Zeitalter der Globalisierung betreffen. Denn das moderne Europa ist ja tatsächlich, wie Goethe schon erkannte, auf der Pilgerschaft entstanden. Das Pilgerwesen war ein bedeutendes Element zur Förderung des gegenseitigen Verständnisses so unterschiedlicher Völker wie der Lateiner, Germanen, Kelten, Angelsachsen und Slawen. Das System aller Jakobswege nach Santiago de Compostela läuft darum auch quer zu den Spinnennetzsystemen der Straßen Frankreichs und Spaniens; es ist älter als die Nationalstaaten. Jahrhundertelang begegneten sich Menschen vieler Nationen auf dieser Pilgerreise als Angehörige eines einzigen Kulturkreises. Entstanden und entwickelt aber hatte sich dieses Pilgerwesen am Anfang als erster abendländischer Reflex auf die damals durchaus noch aggressive Verbreitung des Islams tief nach Europa hinein. Nur 80 Jahre nach dem Tod Mohammeds im Jahr 632 war Spanien im achten Jahrhundert schon fast vollständig unter das grüne Banner des Propheten geraten. Der Weg zum Grab des Apostels Jakobus fängt darum, historisch gesehen, vielleicht zuerst am “Fluss des Vergessens” an. Das ist der Rio Guadelete in Andalusien, wo die Araber die Westgoten unter König Roderich im Jahr 711 vernichtend geschlagen hatten. Danach glitten die muslimischen Heere des Kalifen nur noch wie das Messer durch die Butter über Spanien und Frankreich nach Europa hinein. Über 100 Jahre später, im August 846, segelte eine arabische Flotte den Tiber hinauf bis nach Rom, wo die Sarazenen die Gräber der Apostelfürsten Petrus und Paulus verwüsteten. Die Sachsen, Friesen und Franken, die vor diesen Schatzkammern der Christenheit wohnten, konnten sie nicht daran hindern. Ganz Europa drohte eine Provinz der unbesiegbaren Herrscher aus Damaskus zu werden. Die Iberische Halbinsel war den Arabern da schon bis auf einen kleinen Rest im Norden im Handumdrehen in die Hände gefallen.

Es war dieser Rest, wo eben damals, in einem Winkel am Ende der Welt, das Grab des Apostels entdeckt und gefunden wurde. Unbekannte Christen aus dem Osten hatten die Gebeine des Jakobus auf der Flucht vor den muslimischen Eroberern aus dem ägyptischen Alexandria hierher gebracht. Es war, als sei ein neuer Stern am Himmel erschienen. Gleich danach setzten die Pilgerströme zum Grab des Apostels ein. Und kurz danach wurde eben hier, in diesem unbesiegten Rest, in den kantabrischen Bergen, nur sieben Jahre nach der Niederlage am Guadelete, auch schon die erste Schlacht gegen die Araber und ihre neue Wüstenreligion gewonnen. Ein gewisser Don Pelayo brachte ihnen diese erste Niederlage bei – 20 Jahre bevor Karl Martell die Muslime im Herzen Frankreichs vor Tours zum Stehen brachte.

Danach folgte der blitzschnellen arabischen Eroberung von diesem Grab her eine unendlich zähe Wiedereroberung der iberischen Länder durch die Christen, die 770 Jahre dauern sollte. Bevor das Jahrtausend zu Ende ging, war schon wieder der gesamte Norden Spaniens zurückerobert. Dabei wurde der Pilgerweg zum Grab Jakobs immer ein wenig südlicher durch das Landesinnere verlegt, parallel zum Frontverlauf, als ständige Inbesitznahme durch die Füße der Pilger Europas.

Wie steinerne Besitztitel wurden hier damals auch neue Kirchen errichtet und Moscheen in Kirchen umgewandelt, sobald die Mauren vertrieben waren. “Santiago! Santiago!” war der Schlachtruf der Spanier über Jahrhunderte hinweg in diesen Kämpfen. “Allahu akbar!” hieß der Kampfruf der Araber, wie heute im Nahen Osten: “Gott ist größer!” Es war eine Umkehrung der Geschichte des Westens. In diesen Kämpfen wurden die Kreuzzüge zuerst vorgespurt, auf denen Europa später versuchte, auch Jerusalem in seine Gewalt zu bekommen.

Nach der Entdeckung des Grabes endete im Westen jedenfalls der Siegeszug der Kalifen für immer, deren Reiterheere die christlichen Reiche davor wie Kartenhäuser hatten zusammenstürzen lassen. Danach ging – obwohl merkwürdigerweise kein Herrscher jemals seinen Thron beim Sarg Jakobs nahm – von Santiago her über Jahrhunderte die Eindämmung der Macht der Muslime aus, vergleichbar vielleicht noch am ehesten jenem Containment des Kommunismus, das nach dem Zweiten Weltkrieg jahrzehntelang von Washington ausging.

Santiago wurde zum “Mekka der Christen”, wie arabische Geschichtsschreiber die Stadt nannten. Für die Christenheit selbst war es das “Jerusalem des Westens”, als ihr das wahre Jerusalem im Osten gerade verloren ging, als unerhörter Magnet für alle Völker Europas. Der Selbstvergewisserung der abendländischen Christenheit hat kein Ziel mehr gedient. Es war die Zeit, in der man das Ausland in Deutschland noch allgemein “Elend” nannte. Spanien aber hieß wegen des Apostelgrabes “Jakobsland”, bis hinauf nach Schweden. Der Westen war Jakobs Kontinent. Im Osten dieses Westens warfen sich damals Polen und Deutsche gemeinsam den Sturmfluten der Mongolen entgegen. Es war ein Wunder.

So zieht sich der Weg nach Santiago wie ein Rückgrat durch das europäische Mittelalter, als Milchstraße, die die Menschen wie die Künste nährte. Der Weg ist freilich ein Wegenetz, ein Geflecht von Wegen, ein Adernetz, das sich über ganz Europa spannte, um dann hinter Pamplona in einer einzigen Arterie zu münden. Es ist ein Wegestrick in Spanien, ein Fächer in Frankreich und ein loses Netz im Rest des Westens.

Wie Seide hat sich die Blüte der romanischen Kultur um dieses Netz und diesen Strick herum gesponnen. Das europäische Hospitalwesen hat sich entlang eines ewig langen ungepflasterten Feldwegs entwickelt, dazu die Herbergs- und Hotelkultur, der Brücken- und Straßenbau, das Architekturwesen des europäischen Hauses. Eine große Furche gestaltete Europa um: eine Furche, die von unzähligen Füßen durch den Kontinent gegraben wurde. Es war ein mächtiger Strom mit vielen, vielen Nebenflüssen. Kein Weg hat die europäische Integration jemals intensiver vorangetrieben.

Die Wege nach Santiago erzählen deshalb bis heute auch immer noch davon, dass Europa in etwa da ist, wo Knochen von Aposteln und Heiligen in den Fundamenten ruhen – und Knechtschaften unter andere Religionen immer über kurz oder lang wieder abgeschüttelt wurden, damals der Islam, im letzten Jahrhundert das Joch des Kommunismus.

Dennoch ist Europa nun insgesamt wieder Missionsland geworden. Christlich wird den Kontinent kaum noch jemand nennen können. Glaubenslos ist er darüber natürlich dennoch nicht geworden. Der Mensch glaubt immer. Auch der Atheist muss ja daran glauben, dass es weder Gott noch Wahrheit gibt. Auch der Agnostiker muss daran glauben, dass wir nicht wissen können, was sich hinter unserem Horizont auftut. Und natürlich ist auch die Sehnsucht eine menschliche Konstante, wie das moderne Pilgerwesen zeigt, das mit dem alten kaum verglichen werden kann.

In allen Unwägbarkeiten aber scheint die Botschaft Santiagos wie ein Fels in der Geschichte zu ruhen. Die Stadt steht dafür, dass unglaubliche Kursänderungen möglich sind. Dass die Dinge und der Lauf der Dinge immer geändert werden können. “Kehr um, altes Europa! Finde wieder zu dir selbst!”, rief Johannes Paul II. am 9. November 1982 deshalb vom Westen Europas dem zerrissenen Kontinent auch noch zu: “Sei wieder du! Besinne dich auf deinen Ursprung!” Exakt sieben Jahre später brach im fernen Berlin am Abend des gleichen Tages krachend die Mauer zusammen.

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